2.1 Demokratisierung als Forschungsgegenstand

Revolutionen werden oft angetrieben von Parolen wie „Demokratie!“, „Freiheit!“, „Gerechtigkeit!“ oder „Frieden!“. Diese Forderungen geben nur grundsätzliche Zielrichtungen vor. Sie überschirmen in ihrer Uneindeutigkeit die unterschiedlichen Vorstellungen und Wünsche der Revolutionäre und ermöglichen so überhaupt erst die Entstehung einer Massenbewegung. Ist der Palast aber erst gestürmt, wurde erstmals frei gewählt, dann geht es um die konkrete Neuverteilung von Macht, die Regeln des politischen Handelns, um die Ordnungsprinzipien des neuen politischen Systems und das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern – um Verfassungs- und Verfahrensfragen also. Die alte Ordnung ist abgeschafft, die neue umstritten; wie geht es da weiter? In dieser Phase der Demokratisierung müssen die Revolutionäre, aber auch die Träger des alten Systems, die das Geschehen nicht mehr kontrollieren können, unter Beweis stellen, wie kompromissbereit sie sind.

Die Konflikthaftigkeit der nun zu vollziehenden verfassungspolitischen Weichenstellungen liegt darin begründet, dass die neuen politischen Leitregeln nie alle Interessen gleichermaßen optimal aufgreifen. Als Kompromiss von Freiheit und SicherheitFootnote 1 sollen politische Ordnungen dazu dienen, Machtinhaber zu zügeln und Rechte derjenigen, die nicht die Macht ausüben, gegenüber dem Zugriff „von oben“ abzusichern. Diese Funktion, verbindliche Spielregeln für alle festzuschreiben und damit einen gleichberechtigten Zugang zu Verfahren der zivilen Konfliktaustragung unabhängig von der Gunst aktueller Machtinhaber zu eröffnen, bedeutet aber eben auch, dass sie individuelle politische Handlungsspielräume nicht nur eröffnen, sondern auch beschränken.

Die Konflikthaftigkeit liegt außerdem darin begründet, dass neue Ordnungen – anders als die meisten anderen Rechtsnormen, etwa Gesetze über einzelne Politikfelder – aufgrund ihrer Funktion als Meta-Normen Regeln festschreiben, die später auch für die Regelsetzer selbst gelten.Footnote 2 Das Gewaltenteilungsprinzip wird in dieser Situation durchbrochen; die Verfassungsgeber sind nicht nur neutral von gesamtsystemischen Kalkülen geleitet, sondern sprechen auch in eigener Sache.

Bereits kurz nachdem sie erhebliche persönliche Risiken eingingen, um Freiheit einzufordern, müssen die Revolutionäre und ihre Unterstützer an diesem Punkt die Erfahrung machen, dass auch das neue System Handlungsrestriktionen verlangt, Kompromisse nötig und nicht alle Ideen umsetzbar sind, und dass die scheinbar gleichen Zielsetzungen des Systemwechsels doch unterschiedlich verstanden wurden. Nur wenn es gelingt, sich trotz dieser durchaus enttäuschenden Erfahrung auf ein allgemein anerkanntes neues Institutionenset zu verständigen, das für Regierende und Regierte gleichermaßen gilt, kann der Systemwechsel institutionell vollzogen werden. Ansonsten besteht die Gefahr einer erneuten Ideologisierung und Fundamentalisierung politischer Konflikte, die die Demokratisierung gefährden.Footnote 3 Nach den Gründungswahlen wird mit der Verfassungsgebung insofern die zentrale politisch-institutionelle Weichenstellung vorgenommen. Ist sie beendet, endet die Phase der Demokratisierung und im besten Falle beginnt die Phase der Konsolidierung des neuen Systems.

Mit diesen Zusammenhängen beschäftigte sich die Politikwissenschaft seit Beginn der „dritten Welle“ der Demokratisierung besonders intensiv. 58 Staaten schlugen in dieser von 1974 bis 1995 datierten Welle den Weg von der Autokratie in Richtung Demokratie ein.Footnote 4 Die Demokratisierungseuphorie erfasste auch die Wissenschaft; die Systemwechselforschung boomte. Als später in nicht wenigen Fällen Rückschritte hin zur Autokratie erfolgten, erwiesen sich die entstandenen Transformationstheorien als noch zu krude und prognoseschwach. Die Politikwissenschaft war dazu gezwungen, ihr theoretisches Instrumentarium zu schärfen und weitergehende empirische Beobachtungen zu tätigen. Unlängst stimulierte der „arabische Frühling“ nochmals die Demokratisierungsforschung.Footnote 5

Auch für Verfassungsgebungen wurden historische Wellen ausgemacht – angefangen von der Verabschiedung der ersten modernen Verfassungen in den USA, Polen und Frankreich zwischen 1780 und 1791, über die 1848er Revolutionen in Europa (Deutschland, Italien), die Verfassungsgebungen nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Zusammenbruch des französischen und britischen Kolonialismus etwa in Indien, Pakistan, Ghana und Nigeria, nach dem Ende der Autokratien in Portugal, Griechenland und Spanien bis hin zu den Verfassungsgebungen nach dem Ende des Sozialismus.Footnote 6 Wie zu erkennen ist, überlappen sich diese Wellen teilweise mit den Demokratisierungswellen, da Demokratisierung ja ebenfalls Institutionengebung beinhaltet, nur eben spezifisch die Institutionalisierung von Demokratie.

Aus den vorliegenden Studien zur Demokratisierung wird ersichtlich, dass es für einen erfolgreichen Systemwechsel nicht ausreicht, einfach eine funktionstüchtige gewaltenteilige Geschäftsordnung des neuen Regierungssystems zu installieren. Es müssen weitere Bestandteile der Demokratie verankert werden, darunter Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung, das aktive und passive Wahlrecht, das Recht der Eliten, um Wählerstimmen und Unterstützung zu konkurrieren, Informationsfreiheit, freie und faire Wahlen sowie Verfahren, die eine den Bürgern verpflichtete und von ihren Präferenzen abhängige Regierungspolitik gewährleisten.Footnote 7 Verfassungen in Demokratien sollen eine faire Repräsentation ermöglichen, Transparenz, Konsensbildung und Entscheidungseffizienz im politisch-administrativen System gewährleisten sowie Kontrolle staatlichen Handelns, Fehlerkorrektur und Haftung. Um dennoch auch Gestaltungsspielräume zu belassen, die Wahlen eine echte Entscheidungsfunktion sichern, sollten sie dem Gesetzgeber nicht zu stark bestimmte politische Inhalte vorschreiben. Und die neue Ordnung muss Akzeptanz finden, um die Gesellschaft zu binden, was eine gewisse Kongruenz von politischer Kultur und institutioneller Struktur voraussetzt.Footnote 8

In theoretischer Perspektive wurden folgende Funktionen moderner Staatsverfassungen zusammengefasst:

  • Bindung aller anderen Rechtsvorschriften,

  • Gewährleistung von Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsschutz des Individuums,

  • Festlegung (nur) der grundlegenden Organisationsstruktur des Staates,

  • Festschreibung von Leitgrundsätzen und Zielbestimmungen politischen Handelns unabhängig von konkreten Mehrheitsverhältnissen,

  • Widerspiegelung gesellschaftlicher Präferenzen.

Ziele dieser Funktionen sind, zumindest nach deutschem Rechtsverständnis:

  • Gewährleistung von Ordnung und Stabilisierung des Systems,

  • Begrenzung und Kontrolle von Macht,

  • Einheitsstiftung und Integration.Footnote 9

Die Erfüllung der aus systemischer Sicht notwendigen Verfassungsinhalte ist jedoch, wie bereits angedeutet wurde, keinesfalls selbstverständlich, denn die Handlungsspielräume der einzelnen Akteure werden durch die Konstitutionalisierung von Rechten, Kompetenzen und politischen Zielvorgaben, die in der Phase der Demokratisierung erfolgt, begrenzt. Zudem etabliert die neue Verfassung, wenn sie Grundrechte und Staatsziele enthält, eine Wertehierarchie, die allem anderen Recht vorgeht.Footnote 10 Es muss relevante Akteure geben, die der Auffassung sind, dass diese Selbstbeschränkungen durch Normvorgaben trotzdem sinnvoll und notwendig sind.

Aufgrund der besonderen Stellung und Funktionen von Verfassungen ist es günstig, wenn diese Kerndokumente politischer Systeme von einer möglichst breiten Akteurskoalition legitimiert werden. Dies steigert die Wahrscheinlichkeit, dass die neue Ordnung, obwohl sie die Handlungsoptionen aller Akteure nach einer Phase des wahrgenommenen „Alles ist möglich“ ultimativ wieder einschränkt, als oberstes nicht abgeleitetes Recht akzeptiert wird und sich konsolidiert.Footnote 11 Dennoch setzen Verfassungsgeber meist nicht nur auf freiwillige Akzeptanz der Normadressaten, sondern versuchen, die neue Ordnung auch über den Rechtsweg selbst zu schützen, indem sie erhöhte Hürden für Verfassungsänderungen festlegen.Footnote 12 Die Änderungshürden dienen dazu, den Zugriff durch einfache tagespolitische Mehrheiten zu unterbinden.

Dass die Verfassung trotz erhöhten Mehrheitserfordernisses grundsätzlich änderbar ist, soll die Anpassungsfähigkeit des neuen Systems gegenüber veränderten Rahmenbedingungen gewährleisten. Dahinter steht die Überlegung, dass Änderungen eines Ordnungssystems besser eine als vorteilhaft empfundene Stabilität im Großen gewähren als jeweils komplette Verfassungsneuschreibungen.Footnote 13 Gleichzeitig verschärft das plausible Interesse an einer erhöhten Änderungshürde für Verfassungsänderungen latent die bereits beschriebenen Grundsatzkonflikte, denn weil es schwer scheint, die einmal verabschiedete Verfassung später nochmals zu ändern, sind alle Akteure hochmotiviert, Einfluss auf die Formulierung bereits des Ursprungstextes zu nehmen, wenn eine solche Beeinflussung realistisch und zu vertretbaren Kosten möglich ist.

Eine erfolgreiche Demokratisierung besiegelt definitionsgemäß den Bruch mit dem alten, nichtdemokratischen System; Verfassungsgebung findet indes nie „aus dem Nichts“ statt.Footnote 14 Neue Ordnungen sind selten ganz neu und selten ein Akt der Wahl aus allen verfügbaren Alternativen. Dafür gibt es verschiedene Gründe.

Erstens können sich das Verfahren ihrer Einführung oder Inhalte aus Vorgängerverfassungen, Friedensabkommen, Vorgaben externer Akteure, der Zugehörigkeit zu einem föderalen System, wie es sie vielfach weltweit gibt, oder anderen Umständen ergeben.Footnote 15

Zweitens ergeben sich Beschränkungen der gestalterischen Kreativität aus der Zeitknappheit bei der Demokratisierung. Verfassungsgeber bauen daher oft auf früheren Ordnungen oder informellen Regeln auf, deren Angemessenheit sie nur selektiv hinterfragen. Sie orientieren sich an historischen Vorläufern, Nachbarn, politischen Partnern, Bekannten.Footnote 16

Drittens wirken kulturelle Faktoren trotz des Systemwechsels nach. Dass die Akteure in einem anderen System sozialisiert und von gesellschaftlichen Konflikten der Vergangenheit geprägt wurden, beeinflusst ihre Präferenzen, ihr Handeln und ihre Entscheidungen und nimmt manche Optionen aus dem Spektrum des Bewussten und Gewünschten aus.Footnote 17

Viertens können ehemalige Machtverhältnisse in Form einer asymmetrischen Verteilung von Informationen, Bildung, Ressourcen – und sei es vorübergehend – fortbestehen und Chancengleichheit behindern. In liberalen Demokratien konservieren Verfassungen beispielsweise die Verteilung von Eigentumsrechten, wie sie noch vor der Verfassungsgebung über Kämpfe erfolgte, die dann „sozial vergessen“ wurden.Footnote 18

Neue Ordnungen sind daher zumeist Rekombinationen aus bekannten und neuen Regeln. Institutionelle Arrangements aus der Zeit vor dem Systemwechsel werden vermischt mit veränderten, adaptierten und neuen Normen.Footnote 19 Beispielsweise fand der Grundrechtekatalog des Grundgesetzes zwar international wichtige Nachahmer, doch die Verfasser des Entwurfes einer neuen DDR-Verfassung von 1990 orientierten sich bei der Formulierung der Grundrechte, ähnlich wie die ostmitteleuropäischen Verfassungsgeber, eher an der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen. In anderen Bereichen, so bei den Staatsfinanzen, hielten sie sich hingegen eng ans Grundgesetz.Footnote 20 Der Parlamentarische Rat folgte beim Entwurf des Grundgesetzes den Leitideen der Weimarer Verfassung im Hinblick auf Republikanismus, Föderalismus, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte, vermied jedoch alle Regeln, die für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie verantwortlich gemacht wurden, darunter eine direkte Beteiligung der Bürger an der Politik. Hingegen scheuten sich die Verfassungsgeber in den meisten westdeutschen Ländern, die sich vor der Verabschiedung des Grundgesetzes neue Ordnungen gaben, nicht, den Bürgern die Möglichkeit zu geben, per Volksbegehren und Volksentscheid Politik mitzugestalten.Footnote 21

Grundlegende Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Systemwechseln lassen sich mit Makrotheorien erklären, die auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen abheben (Modernisierungstheorien), die Bedeutung von Staat und sozialen Klassen betonen (Strukturtheorien) oder sich auf Kultur und Werte kaprizieren (kulturalistische Theorien). Beispielsweise scheint es einen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Struktur, ihren Folgeeffekten auf die Gesellschaft (Existenz einer Mittelschicht, Bildungsverteilung u. ä.) und dem Demokratiestatus zu geben.Footnote 22 Kulturelle Prägungen und Praktiken können die Wirkungskraft demokratischer Institutionen unterlaufen.Footnote 23 Für die Erklärung des Ablaufes der Demokratisierung und der Wahl der neuen Ordnungen haben sich hingegen akteurszentrierte Ansätze bewährt. Sie führen Prozesse und Ergebnisse besonders auf die Konstellation der Akteure, ihre Interessen und Handlungen zurück.Footnote 24

Der wesentliche Grund für ihre besondere Erklärungskraft liegt darin, dass gewachsene Systemverhältnisse und -strukturen durch Revolutionen, die sich naturgemäß auf die Abschaffung eines Systems richten, zu großen Teilen in Frage gestellt und erschüttert werden und dadurch die Handlungsspielräume in der Phase der Demokratisierung, wie beschrieben, wesentlich größer sind als in einmal etablierten Systemen.Footnote 25 Daher stützt sich auch das vorliegende Buch, ohne den Einfluss anderer Faktoren in Abrede zu stellen, auf einen akteursorientierten Untersuchungsansatz. Weitere Einflussfaktoren werden in dieser Perspektive vornehmlich als Restriktionen, Anreize, Sinnquellen oder Ressourcen von Akteuren modelliert.Footnote 26

Damit ist bereits impliziert, dass Ostdeutschland trotz seines Beitritts zu einem bereits bestehenden, sanktionsbewehrten bundesstaatlichen Institutionensystem hier nur bedingt als Demokratisierungssonderfall betrachtet wird. Zwar minderte der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland das Risiko eines autokratischen Rückschritts und gab bestimmte Grundsatzentscheidungen vor, doch die Konflikte und die Konfliktlösung sind mit anderen Fällen durchaus potenziell vergleichbar.Footnote 27

2.2 Auswirkungen der parlamentarischen Kräfteverhältnisse auf die Ausgestaltung der neuen Ordnung

Durch die sozialwissenschaftliche Literatur hindurch zieht sich der Gedanke, dass Verfassungen Spiegelbilder der Gesellschaft in bestimmten historischen Epochen sind. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Kultur, Sozialisation und externe Faktoren von Demokratisierung bilden sich jedoch nicht von selbst ab. Sie strukturieren Handlungskorridore, indem sie bestimmte Wahlentscheidungen von Akteuren wahrscheinlicher machen als andere; aber Wahlmöglichkeiten bleiben. Ihre möglichen Effekte werden demnach gefiltert durch das Handeln dieser Akteure.Footnote 28 Auch die Grundordnung politischer Systeme ist nach Systemwechseln nicht durch irgendwelche allgemeinen Systemmerkmale vorgegeben, sondern resultiert in letzter Instanz aus politischen Prozessen und Entscheidungen.Footnote 29 Sie sind der letzte Filter, den die anderen Einflüsse passieren müssen, um einen institutionellen Effekt zu erzielen.

Im Vordergrund der Literatur über Demokratisierung und Verfassungspolitik steht zumeist das Monitoring dieser institutionellen Effekte, die als institutionelle Fort- oder Rückschritte interpretiert werden. Die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse von Akteuren innerhalb gegebener Handlungsspielräume bleiben oft ausgeblendet.Footnote 30 Besonders mangelt es noch an systematisch-vergleichenden Untersuchungen, die die Aushandlungen und ihre möglichen Effekte auf die Ausgestaltung und Akzeptanz von Demokratie berücksichtigen. Entsprechend allgemein bleibt die Aussage, dass Verfassungsgebung in den jeweils spezifischen Kontext eingebettet erfolgt.Footnote 31

Die vorliegende Studie will einen Beitrag dazu leisten, das Verständnis für die Ursachen von Demokratisierungsabläufen und ihren Effekten zu vertiefen. Sie betrachtet die dafür zentralen Verfassungsgebungen als Austragung von politischen Konflikten um die Verteilung von Macht und von Konflikten um Werte und beantwortet drei Leitfragen:

  • Beeinflussten die Kräfteverhältnisse, woran sich Konflikte entzündeten?

  • Beeinflussten die Kräfteverhältnisse die Wahl des Verfassungsgebungsverfahrens?

  • Beeinflussten die Kräfteverhältnisse, ob und wie Konflikte gelöst wurden?

Die Antworten auf diese Fragen strukturieren das Verständnis von Gemeinsamkeiten und – für das Untersuchungsdesign wesentlicher – von Unterschieden der Fälle. Sie leisten aber auch unabhängig davon einen Beitrag zur Forschung zur Verfassungspolitik, zu Verhandlungen und zu politischen Institutionen, da die formulierten Fragen, wie im Folgenden gezeigt wird, auf Basis der bisherigen Forschung noch nicht eindeutig zu beantworten sind.

Nachfolgend werden die theoretischen Vorannahmen, bekannten empirischen Befunde, die Erklärungslücken und Erwartungen des Forschungsprojektes in Bezug auf die drei Leitfragen skizziert, um das danach erläuterte Untersuchungsdesign zu plausibilisieren.

2.2.1 Auswirkungen auf die Struktur inhaltlicher Konflikte

Die für die Phase der Demokratisierung besonders relevanten Verfassungsgebungen lassen sich prozesshaft als Austragung von Konflikten um die Verteilung von Macht, d. h. Rechten, Ressourcen und Respekt, verstehen.Footnote 32 Sie sind „Wahlentscheidungen unter Zwang“Footnote 33: Einerseits besteht die Möglichkeit, tabula rasa zu machen und ein neues System zu kreieren, andererseits ist Voraussetzung dafür, dass sich ein relevanter Teil der Akteure auf das Design des künftigen politischen Systems einigt. Das schließt einige Wahlmöglichkeiten bereits aus und erzeugt gewisse Kompromisszwänge. Die Freiheit ist demnach nicht ganz so groß, wie sie auf den ersten Blick erscheint.

Nur bei Streitfällen lässt sich nachweisen, ob und wie stark Akteure bereit sind, aufeinander zuzugehen und so die Breite gesellschaftlicher Präferenzen im Basistext des Gemeinwesens zu spiegeln. Überlappen sich ihre Vorstellungen von vornherein, so ist ein Entgegenkommen gar nicht nötig. Streitfälle sind daher für die Untersuchung möglicher Auswirkungen der politischen Kräfteverhältnisse auf den Ablauf und die Ergebnisse der Demokratisierung relevanter als Beratungen zu anderen Themen, die im vorliegenden Buch ausgeblendet bleiben, weil sie eben nicht oder wenig umstritten waren. Eine wichtige Frage für die Forschung, die in dieser Studie exemplarisch für die Verfassungspolitik beantwortet werden soll, lautet: Wer und was strukturierte diese Konflikte?

Rationalistische Ansätze gehen davon aus, dass Akteure sich nicht aus Sorge um das Gemeinwohl für Verfassungsfragen engagieren, auch wenn sie öffentlich „gemeinwohlorientierte“ Argumente formulieren,Footnote 34 sondern von egoistischen Interessen geleitet sind. Nur weil sie eine Übervorteilung durch andere und eine widrige, unkontrollierbare Umwelt fürchten, sind sie überhaupt an Verfassungsregeln interessiert. Schließlich setzen diese auf lange Sicht Anreize für bestimmtes Verhalten und „bestrafen“ anderes.Footnote 35

In Demokratien sind die zentralen politischen Akteure die Parteien, denn sie sind institutionalisierte Artikulationsorgane unterschiedlicher materieller Interessen und Wertorientierungen in einer Gesellschaft, treten in Wahlen gegeneinander an, ihre Kandidaten ziehen im Falle einer Mandatserlangung in die Parlamente ein und vertreten dort die Interessen ihrer Wähler.Footnote 36 Die in den Parlamenten agierenden Fraktionen oder parlamentarischen Gruppen sind die im politischen Entscheidungsprozess relevanten organisatorischen Einheiten der Parteien.

Haben die Parteien bei der Verfassungsgebung strukturierend im Sinne von Parteienfunktionen in (westlichen) Demokratien gewirkt, so müssten das Streben nach Ämtern, das Streben nach Wählerstimmenmaximierung und/oder das Streben nach Umsetzung bestimmter politischer Inhalte handlungsleitend gewesen sein.Footnote 37 Zudem ließe sich in diesem Falle eine Links-Rechts-Dimension des Parteienwettbewerbs erkennen. Diese Links-Rechts-Dimension wurde in quantitativ-empirischen Analysen von Parteien in Demokratien als übergeordneter Deutungsrahmen der Selbstverortung von Menschen innerhalb der Komplexität von Einzelkonflikten herausgearbeitet.Footnote 38

Gemäß dem Stand der vergleichenden Gesetzgebungsforschung beeinflussen drei Faktoren, ob es bei Konflikten zu einer Einigung kommt: die Anzahl der Vetospieler (d. h. der Akteure, an deren fehlender Zustimmung ein Gesetz scheitern kann), der Abstand ihrer Präferenzen voneinander sowie ihre Kohäsion, d. h. ihre innere Geschlossenheit. Als Faustregel gilt: Je mehr parteipolitische oder institutionelle Vetospieler, je größer die Distanz der von ihnen angestrebten policy-Inhalte und je höher ihre innere Geschlossenheit, desto schwieriger ist es, zu einer Einigung zu kommen.Footnote 39 Aber auch die Bedeutung, die Akteure einem Thema beimessen, scheint wichtig zu sein. Aus der jeweiligen PräferenzhierarchieFootnote 40 ergeben sich die essentials für die Verhandlungen. Sie beeinflusst das Verhalten bei Güterabwägungen und die Kompromissbereitschaft. Akteure machen vermutlich größere Zugeständnisse bei Themen, die sie als eher unbedeutend wahrnehmen, können sich jedoch bei als wichtig erachteten Themen selbst kleineren Zugeständnissen verweigern.Footnote 41 Dies impliziert, dass die genannten Faktoren Anzahl der Vetospieler, Distanz der Präferenzen, Kohäsion und Präferenzhierarchie auch geeignet sind, das Auftreten von Konflikten überhaupt zu erklären.

Wesentlich für die Formulierung und das Ranking von Präferenzen scheinen die individuellen Prognosen über die zukünftige Machtverteilung zu sein.Footnote 42 Wer nicht weiß, ob er selbst künftig die Regierung stellt, wird nicht daran interessiert sein, dieser allzu umfassende Kompetenzen zuzuschreiben oder die politischen Minderheiten zu entmündigen. Wer sich aber sicher ist, hat andere institutionelle Wunschvorstellungen.Footnote 43 Knappe Mehrheiten können sich durch die Opposition bedroht fühlen und daher daran interessiert sein, deren Einflussmöglichkeiten zu beschränken, um die eigenen Handlungsspielräume und künftigen Machtchancen zu erweitern.Footnote 44 Umgekehrt wird, wer sich künftig in der Opposition wähnt, ein Interesse daran haben, parlamentarischen Minderheiten Rechte an der Mitwirkung und Mitentscheidung im politischen Prozess sowie Kontrollrechte verfassungsrechtlich zu sichern. So plausibel diese Erwägungen sind, so zweifelhaft ist es, ob sie tatsächlich in der Phase der Demokratisierung angestellt wurden. Theoretisch liegen in der Phase der Verfassungsgebung die künftigen Machtverhältnisse noch hinter einem Schleier des Nichtwissens verborgen, d. h. sie sind schwer zu kalkulieren. Dies fördert ceteris paribus die Bereitschaft zu Einigungen.Footnote 45

Überhaupt ist es nicht sicher, ob die Konflikte während der Demokratisierung in Ostdeutschland durch die genannten Faktoren strukturiert waren. In der Literatur wurde argumentiert, dass nicht nur Unterschiede politischer Zielsetzungen zu Konflikten führen. Akteure können selbst bei ähnlichen Zielen Vorschläge ablehnen, weil sie den Weg dorthin nicht für überzeugend halten.Footnote 46 Darüber hinaus können Oppositionsfraktionen ein Interesse daran haben, sich als Kritikerinnen der Regierung zu profilieren und die Umsetzung von deren Politikprogramm scheitern zu lassen. Hier kommt es zu einer „strategischen Uneinigkeit“.Footnote 47 Entsprechendes könnte auch bei den Beratungen über die Ausgestaltung der neuen Ordnung geschehen. Ob eine Zustimmung sich lohnt, wird zudem beeinflusst durch die jeweiligen VerhandlungsressourcenFootnote 48 und die (institutionellen) Rahmenbedingungen. Parlamentarische Demokratien und Föderalismus scheinen auf lange Sicht Kooperationen zu fördern.Footnote 49 Dieser institutionelle Effekt kann jedoch bei der Demokratisierung in Ostdeutschland noch nicht gewirkt haben, weil die genannten Institutionen erst 1990 eingeführt wurden.

Schließlich ist auch nicht zwangsläufig zu erwarten, dass die Parteien die Demokratisierungskonflikte in der beschriebenen Form strukturierten. Erstens wurde bei einer grundsätzlichen Plausibilität des Links-Rechts-Schemas für die Wahlprogramme etwa bundesdeutscher Parteien keine klare Konsistenz der Positionen über die Politikfelder hinweg festgestellt.Footnote 50 Zweitens lässt sich aus den Beobachtungen osteuropäischer Systemwechsel Widersprüchliches ableiten: Einerseits nahm die Bedeutung von Parteien nach dem Bruch mit dem alten System zu, weil der zunächst prägendere Konflikt zwischen den beiden Lagern der alten Regimeträger und der ReformträgerFootnote 51 aufbrach. Demnach hatten sie durchaus Konfliktstrukturierungspotenzial. Andererseits verfolgten die Parteien, die aus den Sammelbündnissen der Demokratisierer hervorgingen, teils vage Ziele und hatten einen geringen Organisationsgrad.Footnote 52 Diese schwächere innere Geschlossenheit der Parteien bzw. Fraktionen schwächt dann aber das Konfliktpotenzial, weil der jeweilige Akzeptanzraum größer ist.

Zu ergänzen ist, dass Akteure unabhängig von parteipolitischen Erwägungen von institutionellen Eigeninteressen geleitet sein können, was sich im erwähnten Begriff des institutionellen Vetospielers spiegelt. So wurde die Vermutung aufgestellt, dass Parlamente, die als verfassungsgebende Versammlungen fungieren, bestrebt sind, sich selbst dauerhaft eine starke Position gegenüber der Exekutive und im Verfassungsänderungsverfahren zuzuschreiben.Footnote 53 Mitglieder einer Regierung könnten hingegen, unterstützt durch Vorlagen aus der Ministerialbürokratie, daran interessiert sein, Minderheitenrechte zu beschränken, weil sie kein Interesse an höheren Kosten infolge von mehr potenziellen Vetos, mehr öffentlicher Kritik, Anfragen etc. haben und sie im Augenblick der Verfassungsgebung die Fähigkeit dazu haben, solche Restriktionen durchzusetzen.Footnote 54 Voraussetzung ist, dass sie annehmen, auch künftig in der Regierung (bzw. Ministerialbürokratie) zu sein oder zumindest nicht zur schlechter gestellten Gruppe zu zählen. Da institutionelle Interessen quer zu den parteipolitischen Präferenzen liegen können, kann nur empirisch geprüft werden, inwieweit die ceteris-paribus-Hypothesen in den untersuchten Fällen zutrafen.

Im Sinne des rational-choice-Institutionalismus sollte der bereits bestehende institutionelle Rahmen des Bund-Länder-Verhältnisses strukturierend gewirkt haben, da es eine grundsätzliche Zustimmung zum Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland gab. Landesverfassungspolitische Konflikte sollten sich nur auf Materien beziehen, die auch auf der Landesebene politisch geregelt werden. Zumindest sollten solche Materien eine größere Beachtung genießen als Konflikte zu Materien, die gar nicht auf dieser Ebene geregelt werden. Für die Partei- und Wahlprogramme der Landesparteien in Deutschland wurde entsprechend eine unterschiedliche Bezugnahme auf Themenfelder festgestellt. Sie variiert zwischen den Parteien, doch wurden parteiübergreifend die Bereiche Arbeit/Soziales, Kultus und Wirtschaft/Verkehr am stärksten auf Landesebene thematisiert. Darauf folgten mit leichtem Abstand Inneres und Umwelt/Landesplanung. Die anderen Politikfelder (Bau, Bund/Europa, Landwirtschaft, Finanzen, Justiz) spielten eine weit geringere Rolle.Footnote 55

Auch hierzu lassen sich jedoch Zweifel formulieren. Anders als rationalistische Ansätze betonen kulturalistische Ansätze die Bedeutung von Werten für die Herausbildung verfassungspolitischer Zielvorstellungen. Die Verfassungsgemeinschaft muss sich bei der Aushandlung der neuen Ordnung über gemeinsame Werte verständigen, die künftig leitend sein sollen, damit moderne Verfassungen ihren Charakter als „rechtliche Lebensordnungen und Wertgrundlagen des politischen Gemeinwesens“ entfalten können. Eine Verfassung ist in diesem Verständnis nicht mehr nur ein Herrschaftsvertrag, der Organisation, Ausrichtung und Begrenzung der politischen Herrschaftsgewalt regelt, sondern auch ein Gesellschaftsvertrag, d. h. „materiales Grundgerüst des sozialen Zusammenlebens überhaupt“. Sie legt Normen fest, die über den Bereich des Politischen hinausgehen und in alle Sach- und Lebensbereiche hineinwirken.Footnote 56

Demnach sind für Verfassungsgebungen auch Wertekonflikte zu erwarten, und zwar durchaus unabhängig davon, ob ein Gegenstand auf der betreffenden politischen Ebene überhaupt geregelt werden kann. Wenn also beispielsweise die Grundrechte und Staatsprinzipien der Bundesrepublik Deutschland bereits im Grundgesetz festgeschrieben sind, so muss dies nicht bedeuten, dass Landesakteure kein Interesse daran haben, sich zu diesen Prinzipien auch auf Landesebene im Verfassungstext zu äußern. Gerade die bereits vorhandene Festlegung könnte Konflikte in Ostdeutschland verursacht haben, sofern die dortigen verfassungspolitischen Ideale und die politische Kultur in einigen Punkten als abweichend wahrgenommen wurden.Footnote 57 Solche Abweichungsperzeptionen könnten im Zusammenhang mit den spezifischen ostdeutschen Einstellungen zu sozialer Gerechtigkeit, zur Ausgestaltung der Demokratie, zur Erwerbstätigkeit der Frau und zu Religion verursacht worden sein.Footnote 58 Die Mehrebenenstruktur des föderalen Systems der Bundesrepublik bot ja prinzipiell die Voraussetzung dafür, solche wahrgenommenen Wertekonflikte (auch) auf subnationaler Ebene auszutragen.

Der kulturalistische Ansatz weist Schnittmengen mit rationalistischen Ansätzen auf, wenn man berücksichtigt, dass es durchaus besonders die wertgeladenen Materien sind, die im Wettbewerb zwischen den Parteien die wichtigsten Unterschiede ausmachen und damit letztlich dazu dienen, den Parteien ihr jeweiliges spezifisches inhaltliches Profil zu geben. Zentral ist dabei die Frage, ob eher das Individuum, liberale Werte und wenig Staat in den Mittelpunkt gerückt werden oder eher die Gesellschaft und soziale Gerechtigkeit auch mithilfe von mehr Staat.Footnote 59 Dabei ist die Grenze zwischen Werte- und Verteilungskonflikten schwer zu ziehen. Auch scheinbar technische Entscheidungen, beispielsweise für ein Mehrheits- oder Verhältniswahlsystem, hängen nicht nur von der Kalkulation eigener Einflussmöglichkeiten unter dem einen oder anderen System ab, sondern auch mit Vorstellungen von Gerechtigkeit und der Hierarchie von Repräsentation und Effizienz als institutionenpolitischen Leitmotiven.

Eine weitere Überlappung von Konfliktprognosen ergibt sich, wenn man den Föderalismus als spezifische Rahmenbedingung der Verfassungsgebung in den neuen Ländern berücksichtigt. In diesem Falle muss das Beharren auf der Festschreibung bestimmter Rechte und Staatsziele, die vorrangig auf der Bundesebene geregelt werden, nicht (ausschließlich) auf bestimmten normativen Grundüberzeugungen basieren. Vielmehr kann es der Strategie entspringen, Landesregierungen verfassungsrechtlich zur Hinwirkung auf bestimmte Änderungen auch auf Bundesebene zu zwingen oder auf Bundesebene auf die Notwendigkeit entsprechender Änderungen hinzuweisen. Diese Strategie ist besonders bei den Parteien plausibel, die auf Bundesebene nicht die parlamentarische Mehrheit stellen.

Die Forschung zu Systemwechseln zeigt außerdem, dass in Gesellschaften während und nach der Transformation zusätzlich ein Konflikt zwischen den Trägern des alten Systems und den neuen Kräften maßgeblich für die politischen Prozesse sein kann. Auch dieser Konflikt hat eine Verteilungs- und eine Wertedimension, d. h. eine rationalistische und eine normative Komponente. Es geht darum, ob die Träger und Opfer des alten Systems Strafen oder Entschädigungen erhalten (Verteilungsdimension) und die ideologische Einstellung gegenüber dem alten System unterscheidet sich deutlich (Wertedimension).Footnote 60 Die empirischen Befunde zur Verfassungspolitik in Ostmitteleuropa deuten darauf hin, dass Konflikte über Regelungen mit Bezug zum alten System dann besonders intensiv ausgetragen werden, wenn die Träger des alten Systems einen relativ hohen Anteil an der Gesellschaft bzw. den politischen Repräsentanten bilden, jedoch nicht nötig für die Zustimmung zur Verfassung sind, d. h. aus dem Verfassungskompromiss ausgeschlossen werden können. Diese Konstellation traf auf alle in diesem Buch untersuchten Fälle zu. Sind hingegen die alten Systemträger sehr stark oder sehr schwach, so sind solche Themen offenbar weniger konfliktintensiv bzw. werden weniger explizit adressiert.

Zwar wurde empirisch beobachtet, dass bereits im Zuge der Verhandlungen über die Ausgestaltung der neuen Verfassung die Scheidelinie zwischen Gegnern und Befürwortern des Systemwechsels tendenziell aufbricht. Einigkeit und Interesse der Systemwechselinitiatoren hinsichtlich Prinzipien- oder Richtungsentscheidungen lassen häufig rasch nach, sobald das alte Regime als wichtigstes Handlungsziel überwunden ist.Footnote 61 Der Systemkonflikt kann möglicherweise aufgrund unterschiedlicher Einzelbiografien auch innerhalb der Parteien spürbar gewesen sein, so dass die Parteipositionen zur Vergangenheit möglicherweise wenig konsistent waren. Insofern ist unklar, inwieweit der Systemkonflikt für die Demokratisierungsphase weiter entscheidungsprägend war. In Deutschland ist aber zumindest auf der Bundesebene bis heute eine spezifische Konfliktsituation zwischen den etablierten Parteien und der Partei Die Linke festzustellen.Footnote 62

Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen und empirischen Beobachtungen ist – bei allen Vorbehalten – eine nach Themen variierende Konfliktintensität bei Präferenzunterschieden zu erwarten. Ein und dieselbe Distanz von Zielvorstellungen kann in dem einen Politikbereich erhebliche Konflikte auslösen, in einer anderen Materie aber dennoch eine Einigung nicht verhindern (Tab. 2.1). Gemäß dem rationalistischen Ansatz sollten Präferenzabweichungen ceteris paribus bei Europathemen weniger in manifesten verfassungspolitischen Konflikten gemündet sein als Präferenzabweichungen in Bezug auf Grundrechte/Inneres und diese sollten wiederum seltener in manifesten Konflikten gemündet sein als Präferenzdisparitäten zu Wirtschaft und Sozialem. Hintergrund ist die Abstufung der Regelungskompetenz zwischen Bund und Ländern und der Bedeutung für die Programmgestaltung der Parteien. Die Konflikthaftigkeit staatsorganisatorischer Regelungen sollte mit den politischen Kräfteverhältnissen bzw. ihrer Wahrnehmung korrelieren.

Tab. 2.1 Erwartete verfassungspolitische Konflikte

2.2.2 Auswirkungen auf das Verfahren der Verfassungsgebung

Staatstheoretische Überlegungen zu modernen Demokratien gehen von der Argumentationsfigur gleicher Zugangsrechte aller zur Verfassungsgebung aus. Im constitutional moment verleihen sich alle Gesellschaftsmitglieder selbst eine Verfassung bzw. gehen einen GesellschaftsvertragFootnote 63 miteinander ein. „Alle normativen, nicht nur die kontraktualistischen Theorien simulieren mindestens im Gedankenexperiment die letztlich ausschlaggebende und legitimationsgenerierende Zustimmung der Bürger zu der jeweiligen demokratischen Ordnung.“Footnote 64

Wer genau die Verfassung aushandelt und über ihre Annahme entscheidet, ist jedoch nicht theoretisch vorgegeben, sondern Ergebnis von Vereinbarungen zwischen Akteuren. Irgendjemand muss darüber entscheiden, wer überhaupt die Verfassung erarbeitet, von wem und wie sie beschlossen wird und wer sie in Kraft setzt. Zudem ist nicht klar, ob sich beauftragte Akteure tatsächlich an die Vorgaben halten oder inwieweit sie sie ergänzen oder umdeuten.Footnote 65 Gerade in Systemwechselphasen könnten Akteure ein Interesse daran haben, von den Vorgaben abzuweichen, um eigene politische Vorstellungen durchzusetzen.

Diese einfachen Überlegungen haben weitreichende politische Implikationen: Verfahrenspolitik kann relevant für Demokratisierung und die Inhalte neuer Ordnungen sein. Dennoch wird sie wissenschaftlich häufig übersehen. Ob es Muster der Zulassung zur Aushandlung von Verfassungsgebungen, der Entscheidung über die für die Annahme der Verfassung notwendigen Mehrheiten oder einen Volksentscheid gibt und was dies jeweils bewirkt, ist bislang nur teilweise erschlossen.Footnote 66 Damit ist unklar, ob die Verfahren einen eigenständigen Effekt auf die Ergebnisse der Demokratisierung entfalten oder ob sie selbst abhängig sind von den politischen Mehrheitsverhältnissen.

Viele Darstellungen in der Literatur thematisieren einen möglichen Zusammenhang zwischen Mehrheitsverhältnissen und Verfahrensdesign nicht, sondern konzentrieren sich auf die Diskussion von Vor- und Nachteilen bestimmter Verfahren. Ein Teil der Forschung begreift die vollständige Partizipation der Bürgerinnen und Bürger dabei von vornherein als idealtypisch und eine komplette Umsetzung als Überforderung von Bürgern und Organisation.Footnote 67 Ein anderer Teil leitet aus dem Postulat der Selbstbindung des Volkes die Forderung nach möglichst breiter Partizipation ab, um das Versprechen der Demokratie auch tatsächlich zu halten. Ein konsensorientiertes Verfahren mit breiter Beteiligung, intensiver Debatte und Trennung vom normalen politischen Prozess wurde empfohlen, um zu verhindern, dass sich Partikularinteressen durchsetzen und die politischen Eliten allein unter sich über die Machtordnung entscheiden.Footnote 68 Diese Beteiligung soll sich also nicht nur auf die endgültige Annahme oder Ablehnung der Verfassung beziehen, sondern bereits auf die Aushandlung.

Eine Zwischenvariante zwischen einer elitengesteuerten, dem normalen Politikbetrieb nahen Aushandlung und der Selbstverfassung durch alle oder viele fand beispielsweise mit dem Europäischen Konvent zur Aushandlung einer europäischen Verfassung statt. In Anbetracht der eher seltenen praktischen Nutzung solcher Sonderverfahren ist über ihre systematische Wirkung relativ wenig bekannt. Sie können den besonderen Charakter der Verfassungsgebung unterstreichen und dazu dienen, sie aus den politischen Alltagskonflikten herauszuhalten, jedoch auch Konkurrenz zu den normalen Gesetzgebungsorganen schaffen.Footnote 69

Doch wie kommen Entscheidungen über das Verfahrensdesign zustande? Die bereits skizzierten Annahmen des Rationalismus lassen es fraglich erscheinen, dass Akteure bereit sind, freiwillig mehr Kompromisse einzugehen, als für die Verabschiedung der Verfassung notwendig ist. Demnach sollten sie nur dann partizipative Verfahren der Verfassungsgebung wählen, wenn die Machtverhältnisse ohnehin fragmentiert sind oder dann, wenn sie so eindeutig sind, dass die Beteiligung auch nicht schadet. In anderen Fällen sollte die stärkste Fraktion darauf bedacht sein, sich möglichst eine starke institutionelle Verhandlungsmacht, Handlungsspielraum also, zu bewahren.

Empirisch spricht einiges für die rationalistischen Annahmen. Die meisten Studien zur Verfassungspolitik beobachteten elitengesteuerte Prozesse. In der Praxis neuerer Verfassungsgebungen oblag die Aushandlung des Entwurfes bei einer großen Bandbreite der Details weit überwiegend der „normalen Legislative“ und keinen Sondergremien. Dabei handelt es sich nach der breiten Mobilisierung für eine neue Verfassung meist um Aushandlungen in einem Ausschuss oder sehr kleinen Gremium mit juristischen Beratern unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Danach erfolgt zumeist eine Einbeziehung von Interessengruppen und Bevölkerung über Konsultationen oder die Aufforderung zum Einreichen von Vorschlägen. Dann folgen typischerweise die Veröffentlichung und letzte Korrekturen sowie die Annahme im Parlament oder der Verfassungsversammlung. Hierfür halten die Verfassungsgeber häufig qualifizierte Mehrheiten für angemessen.Footnote 70 War dies auch in Ostdeutschland und Berlin so, dann handelte es sich um typische Verfassungsgebungsprozesse.

Selten, aber seit Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich zunehmend, werden am Ende von verfassungsgebenden Prozessen Referenden über die Verfassung als Ganzes abgehalten, regional am häufigsten in Lateinamerika.Footnote 71 Die einzige Möglichkeit der Beeinflussung besteht hier in der kompletten Ablehnung oder Annahme. Ob es einen systematischen Zusammenhang zwischen den politischen Mehrheitsverhältnissen und dem Verfahren der Verhandlungen innerhalb der Eliten oder die Beteiligung der Bevölkerung gibt, ist jedoch noch unklar. In Ostmitteleuropa wurden verfassungsgebende Referenden und Sondergremien nur dort genutzt, wo der Anteil der Träger des alten Systems an den Verfassungsgebern hoch war und ein besonderer Bedarf bestand, die Verfassung legitimieren zu lassen und symbolisch den Bruch mit dem alten System zu untermauern.Footnote 72

Ebenso ungeklärt ist auch, ob die getroffenen Verfahrensentscheidungen in der Praxis unabhängig von (variierenden) politischen Kräfteverhältnissen immer denselben Effekt auf die Beratungsverläufe und -ergebnisse hervorrufen. Wenn Akteure tatsächlich die ihnen institutionell zur Verfügung stehenden Einflussmöglichkeiten (an deren Optimierung sie parallel arbeiten) maximal ausnutzen, dann sind es die parlamentarischen Kräftekonstellationen, die den entscheidenden strukturierenden Effekt auf die beschlossenen politischen Inhalte erzeugen. Durchsetzungsstark scheinen v. a. diejenigen Akteure, die in der letzten Wahl die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten, denn die Mandate sind legislative Ressourcen. Je mehr verfahrensrechtlich festgeschriebene Vetomacht Akteure jenseits des Regierungslagers haben, desto schwächer theoretisch das Regierungslager.

Einige weitere Befunde trüben jedoch das Bild vom Umgang mit Verfahrensregelungen und lassen es sinnvoll erscheinen, die Zusammenhänge genauer empirisch zu prüfen. Drei sollen hier genannt werden.

Erstens haben gemäß der vergleichenden Parlamentsforschung Regierungen, wie beschrieben, organisatorische Eigeninteressen. Als Agendasetzer verfügen sie generell (und unabhängig von den Machtkonstellationen) über bessere Möglichkeiten der Einflussnahme als die später Beteiligten, da sie bei der Formulierung der Aushandlungsgrundlagen relativ frei ihre Wünsche und Ziele vertreten und durch die Festlegung des Verfahrens einschließlich der Zeitplanung effektiv vorbestimmen,Footnote 73 was überhaupt wann zur Entscheidung steht. Sie können unabhängig von Verfahrensregelungen, die für bestimmte Vorhaben gelten, weitere Instrumente, bspw. die Verknüpfung von Abstimmungen mit der Vertrauensfrage, systematisch besser nutzen. Sie können Anträge anderer blockieren oder Versuche einer Verzögerung der Entscheidung vonseiten der Opposition unterbinden.Footnote 74 Sie verfügen häufig über einen erheblichen Vorsprung an Organisationsressourcen, Expertise und Information. Auch das Bestreben der Regierungsfraktionen, nicht öffentlich als Verliererin dazustehen, fördert tendenziell die Zustimmung zu Vorschlägen aus der Exekutive ungeachtet möglicher Einwände in der Sache.Footnote 75 Sollte dies auch auf die Verfassungsgebungen zutreffen, so würde dies die faktische Bedeutung spezifischer verfassungspolitischer Verfahrensrechte zugunsten der Regierung reduzieren. Sie hat möglicherweise gar keine institutionelle Vetomacht, ist aber de facto sehr wichtig.

Zweitens zeigen Prozessanalysen zu Verhandlungen, dass ungeachtet der grundsätzlichen Gültigkeit des Rationalitätsparadigmas bei wiederholten Interaktionen und einem tit-for-tat generell die Kooperationsbereitschaft steigt.Footnote 76 Auch die Verkleinerung der Zahl der Verhandlungsbeteiligten und eine stärkere Rollenüberlappung in Form etwa der Beratung durch Fachpolitiker können eine Einigung fördern, die auch bei einer anschließenden erneuten Verschärfung des Verhandlungsklimas nicht mehr komplett, sondern in (wenngleich durchaus wichtigen) Einzelpunkten verändert werden. Die Sequenz der Verhandlungsphasen kann demnach einen eigenständigen Effekt auf die tatsächliche Praxis der Beratungen jenseits institutioneller Verfahrensvorgaben und auch auf das Ergebnis entfalten.Footnote 77

Drittens nimmt die destruktive Wirkung eines Vetos im Zeitverlauf zu, weshalb Macht in Verhandlungen auch aus der Fähigkeit resultiert, „glaubwürdig mit dem Abbruch zu drohen“.Footnote 78 Weil viel Arbeit in das Verfahren investiert wurde, die Kosten einer Wiederaufnahme der Verhandlungen nach einem möglichen Scheitern besonders hoch sind und ein öffentliches Scheitern dem Ansehen der stärksten Partei schaden würde, sind die stärksten Akteure, so einige Beobachtungen, am Ende von Verhandlungsprozessen stärker zu Zugeständnissen bereit. Um eine Zustimmung zu erzielen, sollten sie bei der Aushandlung des Entwurfes zumindest solche Einwände ausräumen, von denen das Risiko eines Scheiterns der Verfassungsgebung ausgehen könnte. Dies sollte besonders dann gelten, wenn die späteren Vetospieler bereits vor dem Zeitpunkt ihrer formalen Beteiligung mit Verweis auf ihre Sanktionsmacht ihre Interessen aktiv vertreten.Footnote 79

Inwieweit dies die zuvor geschilderten Zusammenhänge komplett verändert oder ob sich daraus nur Nuancen der Abweichung ergeben, ist bislang noch nicht erschöpfend empirisch untersucht worden. Die Prüfung dieser Zusammenhänge für die Verfassungsgebung in den neuen Ländern und Berlin kann einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zu füllen, indem sie einen möglichen Effekt der politischen Kräfteverhältnisse auf die Verfahrenspolitik prüft. Die Beobachtung des Umganges mit den getroffenen Verfahrensregelungen ergänzt dies.

Geringe Beteiligungsrechte und eine Praxis nur beschränkter Einbeziehung politischer und gesellschaftlicher Akteure in die Beratungen widersprächen im Fall der ostdeutschen Verfassungspolitik der expliziten Forderung der Massendemonstrationen von 1989/90 nach Teilhabe des Volkes an Schlüsselentscheidungen der Politik, wenn nicht die entscheidenden Eliten gut begründen könnten, dass sie die Interessen der Gesellschaft adäquat repräsentieren. Eine solche Begründung könnte sein, dass die Möglichkeit einer direkten Beteiligung aller nicht per se Chancengleichheit optimiert. Strukturell beeinträchtigen oft die Unübersichtlichkeit der nachrevolutionären Veränderungsprozesse und die Vordringlichkeit anderer Interessen, etwa des Interesses an der materiellen Existenzsicherung, die Beteiligung der breiten Bevölkerung und die Möglichkeit des gründlichen Abwägens. Auch die Vorkenntnisse in der Sache sind unterschiedlich ausgeprägt. Daher kann direkte Demokratie – im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren – sogar dazu führen, dass die Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen gegenüber anderen schlechter oder gar nicht vertreten werden als bei systematischer formaler Repräsentation. Es wird zu sehen sein, ob diese Punkte bei der Auseinandersetzung über die Verfassungsgebungsverfahren thematisiert wurden.

Grundsätzlich kann die Analyse prüfen, ob die Erarbeitung von Verfassungen in Parlamenten, also im Repräsentativmodus, ein geeigneter Weg der Demokratisierung ist und welche möglichen Probleme damit verbunden sind.

2.2.3 Auswirkungen auf die Konfliktbewältigung und die neue Ordnung als Verhandlungsergebnis

Der kurzfristige Erfolg der Verfassungsgebung als Austragung von Konflikten um die Verteilung von Rechten, Ressourcen und Respekt bemisst sich an der Fähigkeit, Mehrheiten für die Verabschiedung der Verfassung zu mobilisieren. Demokratie, so lautet eine zentrale Annahme der Politikwissenschaft, bedarf des Konsenses in Bezug auf die fundamentalen Werte der neuen Ordnung (Grundrechte, Grundfreiheiten) und auf die Verfahren des politischen Prozesses, während ein Konsens hinsichtlich bestimmter favorisierter Politikinhalte nicht nötig ist.Footnote 80 Diese werden stattdessen immer wieder neu öffentlich verhandelt und unterschiedliche Wahlergebnisse führen dann innerhalb der neuen Ordnung zu unterschiedlichen politischen Programmen.

Gemäß rationalistischen Annahmen muss eine Verfassung einen Zustand des Gleichgewichts erzeugen, um erfolgreich zu sein, d. h. die Verfassung muss den politischen Wettbewerb so koordinieren, dass keine Partei einen Anreiz hat, von ihr abzuweichen.Footnote 81 Ein solches Gleichgewicht besteht dann, wenn auch Parteien, deren Präferenzen das zur Abstimmung stehende Dokument nicht entspricht, bereit sind, die Mehrheitsentscheidung zu akzeptieren. Dies ist aber nicht selbstverständlich. Der stärkste parlamentarische Akteur ist ja gemäß der rational-choice-Theorie nur zu Zugeständnissen bereit, die das Zustandekommen einer minimalen Entscheidungskoalition gemäß den Verfahrensvorgaben garantieren. Wie sich die nicht im Verhandlungsergebnis berücksichtigten Akteure verhalten und inwieweit sich ein Risiko für das systemische Gleichgewicht ergeben kann, wird in der Literatur unzureichend thematisiert. Vielleicht stellen die stärksten Akteure doch auch langfristige Erwägungen an und bemühen sich um einen stärkeren Legitimationsvorrat für die neue demokratische Ordnung, als dies formal nötig ist?

Aus rationalistischen Ansätzen, aber auch aus der Theorie der liberalen Demokratie ist abzuleiten, dass sich Wahlergebnisse in politischen Entscheidungen spiegeln. Ob ein Akteur einen deutlichen Mandatsvorsprung hat oder das parlamentarische Kräfteverhältnis uneindeutig ist, erzeugt demgemäß einen Einfluss auf das Einigungsverhalten.Footnote 82 In dem einen Falle wird der stärkste Akteur die Ausgestaltung des neuen Systems dominieren und auch die Leitlinien für Kompromiss vorgeben, im anderen Falle wären stärkere Kompromisse nötig.

Unklar ist, ob das so stimmt oder verfeinerte Erklärungsmodelle notwendig sind, die das Zusammenspiel mit dem Verfahren der Verfassungsgebung, normative Grundüberzeugungen vom Bedarf der Beteiligung Dritter und zeit- bzw. prozessimmanente Faktoren berücksichtigen. Beispielsweise ist die Aussicht von kleineren Koalitionspartnern auf Beachtung ihrer Präferenzen bislang unklar. Die empirisch-vergleichende Forschung zu Parlamenten und zu Verfassungsänderungsprozessen zeigte bereits erwähnte Prozesseffekte. Demnach reduziert sich die nach der Agendasetzung zunächst beobachtbare Komplexität verfassungspolitischer Konflikte rasch zu einer dualen Konstellation, die der alltagspolitischen Machtkonstellation entspricht, d. h. in parlamentarischen Demokratien dem Dualismus von Regierungslager und Opposition.Footnote 83 Die Koalitionspartner stehen zusammen. Die Bereitschaft der stärksten Partei, ihren möglichen kleineren Koalitionspartner zu berücksichtigen, kann aber durch den Bedarf neutralisiert oder überlagert werden, die Zustimmung einer Oppositionspartei mit Vetospielerkapazität zu sichern.

Nicht nur der Umgang mit dem Koalitionspartner bei Verfassungsgebungen ist unklar; es gibt weitere in der politikwissenschaftlichen Literatur überlieferte Befunde, die der Durchschlagskraft der Kräfteverhältnisse (gemäß Wahlergebnissen) auf Demokratisierung zumindest einschränkend zur Seite zu stellen sind. Demnach erhöht die Fähigkeit, glaubhaft anzudrohen, die Regierung zu erpressen (beispielsweise mit einer öffentlichen Kampagne), die Chancen, eigene Präferenzen durchzusetzen.Footnote 84 Als weitere Ressourcen, die die Verhandlungsmacht erhöhen, wurden öffentliche Reputation, eine erhöhte Zahl individuell akzeptabler inhaltlicher Ausgestaltungsvarianten, eine geringere Ungeduld im Vergleich zu den Mitspielern, eine geringere Risikoscheu und ein relativ erhöhter Informationsstand genannt.Footnote 85 Eine hohe inhaltliche Motivation, die sich in der Bereitschaft äußerte, auch bei Verhandlungsrückschlägen weiter aktiv für eigene Interessen einzutreten, scheint ebenfalls förderlich für die Durchsetzung von Präferenzen zu sein.Footnote 86

Darüber hinaus wurde in der Literatur thematisiert, dass Akteure durchaus ihre Zielvorstellungen ändern können. Ihre Präferenzen können sich zum einen aufgrund neuer Informationen transformieren, die sie im Diskurs erhalten. Zum anderen ist es möglich, dass Beratungsteilnehmer die Präferenzen derjenigen, die sie repräsentieren sollen, nicht adäquat vertreten. Inwieweit die eine oder andere Variante zum Tragen komme, hänge unter anderem davon ab, ob die Beratungen öffentlich stattfinden.Footnote 87 Es wurde beobachtet, dass unterschiedliche verfassungspolitische Ideen und Interessen (nur dann) ausgeglichen werden können und eine positive Wirkung auf die Legitimität und Effektivität der Verfassungsgebung entfalten, wenn die Beteiligten die Unterschiede ihre Präferenzen ernst nehmen, die Strukturen der Verfassungsgebung dazu geeignet sind, solche Unterschiede anzuerkennen, und die Akteure sich mit den Unterschieden demokratisch und kommunikativ befassen. So steigt die Akzeptanz gegenüber dem Beratungsergebnis, auch wenn nicht alle Präferenzen optimal abgebildet sind.Footnote 88

Allerdings lässt sich nicht immer eine Einigung in der Sache erzielen. Die Verhandlungsforschung zeigt, dass bei kaum überbrückbaren Präferenzunterschieden „politische Deals“, Paketgeschäfte erfolgen können, um einen Gesamtkompromiss zu erzielen, weil Deliberation in der Sache nicht zu einer Einigung führe. Damit verbunden wurde die These, dass es oft gute Gründe dafür gibt, dass die Verfassungsgebung dem regulären Gesetzgebungsprozess ähnelt. Die Konflikte müssten nicht dadurch aufgelöst werden, dass einige oder alle Beteiligte ihre Meinung ändern, sondern es reiche aus, dass sie einen wechselseitig akzeptablen Kompromiss erzielen, der andere Sichtweisen akzeptiere, ohne ihnen zuzustimmen.Footnote 89

Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass die Konsens- oder Kompromissfindung – ebenso wie dies bereits für die Konfliktbereitschaft vermutet wurde – nach Materien variiert. Die Studie soll daher für die konkreten Untersuchungsfälle eingrenzen, ob sich gegebenenfalls bei manchen Konfliktthemen die Mehrheitsverhältnisse weniger stark im verabschiedeten Verfassungstext spiegeln als bei anderen. Das Interesse an einer solchen Systematisierung ist besonders durch die in der Forschung weiter uneindeutige Zugänglichkeit von Werte- und Verteilungsproblemen für politische Kompromisse motiviert:

Einerseits scheint die Vermutung plausibel, dass Verteilungskonflikte leichter lösbar sind als Wertkonflikte, wie sie in Bezug auf Grundrechte oder Staatsziele entstehen können. Vergleichende politökonomische Analysen zu Koalitionsregierungen, Staaten und den Bundesländern zeigten, dass mit der Zahl der einzubindenden Akteure die öffentlichen Ausgaben stiegen, da die Beteiligten jeweils einen Nutzen daraus zogen, ohne individuell die Kosten tragen oder sich für die Entscheidung verantworten müssen.Footnote 90 Konflikte können offenbar durch Ausgabensteigerungen befriedet werden. Bei Wertethemen etwa um die Gleichstellung von Menschen unabhängig von ihrer Lebensweise oder sexuellen Identität, bei Abtreibung, Todesstrafe, Wehrdienst, Religion sind Einigungen hingegen nicht über Ausgabensteigerungen zu erzielen und ein Konsens ist in dieser Perspektive schwerer oder nicht zu erreichen.Footnote 91

Andererseits werden Verteilungskonflikte oft als Nullsummenspiele interpretiert, bei denen die Gewinne der einen Verluste der anderen Partei zur Folge haben und daher nicht leicht, sondern schwer zu lösen seien. Arenen, in denen Verteilungspolitik vorherrscht, seien am schwersten für eine Gemeinwohlorientierung zu gewinnen, während in „Arenen protektiver Politik, in denen um Schutzinteressen gestritten wird, und bei manchen regulativen Maßnahmen“ die Gemeinwohlorientierung höher sei.Footnote 92 Zudem sind im Falle von Wertekonflikten Einigungen über sparsame Negativabgrenzungen (was nicht erlaubt ist), extensive positive Festlegungen (was erlaubt ist), vage Formulierungen und „Formelkompromisse“ möglich.Footnote 93 Wenn die Normierung einer Materie ohnehin gar nicht der subnationalen Ebene zufällt oder zumindest dort nicht notwendig ist, kann auf die Austragung eines entsprechenden Konflikts ganz verzichtet werden. Schließlich kann es sich als effektiv erweisen, rhetorisch auf übergreifende gemeinsame Werte zu verweisen, um eine Einigung im Sinne dieser gemeinsamen Werte zu erzielen.Footnote 94

Die Effekte dieser Konflikttypen sind also uneindeutig, was mit der Schwierigkeit ihrer trennscharfen Operationalisierung zusammenhängen mag.

Keine konsistenten Forschungsbefunde liegen bislang auch dazu vor, inwiefern die politischen Kräfteverhältnisse den verfassungsrechtlichen Umgang mit dem alten System und seinen Trägern beeinflussen. Dieses Querschnittsthema beinhaltet eine Verteilungs- und eine Wertedimension. Die meisten Studien sind sich darin einig, dass die Einführung neuer politischer Institutionen weit schneller erfolgt als der „Wandel in den Köpfen“, der Wandel des Verhaltens, die Entwicklung einer Bürgergesellschaft und erneuerter Parteien.Footnote 95 Daher ist eine schnelle Annäherung unterschiedlicher Geschichtsdeutungen eher unwahrscheinlich.

Gerade bei der sensiblen Aufarbeitungsproblematik stellen neue Machthaber ebenso wie die Träger des alten Systems unter Beweis, wie weit ihre Akzeptanz politischer Wahrnehmungs- und Interessenunterschiede reicht, wie bereit sie zum politischen Dialog mit Andersdenkenden sind und wie wichtig ihnen inhaltliche Kompromisse sind. Gemeinsame Debatten können das Vertrauen in die neuen Institutionen, die Demokratiezufriedenheit und die Einstellung von politischen Akteuren zueinander fördern, doch unklar ist, ob dieser Effekt nur bei offenen Diskussionen über die Vergangenheit eintritt oder auch bei Ausblendung der Vergangenheit und Konzentration auf Diskussionen über die Ausgestaltung des Neuanfangs.Footnote 96 Eine erhöhte Bereitschaft zur Aufarbeitung wurde zudem nur Staaten bescheinigt, in denen die Bevölkerung den politischen Systemwechsel initiierte und die alten Eliten nicht über den Verhandlungsweg in den Systemwechsel eingebunden waren.Footnote 97 Auf die hier untersuchten Länder traf dies für die erste Phase der Transition 1989 zu.

Ein symbolisches Nie wieder!, so wie in der Präambel des Einigungsvertrages zwischen der DDR und der Bundesrepublik oder in der Verfassung Südafrikas nach dem Ende der Apartheid, sind symbolische verfassungspolitische Maßnahmen.Footnote 98 In Ostmitteleuropa führte die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aber auch zu anderen Konsequenzen, nämlich regelrechten „Grundrechteepen“, die dem Schutz der Individualrechte vor dem Staat dienen sollen,Footnote 99 während die Verfassungstexte sich ansonsten mit Äußerungen zur Vergangenheit zurückhalten. Das Ausblenden der Vergangenheit kann als Weg genutzt werden, um die Anstrengungen parteiübergreifend auf das verbindende neue System zu richten sowie die Ablehnung des neuen Systems von Seiten der Träger des alten Systems und eine Debatte über die Verantwortung der gesamten Gesellschaft zu vermeiden.Footnote 100 Straffreiheit für Akteure, die Menschrechtsverletzungen verantworteten, kann ein Weg sein, sie in das neue demokratische System zu integrieren.Footnote 101 Ebenso können Verfassungen Wiedergutmachungsmaßnahmen festlegen, aber auch den Zugang ehemaliger Systemträger zum öffentlichen Dienst regeln. Die meisten Punkte berühren die Werte- und die Verteilungsdimension.

Die Studie wird prüfen, wie genau die Kompromiss- und Konsensorientierung der Beteiligten ausgeprägt war, inwieweit dies durch die parlamentarischen Kräfteverhältnisse beeinflusst war und ob es eine Variation nach Themen gab. Dafür muss sie sowohl die Ergebnisse der Verfassungsgebungen vergleichen als auch die Prozesse der Verfassungsgebung nachvollziehen, um mögliche Dynamiken der Konsens- und Kompromissbereitschaft im Beratungsverlauf erfassen zu können. Ein Kompromiss läge dann vor, wenn die beschlossenen Verfassungsinhalte zu Konfliktthemen die Mehrheitsverhältnisse bzw. die Präferenzen der stärksten Fraktionen wiederspiegeln. Eine Konsensorientierung ist feststellbar, wenn es im Beratungsverlauf zu stärkeren Abweichungen von den ursprünglich artikulierten Präferenzen kommt und die Beratungsergebnisse nicht eindeutig die Handschrift des stärksten Akteurs aufweisen.Footnote 102

2.3 Methodik der Untersuchung

Das bereits beschriebene Anliegen der vorliegenden Studie ist es, Wissen über die Demokratisierung in den konkreten Fällen zu präsentieren und auszuwerten, um auf diesem Wege herauszufinden, inwieweit parlamentarische Kräfteverhältnisse unterschiedliche Verläufe und Ergebnisse der Etablierung neuer Ordnungen generell erklären. Nun können, wie erwähnt, neben den parlamentarischen Kräfteverhältnissen weitere Faktoren dafür relevant sein. Dazu zählen die politische Kultur, gesellschaftliche Strukturen, die sozioökonomische Machtdispersion und andere. Idealerweise müssten alle diese Faktoren in ihrer Wechselbeziehung systematisch-vergleichend untersucht werden und dabei gleichzeitig noch ein Tiefenverständnis für die einzelnen Fälle entwickelt werden, um die Demokratisierung erklären zu können.

Dieses Ideal lässt sich nur schwer umsetzen. Die Aufgabe lässt sich jedoch abschichten. Genau dies versucht die vorliegende Studie, indem sie den glücklichen methodischen Nebeneffekt der deutschen Einheit nutztFootnote 103: Da diese als Beitritt der DDR zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes erfolgte und terminlich mit der Gründung der neuen Länder und dem Beitritt Ostberlins zu Westberlin zusammengelegt wurde, zerfiel mit einem Schlag ein politisches System, nämlich das der Deutschen Demokratischen Republik, in gleich fünf neue politische Systeme. Sie sind zwar als Bundesländer auf einer anderen Ebene angesiedelt als der Staat DDR, verbesserten aber dennoch erheblich die Möglichkeiten vergleichender Forschung zu Verfassungsgebungen und zu den Effekten politischen Handelns.

Als Bundesländer sind Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und auch das wiedervereinigte Berlin eindeutig voneinander abgrenzbare Fälle. Das Grundgesetz erkennt ihre Staatsqualität an, garantiert ihre finanzielle Selbstständigkeit, ihre Mitwirkung an der Gesetzgebung des Bundes sowie ihren Bestand. Die Länder besitzen als Rechtseinheiten somit eine dem Bund vergleichbare verfassungsgebende Gewalt, ihre Verfassungen „verifizieren“ die Staatlichkeit bzw. die staatliche Individualität des Landes.Footnote 104 Bundesrecht bricht zwar Landesrecht (Artikel 31 GG) und das Bundesverfassungsgericht darf die Vereinbarkeit des Landesrechts mit dem Bundesrecht prüfen,Footnote 105 doch zum einen kommt dieses Bundesrecht nur unter Mitwirkung der Länder zustande, zum anderen darf der Bund nicht über die in der Bundesverfassung normierten Sachverhalte hinaus in die Länder eingreifen. Als solche „weitgehend unangetastete Gegenstände der Verfassungsregelung verbleiben den Ländern die Staats- und Kommunalorganisation, die Innere Sicherheit, der Bereich der eigenen Aufgabenplanung und das Segment, das durch den Begriff ‚Kulturstaatlichkeit‘ bezeichnet wird, einschließlich des Schul- und Hochschulwesens.“Footnote 106

Es handelt sich bei der hier durchgeführten Untersuchung der neuen Länder demnach um ein most similar systems design. Bei dieser Anordnung werden Fälle studiert, die eindeutig voneinander abgrenzbar sind und deren Rahmenbedingungen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in wesentlichen Punkten ähnlich waren, jedoch bei einer oder wenigen Variablen eine starke Streuung aufweisen.Footnote 107

Ähnlich waren in den neuen Ländern der Kontext von DDR-Geschichte, Systembruch, Demokratisierung, Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland, plötzlichem, umfassendem Transfer von Verwaltung und Wirtschaftssystem, Reformbedarf der länderinternen Gebietsstrukturen und Kompetenzverteilung,Footnote 108 gesellschaftlichen Strukturen, Bildung, politischer Kultur, Erfahrungshorizonten der Akteure, Beratungsbeziehungen mit westdeutschen Ländern, Einbettung in Kommunikationssetze und Verfügbarkeit verfassungspolitischer Ideen. Beinahe wie in einer Laborsituation unterschieden sich hingegen im Wesentlichen (nur) die politischen Kräftekonstellationen in den Landesparlamenten.

Unter der Annahme, dass nur die eben genannten Faktoren die verfassungspolitischen Entscheidungen (ähnlich) beeinflussen und die Akteurskonfigurationen unwichtig sind, müssten die verfassungspolitischen Entscheidungen und Entwicklungen in den neuen Ländern ähnlich gewesen sein. Sollte dies aber nicht der Fall sein, so wären unterschiedliche Verfassungsgebungsverfahren und Verfassungsinhalte mit hoher Wahrscheinlichkeit durch jenen Umstand zu erklären oder zumindest maßgeblich beeinflusst, der variierte: die parlamentarischen Kräfteverhältnisse.Footnote 109

Die Methode, unterschiedliche Ergebnisse aus Differenzen bei grundsätzlich ähnlicher „Versuchsanordnung“ abzuleiten, ist deshalb einsetzbar, weil die beschriebenen Prinzipien der Einbindung der Bundesländer in das politische System der Bundesrepublik den Landesakteuren Gestaltungspielraum in Bezug auf ihre Verfassungen ließen.Footnote 110 Ob es einen direkt gewählten, mit starken Kompetenzen ausgestatteten Ministerpräsidenten gibt oder nicht, in welchem Verhältnis zueinander Parlament und Regierung stehen, ob es eine oder zwei Parlamentskammern gibt, wer in der zweiten Kammer vertreten ist, ob und wie der Ministerpräsident zur Rechenschaft und zu Auskünften über seine politischen Pläne gedrängt werden kann, wie oft gewählt wird, ob per Mehrheits- oder Verhältniswahl mit oder ohne Sperrklausel, ob und wie die Bevölkerung am politischen Prozess beteiligt wird, ob es eigene Landesgrundrechte gibt und welche – all dies sind Entscheidungen im Ermessen der Landesverfassungsgeber. Auch wer die Verfassung schreibt, verabschiedet und ändert, obliegt der Entscheidung der Länder. Varianz war also möglich.Footnote 111

In ihrer spezifischen Konfiguration der Rahmenbedingungen nach 1989 bilden die in der Studie betrachteten Fälle eine eigene Grundgesamtheit komplett ab, nämlich die der neuen Länder. Es gibt wohl kaum weitere Fälle, bei denen die genannten Variablen genau so ausgeprägt waren. Insofern beziehen sich die erarbeiteten Befunde zunächst erst einmal nur beschreibend auf diese Fälle. Sie lassen sich jedoch auf abstrakterer Ebene potenziell auf alle anderen Demokratisierungsprozesse übertragen, insbesondere auf jene, die teilweise Überlappungen in der Variablenkonfiguration aufweisen, so Verfassungsgebungen durch Parlamente, in subnationalen Einheiten oder nach Systemwechseln. Weichen deren Ergebnisse von den hier beobachteten Kausalmustern ab, so lässt sich die Abweichung auf den Effekt anders ausgeprägter Variablen zurückführen und insofern ursächlich eingrenzen. Die Untersuchung der Verfassungsgebungen der neuen Länder verspricht damit auch fallübergreifend Erkenntnisse mittlerer Reichweite für die „Entwicklung und Überprüfung von Hypothesen und Sachverhalten, Vorgängen und Wechselbeziehungen zweier oder mehrerer Variablen“, wie sie die vergleichende Politikwissenschaft anstrebt.Footnote 112

Berlin ist ein von den neuen Ländern abweichender Fall, denn die institutionellen Rahmenbedingungen der Verfassungspolitik waren anders ausgeprägt. Sie ähnelten bis zu einem gewissen Grad der Ebene des Bundes: Der Ostteil Berlins, der seit 1990 über eine demokratische Verfassung verfügte, trat dem demokratischen Institutionensystem des „Stadtstaates“ (West-)Berlin bei und seine Repräsentanten bildeten dort – ebenso wie die Repräsentanten ostdeutscher Wähler auf der Bundesebene – eine politische Minderheit. Auch der ökonomische und gesellschaftliche Kontext wich von den anderen Fällen ab.

Da diese spezifische Variablenkonfiguration nur einmal, eben in Berlin, auftrat, sind die interpretativen Aussagen dazu hochgradig fehleranfällig. Dennoch wurde eine Analyse der Überarbeitung der Berliner Verfassung als kontrastierender Fall in die Untersuchung aufgenommen, um zu prüfen, ob der eventuell beobachtete Zusammenhang zwischen parlamentarischen Kräfteverhältnissen, Verfahren der Verfassungsgebung und Verhandlungsergebnissen auch unter anderen Rahmenbedingungen zutraf. Ansätze zur Erklärung der Verfassungspolitik, die dem Kontext eine besondere Bedeutung beimessen, lassen vermuten, dass aufgrund der abweichenden Rahmenbedingungen die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse nicht mit denselben Effekten auf die Verfassung einhergehen wie in den neuen Ländern. Sollten die Befunde jedoch auch für Berlin zutreffen, so ist dies ein erstes Indiz für die Robustheit der empirischen Erkenntnisse zum Effekt der parlamentarischen Kräfteverhältnisse. Die Prüfung in künftigen Studien zu weiteren Fällen mit anderen Rahmenbedingungen würde sich dann lohnen.Footnote 113

Um die empirische Plausibilität dieser Einordnung der Fälle zu prüfen, wurden zunächst die Hintergründe des Systemwandels in der DDR und in Berlin untersucht und zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede eruiert. Danach wurden die Kräfteverhältnisse in den Landesparlamenten analysiert und drei unterschiedliche Konfigurationen in Bezug auf den theoretisch vermuteten Kausalzusammenhang differenziert. Die Klassifikation umfasst Fälle mit einem (rational-choice-theoretisch) geringem Mindestbedarf des Interessenausgleichs, um Mehrheiten für verfassungspolitische Entscheidungen bereitzustellen (kurz: mit geringem verfassungspolitischem Kompromissbedarf), mit mittlerem Kompromissbedarf und mit hohem Kompromissbedarf.Footnote 114

Der Zugriff auf die Fälle und die Bearbeitung der genannten drei Teilfragen der Untersuchung erfolgte über die Methode der theoriegeleiteten historischen Rekonstruktion der Prozesse, über Gruppen- und Einzelinterviews sowie über die Methode der Dokumentenanalyse auf Basis selbst entworfener Indizes. Die Analyse orientiert sich an den beschriebenen, oft widersprüchlichen Vermutungen der Forschungsliteratur zu Systemwechseln, Verfassungsgebung, Verfassungsänderungen, Institutionenwandel, subnationalen Einheiten in Föderalstaaten und Parteien.

In einem ersten Untersuchungsschritt wurden parlamentarische Primärquellen in den Archiven erhoben und jeweils nach Ländern ausgewertet. Dazu zählten Plenarprotokolle, Ausschussprotokolle und zusätzliche Dokumente der Verfassungsgremien oder beispielsweise Unterlagen aus dem Privatarchiv von Steffen Heitmann. Darüber hinaus wurden die Medienberichterstattung, politik- und rechtswissenschaftliche Sekundärquellen zur Verfassungspolitik und allgemein zur politischen Entwicklung in der späten DDR und in den neuen Ländern und Berlin sowie teils Erinnerungsliteratur hinzugezogen. Dies gestattete es, die Prozesse nachzuvollziehen, die Hauptkonfliktthemen zu bestimmen und erste Vermutungen über den Effekt der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zu formulieren.

Um zusätzliche Informationen für die Rekonstruktion der Präferenzen und Interaktionen während der Verfassungsgebung zu erheben, Informationen aus der Primär- und Sekundärliteratur zu prüfen, die Gültigkeit erster Zwischenbefunde zu bewerten und Einsichten über bisher nicht vermutete Zusammenhänge zu gewinnen, wurde im zweiten Schritt eine Tagung mit Zeitzeugen der Verfassungspolitik einschließlich Gruppendiskussionen durchgeführt.Footnote 115 Die Auswahl der Tagungsteilnehmer und Interviewten gewährleistete eine Gleichverteilung der politischen Akteure, die an der Verfassungspolitik beteiligt waren. Hinzu kamen einige Experten.Footnote 116 Die Tagung fand am 14. und 15. November 2008 im Bundesrat unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Die eingeladenen Personen wurden nur allgemein darüber informiert, dass ihre Mitwirkung im Rahmen einer politikwissenschaftlichen Studie der Forschung und der Bereitstellung von zeithistorischem Wissen für die politische Bildung dient. Die Einleitung der Verfasserin war sehr knapp und ging nicht auf theoretische Vorannahmen und erste vorliegende Erkenntnisse ein, um die Teilnehmer möglichst wenig zu beeinflussen.Footnote 117 Danach folgten im Plenum 20–30minütige Rückblicke von Zeitzeugen aus den Ländern auf die Verfassungsgebungsprozesse. Für diese einführenden Rückblicke wurden Vertreter der beiden großen Parteien CDU und SPD, darunter Landtagspräsidenten, gewonnen sowie im Falle Thüringen ein Politikwissenschaftler und der ehemalige Landtagsdirektor. Sie waren gebeten worden, die Rahmenbedingungen, Prozesse und Probleme der Landesverfassungsgebung nachzuzeichnen und dabei persönliche Erinnerungen und Sichtweisen einfließen zu lassen. Nach den Einführungsvorträgen bestand die Möglichkeit zu Fragen und Kommentaren, die rege genutzt wurde.

Im weiteren Tagungsverlauf fanden Gruppendiskussionen zu sechs verschiedenen Themen statt, die im Vorfeld der Tagung als Schwerpunkte der verfassungspolitischen Auseinandersetzungen vermutet worden waren. Diese Themen waren den Teilnehmern bereits mehrere Monate vor der Tagung bekannt gemacht worden. Am Diskussionsverlauf und den mitgebrachten Unterlagen war erkennbar, dass die Beteiligten sich inhaltlich vorbereitet hatten. Aufgrund der begrenzten zeitlichen Kapazitäten der Befragten mussten jeweils drei Diskussionsforen parallel stattfinden. Bei der Terminierung wurde darauf geachtet, dass ähnliche Themen nicht zur selben Zeit besprochen wurden.Footnote 118 Den Teilnehmern wurde freigestellt, welchen Diskussionsrunden sie beiwohnen. Dadurch wurde zum einen die jeweils spezifische Expertise gut abgebildet, zum anderen konnte beobachtet werden, welche systematischen Gewichtungen sich ergeben. Beispielsweise nahmen an einer Gruppendiskussion zu europäischen Einflüssen kaum Personen teil, und die Runde war schon nach kurzer Zeit beendet. Dies zeigt, dass das Thema als nicht relevant wahrgenommen wurde.

Die Gruppendiskussionen wurden jeweils von einem Wissenschaftler oder einer Wissenschaftlerin geleitet, die als Experten in Fragen der Verfassungs- und Landespolitik in der Lage dazu waren, ggf. qualifizierte Rückfragen zu stellen und die über methodische Kenntnisse verfügten. Dies waren Werner Reutter, Nathalie Behnke und die Verfasserin. Zu Beginn der Runde wurden jeweils erneut nur wenige Informationen zum Vorhaben gegeben und alle Akteure explizit dazu aufgefordert, auf die Antworten der anderen Teilnehmer zu reagieren. Als Impulse wurden vorher formulierte Leitfragen verwendet, auf die alle Beteiligten reagieren sollten. Die Fragen richteten sich gemäß dem formulierten Ziel der Teilanalyse auf unterschiedliche Aspekte der Thematik, so dass sich die Teilnehmer aus verschiedenen Perspektiven zum Thema äußerten.Footnote 119

Gruppendiskussionen unterscheiden sich von Einzelinterviews dadurch, dass die befragten Personen nicht anonym und unabhängig antworten, sondern in Kenntnis der Äußerungen anderer Personen, die neben den Fragen des Diskussionsleiters Reaktionen anregen. Dies kann Vorteile und Nachteile haben. Mehrere Vorteile sprachen für diese Form der Datenerhebung und kamen tatsächlich zum Tragen:

Erstens handelte es sich um eine effiziente Methode herauszufinden, was Akteure mit einem ähnlichen Hintergrund – in diesem Falle als Akteure und Experten der Verfassungspolitik – zu bestimmten Fragen meinen, was sie als wichtig bewerten und was nicht, weil Aussagen zu den Leitfragen gesammelt und dabei gleichzeitig durch die Interaktion Impulse gesetzt werden, ohne theoriegeleitet von außen einzugreifen. Die Teilnehmer stellten untereinander von Anfang an Rückfragen, die auf dem eigenen Erfahrungshintergrund basierten. Dies erwies sich als sehr fruchtbar, um Zusammenhänge aufzudecken, die zunächst nicht von den Auskunft gebenden Personen erwähnt wurden. Ein Beispiel war eine Rückfrage Wolfgang Birthlers (SPD, Brandenburg) an Rainer Prachtl (CDU, Mecklenburg-Vorpommern) betreffend dessen Überlegungen zu den Gründen der niedrigen Zustimmung im Volksentscheid zur Verfassung in Mecklenburg-Vorpommern. Birthler interessierte sich für den Zeitpunkt des Volksentscheids und stellte die Vermutung an, dass auch die brandenburgische Verfassung zu einem späteren Zeitpunkt, wie er im nördlichen Nachbarland gewählt worden war, eine geringere Zustimmungsrate erzielt hätte, weil die Arbeitslosigkeit da höher lag.Footnote 120

Zweitens bieten Gruppeninterviews die Möglichkeit zu beobachten, wie die Akteure jeweils untereinander auf ihre Ausführungen reagieren, wo Kontroversen entstanden und Klarstellungen oder Rechtfertigungen ausgelöst wurden und wie stark die Akteure ihre Ansichten verteidigen.Footnote 121 Beispielsweise sagte Andreas Gram (CDU, Berlin), dass die Frage: Ost oder West? „in der Frage der verfassungsgebenden Politik“ ein „wenig ausschlaggebendes Argument war“. Dem widersprach sein Ostberliner Kollege Knut Herbst (SPD) sofort vehement.Footnote 122 Auch die Aussagen zum Thema Umgang mit den Trägern des alten Systems wurden kontrovers mit zahlreichen Bezügen untereinander diskutiert.Footnote 123

Drittens erleichtert es die Anwesenheit anderer politischer Akteure, unpräzise oder subjektive Aussagen zu erkennen und die Erinnerung an die zurückliegenden Ereignisse wachzurufen. Dadurch wird das Risiko falscher Interpretationen reduziert, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Zeitzeugen sich in Interviews mit dem Ziel der persönlichen oder parteipolitischen Profilierung äußern. Beispielsweise erklärte Klaus Bartl (PDS/Linke, Sachsen), seine Fraktion sei immer in der Sache angehört worden, während Joachim Linck (damals Landtagsdirektor in Thüringen) kommentierte: „Also den Eindruck, muss ich sagen, hatte ich nicht. Vielleicht redet er sich das auch ein bisschen schön.“Footnote 124 Oder der bereits erwähnte Rainer Prachtl äußerte zurückhaltend zum Thema Vollverfassung, es habe „bei einigen“ die Meinung gegeben: „Man braucht eigentlich keine“, während sein Landsmann Siegfried Friese (SPD) erklärte, um die Frage Vollverfassung oder nur ein Organisationsstatut habe es „heftige Auseinandersetzungen“ gegeben.Footnote 125

Viertens erleichterte es die parteien- und länderübergreifende Zusammensetzung der Diskussionsgruppen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Ländern relativ schnell aufzudecken. Nachdem beispielsweise Zeitzeugen aus mehreren Ländern darüber berichtet hatten, dass die Landesparlamente bereits vorliegende Verfassungsentwürfe berieten, erklärte Wolfgang Birthler (SPD, Brandenburg): „Also ich staune ja sowieso immer, wie viele Entwürfe in den anderen Ländern vorher immer schon beraten worden sind. Das hat in Brandenburg eigentlich keine Rolle gespielt“.Footnote 126 Übereinstimmend wurde immer wieder auf die Bedeutung von Kontakten und Absprachen zwischen den Akteuren außerhalb des regulären Verfahrens, die demnach nicht dokumentiert sind, verwiesen.Footnote 127 Zugleich reduzierte die parteien- und länderübergreifende Zusammensetzung der Gruppen den möglichen Effekt von Landes- und Parteienaffinitäten der Beteiligten. Die Bildung von Deutungskoalitionen zwischen Vertretern derselben Parteien aus verschiedenen Ländern wurde nicht beobachtet.

Nachteile von Gruppeninterviews sind, dass sich der persönliche Charakter von Teilnehmern, z. B. ein zurückhaltendes Wesen, die Tagesform oder die Art der Beziehung der Befragten untereinander darauf auswirken können, wie sie antworten.Footnote 128 Allerdings kann bei Politikern und Experten davon ausgegangen werden, dass sie gleichermaßen selbstbewusst ihre Ansichten vertreten. Zusätzlich wurde bei der Diskussionsleitung darauf geachtet, dass die Akteure zu ähnlichen Anteilen zu Wort kommen. Vorteilhaft war, dass die Zeitzeugen untereinander in keinem Abhängigkeitsverhältnis standen.

Gruppeninterviews bilden nicht „die ganze Wahrheit“ ab, sondern liefern nur Indizien für oder gegen mögliche Gewichtungen und Kausalitäten. Eine Quelle für mögliche Verzerrungen besteht im vorliegenden Falle darin, dass nicht alle am Prozess beteiligten Akteure anwesend waren. Eine weitere potenzielle Fehlerquelle besteht in dem nicht änderbaren Umstand, dass die Prozesse, zu denen sich die Zeitzeugen äußerten, sehr lange zurückliegen. Die Darstellung erfolgt daher „durch die Brille“ von Erfahrungen, die nach der Verfassungsgebung gesammelt wurden, unter Einfluss anderer Prozesse und aktueller Opportunitätserwägungen einschließlich der Formulierung sozial erwünschter Antworten.Footnote 129 Aus diesen Gründen waren die Gruppendiskussionen nur Teil einer Kombination mit ergänzenden Vier-Augen-Interviews, Analysen von Primärdokumenten aus Archiven und Sekundärliteratur. Im Rahmen dieser komplexeren Quellenarbeit wurden die Aussagen geprüft und vor dem Hintergrund des spezifischen Kontextes interpretiert.

Wichtige weitere Akteure, die nicht an der Tagung teilnehmen konnten, wurden später in individuellen Leitfadeninterviews befragt.Footnote 130 Der Leitfaden berücksichtigte mit dem Ziel der Kohärenz die zentralen Themen der Gruppeninterviews. Der Tagungsmitschnitt und die Interviews wurden transkribiert und ausgewertet sowie mit den bereits vorhandenen Informationen zusammengeführt. Es wurde keine exakte Diskursanalyse durchgeführt, da die Zusammensetzung der Teilnehmer der jeweiligen Teilgruppeninterviews und die Distanz zwischen dem Zeitpunkt der Verfassungsgebung und dem Zeitpunkt der Interviews dies methodisch nicht ratsam erscheinen lassen: Faktisch lag wie bei den Dokumenten, die teilweise nur Kurzprotokolle von Ausschusssitzungen umfassten, nicht durchgängig die gleiche Art von Daten bzw. Aussagen vor.Footnote 131 Die Auswertung beschränkte sich daher auf eine grundsätzliche Systematisierung der Präferenzen und Argumentationen bzw. Prüfung der entsprechenden Erkenntnisse aus der Dokumentenanalyse sowie auf die Rekonstruktion der Ereignisse. Im Vordergrund der Analyse stand der Vergleich der Aussagen nach Parteien und Ländern.

In Kombination mit den fortgesetzten Dokumentenanalysen ergaben sich Erweiterungen, Revisionen oder Konkretisierungen der ersten Vermutungen. Beispielsweise wurden Aussagen zu informellen Kontakten und Paketlösungen getroffen, zu denen sich in den anderen Quellen keine Informationen fanden. Das Thema Verhältnis zwischen Staat und Religion/Kirche, das bei erster Durchsicht der Archivalien nur einen geringen Anteil der Debatten ausmachte und den meisten Akteuren weniger wichtig war, wurde als weiterer Hauptkonflikt bewertet, da dem Vetospieler CDU die verfassungsrechtliche Ausgestaltung dieser Materie sehr wichtig war und er teilweise sein Votum für die Verfassungen an bestimmte Inhalte band. Darüber hinaus wurde bei der weiteren Quellensichtung die in den Gruppendiskussionen wiederholt geäußerte These geprüft, dass es in den Verfassungsberatungen ein Ost-West-cleavage gab.Footnote 132

Im vierten Schritt der Untersuchung wurde die qualitative Analyse der Verfassungspräferenzen ergänzt um eine Messung der angestrebten landesverfassungsrechtlichen Regelungsintensität in Bezug auf die verschiedenen inhaltlichen Konfliktgegenstände sowie um einen Vergleich nach Akteuren und Konfliktthemen. Die Messung erfasste quantitativ, wie stark die neue Ordnung künftige politische Mehrheiten einhegen und langfristig zu bestimmten Handlungen oder deren Unterlassung verpflichten sollte. Es ging nicht darum zu bewerten, ob mehr landesverfassungsrechtliche Bestimmungen tatsächlich mehr Schutz liefern, sondern wie stark der Wunsch der verhandlungsbeteiligten Akteure ausgeprägt war, die Reichweite staatlichen Handeln durch den Verfassungsgeber vorzugeben. Denn während der Formulierung der verfassungspolitischen Präferenzen 1990/91 gab einen starken Glauben daran, dass unter den Bedingungen von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das, was in der Verfassungstext steht, auch Verfassungswirklichkeit wird.Footnote 133

Es wurden alle Bestimmungen der Verfassungsentwürfe und der Berliner Verfassungen ausgewertet, die sich auf die diagnostizierten Konfliktthemen bezogen. Akteure, die individuelle Positionen nicht in Form konkreter Entwürfe formulierten, sondern nur in den Gremiendiskussionen, in Vorgaben für Erarbeitungen der Sachverständigen oder für Zwischenstands-Papiere einbrachten, wurden aufgrund methodischer Probleme nicht berücksichtigt: Teilweise waren diese Vorschläge ungenauer formuliert als in den Verfassungsentwürfen, teilweise lässt die Quellenlage nicht ihre genaue Rekonstruktion zu. Sie wurden zu verschiedenen Zeitpunkten der Beratungsprozesse eingebracht und verdeutlichen daher nicht eindeutig die Ausgangspräferenzen, und im Unterschied zu den berücksichtigten Entwürfen ist nicht gesichert, ob Einzelaussagen in Gremiensitzungen Positionen der Kollektivakteure widerspiegeln. Darüber hinaus wurden die endgültigen Verfassungen „vermessen“, um zu prüfen, wessen Präferenzen in den Verhandlungsergebnissen wie stark abgebildet waren.

Anders als bei der qualitativen Beschreibung wurden in der quantitativen Analyse bei der Zuweisung der Werte zu den Normen diese jeweils nur einem bestimmten Konfliktthema zugeordnet, auch wenn sie mehrere betrafen. Beispielsweise wurde die Religionsfreiheit bei den Grundrechten und Staatszielen erfasst, nicht beim Thema Staat und Kirche/Religion. Auf diese Weise ließen sich Redundanzen und verzerrte Aussagen vermeiden.Footnote 134 Es wurden darüber hinaus ausschließlich Normen im rechtlich relevanten Hauptteil der Verfassung erfasst, d. h. keine Formulierungen in den Präambeln. In der qualitativen Beschreibung wurden Konflikte zu den Präambeln aber durchaus berücksichtigt. Unberücksichtigt blieb, ob auf Ebene des Bundes identische oder anders lautende Regelungen existierten, die die Wirkungsweise des Landesverfassungsrechts beeinflussen. Der Grund dafür ist, dass die vorliegende Untersuchung eben keine rechtswissenschaftliche Studie ist, sondern den möglichen Effekt der parlamentarischen Kräfteverhältnissen auf Konfliktstruktur, Verfahrensentscheidungen und Konfliktlösung erforscht.

Das Ziel der Messung erforderte die Formulierung trennscharfer empirisch beobachtbarer Indikatoren. Während dies bei Grundrechten und Staatszielen aufgrund ähnlicher Formulierungen unter Berücksichtigung staatsrechtlicher Literatur relativ einfach war – Indikatoren waren beispielsweise die Ausprägung eines Rechts auf Arbeit, die Ausprägung eines Rechts auf Bildung usw. –, unterschieden sich die verfassungsrechtlichen Formulierungen bei den anderen Konfliktgegenständen stärker. Hier wurden die Indikatoren teils aus der empirisch-vergleichenden Forschung zur Relevanz von Institutionen entlehnt und teils während der Dokumentenanalyse induktiv ergänzt, wenn die Indikatoren die Regelungsintensität nicht ausreichend zu beschreiben schienen.Footnote 135 Die Validität der erhobenen Merkmale wurde durch die Verfasserin und eine Mitarbeiterin diskutiert. Im Buch sind nur Kategorien dokumentiert, bei denen es mindestens einen Akteur gab, der eine erhöhte Regelungsintensität vorsah. Dadurch entfiel beispielsweise das in der vergleichenden Parlamentsforschung verbreitete Kriterium, ob die Opposition an Festlegung der parlamentarischen Tagesordnung beteiligt ist. Dies wollten die Akteure in den Geschäftsordnungen unterhalb der Verfassung regeln.

Den vorgesehenen Verfassungsregelungen zu den Konfliktmaterien wurden je nach Intensität der gewünschten Bindung künftiger Regierungsmehrheiten theoretisch hergeleitete, abgestufte Zahlenwerte zwischen 0 und 1 zugewiesen. Die Codierung, die im Anhang dokumentiert ist,Footnote 136 folgte folgender Logik: 0 steht für eine beabsichtigte geringe Intensität einer Verpflichtung des Staates zu bestimmten Handlungen oder der Unterlassung bestimmter Handlungen, d. h. für keine oder eine nur geringe Einschränkung des Handlungsspielraumes der politischen Entscheidungsträger. 1 steht für eine beabsichtigte hohe Intensität einer Verpflichtung des Staates zu bestimmten Handlungen oder deren Unterlassung, damit für eine starke Einschränkung des Handlungsspielraumes der politischen Entscheidungsträger in Bezug auf die Konfliktmaterie. Diese Werte wurden anschließend aufsummiert, so dass sich ein Kombinationsmaß aus der Anzahl der Normen und der jeweiligen Sanktionsintensität ergab.

Aufgrund der spezifischen Zielsetzung der Messung war eine Nutzung etablierter Indizes in keinem Falle möglich. Beispielsweise erfassen empirisch-vergleichende Studien zur Direktdemokratie zumeist alle Rechtsvorschriften. Dieses Buch konzentriert sich jedoch auf die Verfassungsrechtspolitik. Fehlende Vorschriften in der Verfassung (beispielsweise für die Sammlung von Unterschriften für den Antrag auf Volksbegehren) dürfen in Übereinstimmung mit dem beschriebenen theoretischen Ansatz und im Gegensatz zu Analysen aller Rechtsakte nicht als stärkere, da weniger restriktive Möglichkeit der Beteiligung von Bürgern verstanden werden. Vielmehr kann diese Nichtregelung in der Verfassung von Regierungsmehrheiten genutzt werden, um sie einfachgesetzlich restriktiv auszugestalten. Nur wenn solche Einschränkungen etwa hinsichtlich der Sammlung von Unterschriften verfassungsrechtlich explizit ausgeschlossen sind, muss die Verfassungsklausel als stark bindend gegenüber der Politik bewertet werden.

Die Wertezuweisung gemäß dem vorgegebenen Codierschema nahm eine entsprechend geschulte Projektmitarbeiterin vor. Sie war jedoch über die Leitfragen der Untersuchung und erwartete Zusammenhänge zu diesem Zeitpunkt nicht informiert, um eine neutrale Messung zu sichern. Aus Kapazitätsgründen erfolgten keine weiteren unabhängigen Codierungen, sondern die Messung wurde von der Projektleiterin überwacht und uneindeutige Codierungen wurden von Projektleiterin und Mitarbeiterin diskutiert. Diese Vorgehensweise scheint gerechtfertigt, weil sich zum einen die in den analysierten Texten anzutreffenden Formulierungen in hohem Maße eindeutig den Kategorien zuordnen ließen und da zum anderen diese Analyse nicht die einzige Datengrundlage des Gesamtprojekts war.

Die quantitative Teilanalyse war mit weiteren potenziellen Fehlerquellen verbunden. Dass nicht alle Akteure zum exakt gleichen Zeitpunkt eigenständige Präferenzen dokumentiert formulierten, begrenzt beispielsweise die Reichweite der Befunde. Allein schon dieser Umstand verdeutlicht, dass es sich bei dieser Teilanalyse nur um ein Behelfsinstrument handeln kann, um die angestrebte Regelungsintensität zu erfassen. Die Auswertung beschränkte sich daher auf die deskriptive Analyse mit vorsichtiger Interpretation. Dennoch ließ sie Tendenzaussagen zur Bedeutung parteipolitischer Konstellationen für die Konflikte zu. Die aushandlungsbeteiligten Akteure betonten etwa in den Gruppendiskussionen und Interviews die Bedeutung einzelner Personen für Verlauf und Ergebnis der Verhandlungen. Die quantitative Teilanalyse konnte diese Aussage relativieren und die strukturierende Bedeutung von Parteien anhand länderübergreifender Konsistenz bestimmter Parteipositionen aufzeigen. Zudem konnten Indizien für einen konfliktfeldspezifischen Effekt der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse auf die Kompromissfindung gefunden werden.

Im letzten Schritt wurden die geprüften Forschungsergebnisse im Manuskript zusammengeführt. Dabei wurden zentrale Vergleichsbefunde jeweils an den Beginn der Abschnitte gestellt. Die Titel der Abschnitte beinhalten für ein besseres Verständnis die Hauptcharakteristiken der Verfassungspolitik in den jeweiligen Ländern, die mit der parlamentarischen Kräftekonstellation variierten. Aus methodischen Gründen werden die Befunde zum abweichenden Fall Berlin separat berichtet, obwohl sich im Verlauf der Untersuchung zeigte, dass sie starke Ähnlichkeiten zu anderen Fällen mit mittlerem Kompromissbedarf aufwiesen. Die Darstellung der Ergebnisse wurde durch Zitate angereichert, die drei Funktionen erfüllen sollen: Sie enthalten typische Aussagen und ermöglichen es so dem Leser nachzuvollziehen, „aus welcher Art empirischer Daten der Autor welche Schlussfolgerungen gezogen hat“. Zudem machen sie die Darstellung plastisch und dienen der besseren Lesbarkeit.Footnote 137