Zusammenfassung
In dem Beitrag wird der Frage nach der angemessenen Vermittlung von Forschungsergebnissen in der interpretativ verfahrenden qualitativen Forschung nachgegangen. Dabei wird die Fallvignette als „reflexive account“, das die Darstellung von Forschungsbefunden mit einer Reflexion der grundlegenden Beziehungsdynamik in der Forschungssituation engführt, anhand eines konkreten Beispiels aus einer empirischen Studie zu HIV vorgestellt und unter Bezug auf die internationale Methodenliteratur und (ethno-)psychonalytische Konzepte theoretisch begründet. Abschließend werden forschungspraktische Anwendungsbezüge der Fallvignette als innovative Darstellungsweise reflexiver Wissensproduktion in qualitativer Forschung diskutiert.
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Notes
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Zur Rezeption von Devereux’ Ansatz in der qualitativen Methodenliteratur siehe Kühner (2011).
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In der DDR gab es seit 1957 keine Strafverfolgung mehr; der in der Fassung der Weimarer Republik noch existente § 1975 wurde 1968 abgeschafft.
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Die in dem Bild erkennbare Konstellation von ‚Außen’ und ‚Innen’ ist aufschlussreich, da sich Klaus selbst in dem distanziert beobachteten Außen positioniert und so die (ab)wertende Zuschreibung übernimmt. Dieser Topologie folgend ist ihm auch eine positive Besetzung schwuler Identität unmöglich. Sie bezeichnet eine stigmatisierende Wahrnehmung, die sich intrapsychisch als internalisierte Homophobie darstellt.
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„Die Vorsilbe ‘un’ an diesem Worte“, schreibt Freud (1919: 267), „ist aber die Marke der Verdrängung.“
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Psychologisch aufschlussreich mag an dieser Stelle auch sein, dass ich gerade mit dem Verweis auf ‚Pop’ dieses Gefühl der Einsamkeit zu fassen versuche.
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So bezeichnet Woltersdorff (2005) die Folge der gewaltsamen Ereignisse in der New Yorker Christopher Street 1969, die zu einem Gründungsmythos schwuler Befreiung und öffentlicher Emanzipation avanciert sind. In diesem Zusammenhang könnte Klaus’ harsche Ablehnung des Christopher Street Day als jährliche Feier der Ereignisse gesehen werden; zelebriert wird ein offenes, partyorientiertes Schwulsein, das er nicht kennen lernen konnte und durfte. Das Leben sei nicht so, vermerkt er melancholisch an einer Stelle.
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Den Ausschluss aus der auf das Ideal des Jungseins fixierten Szene, dem er mit 56 Jahren nicht mehr entspräche, beschreibt er als Imagination der Reaktion der Anderen; als „Du Halbtunte, was willst du denn?“ stellt er sich die Reaktion in der Szene „im Unterbewusstsein“ vor und beschließt, sich zurückzuziehen: „Ich will mich nicht lächerlich machen.“ Interessant ist, dass er in dieser Phantasie nicht einmal zu einer „richtigen“ „Tunte“ zu taugen scheint. Auch diese Identifikationsmöglichkeit, die bei aller Abwertung, die er mit dem Tuntigen verbindet, Sicherheit versprechen könnte, bleibt ihm verwehrt.
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Am Ende des Gespräch führt er auf die Frage, was er für die Zukunft erwarte, eine romantische Erlösung versprechende Utopie an: „Ich erfreu mich, wenn ich dann zu Haus im Dorf bin und im Frühjahr kommen die Schwalben wieder und spielen und vielleicht bauen sie ein Nestchen.“ Die Szene impliziert etwas von einer selbst vermissten (Nest-)Wärme, nimmt vielleicht nicht zufällig Schwalben auf, die als Paare fürs Leben immer wieder an den gleichen Ort zurückkommen, und ist doch auch stark mit einer spielerischen Freiheit konnotiert, die mit dem Nest einen Neuanfang bedeutet. Dabei ist zu vermerken, dass dieses Nestbauen ohne ein handelndes menschliches Subjekt, letztlich auch ohne einen passiven Beobachter auskommt.
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Nachdem Klaus beispielsweise die Geschichte seiner als lieblos beschriebenen Kindheit erzählt, kommt er zu der nicht zuletzt sprachlich aufgrund der mehrfach mit Negationen besetzten bemerkenswerten Aussage: „Aus der Kindheit kann ich nichts Negatives sagen, ne?“
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Angespielt wird damit auf das so genannte Cruisingals gezielte Suche nach Sexualpartnern an spezifischen öffentlichen Orten jenseits der offen schwulen Szene.
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Angesichts seiner privaten Lebensgeschichte erscheint seine berufliche reine Nebensache zu sein. Sie sei hier kurz nachtragend angeführt. Nach der Realschule machte Klaus eine Lehre als Industriekaufmann und holte dann über das Arbeitsamt noch eine Ausbildung zum Betriebswirt nach. Viele Jahre arbeitet er in der Medienbranche, fühlt sich dort aber schon länger nicht mehr wohl und auch hier, ähnlich der Szeneverortung, ausgeschlossen. Er hasse den Job, seine Kollegen (was auf Gegenseitigkeit beruhe), warte nur mehr auf die Pensionierung, sieht sich „aufm Gnadenhof“
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Im Hinblick auf die Analysen der Interviews wurden in der Studie u.a. Inhalts-, Narrations- und Interaktionsanalysen in Anschlag gebracht (Langer 2009: 5–84)
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Der Aufsatz heißt im Original „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Spre-chen”.
- 15.
Den Hinweis auf diese Quellen verdanke ich Constanze Oth.
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Als forschungspraktisches Beispiel sei auf den Aufsatz von Wright et al. (2012) verwiesen, in dem der Prozess einer gemeinsamen Wissensproduktion von „weißen“ akademischen und indigenen nicht-akademischen sowie weiteren nicht-menschlichen Akteuren zur lebensweltlichen Wahrnehmung in einer Aborigine-Gemeinschaft im Norden Australiens in Form einer immer wieder durch reflexive Einschübe durchbrochenen Storynachgezeichnet wird.
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Darüber hinaus ist auf eine methodologisch-reflektierende Funktion hinzuweisen, da der Nachvollzug der Beziehungsdynamik Aufschlüsse über Interaktionsordnung im Interview zulässt (vgl. z. B. Abell et al. 2006) und zur selbstreflexiven Bewusstmachung der eigenen latent gehaltenen Verstricktheit in der Forschung beiträgt.
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Langer, P. (2013). Chancen einer interpretativen Repräsentation von Forschung: die Fallvignette als „Reflexive Account“. In: Langer, P., Kühner, A., Schweder, P. (eds) Reflexive Wissensproduktion. Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialpsychologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03112-1_7
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