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Objektive Hermeneutik als Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt

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Reflexive Wissensproduktion

Zusammenfassung

Aus der Sicht der objektiven Hermeneutik habe ich mich gegen den Begriff der qualitativen Sozialforschung oder der qualitativen Methoden schon immer – allerdings vergeblich – gewehrt, und zwar aus drei Gründen:

  1. a.

    Es handelt sich um eine irreführende Gegensatzbildung von „quantitativ“ und „qualitativ“, denn jede quantifizierende Datenerhebung und -auswertung kommt ohne die in sich qualitative Bestimmung von Merkmalsdimensionen, innerhalb deren messend erhoben wird, nicht aus.

  2. b.

    Man kann zwar den Begriff der quantifizierenden Methoden als Bezeichnung für eine stark eingeschränkte Gruppe von Methoden in den Sozialwissenschaften benutzen, aber die dann übrig bleibende Gruppierung pauschal und unspezifisch als „qualitativ“ zu bezeichnen, läuft auf den Misch-Masch einer Residualbestimmung hinaus, unter der, wie ich zu zeigen versuchen werde, sich auf irreführende Weise wissenschaftstheoretisch höchst heterogene Methoden versammeln.

  3. c.

    Es empfiehlt sich, was selten präzise eingehalten wird, zwischen Methoden der Datenerhebung und der Datenauswertung scharf zu unterscheiden. Nur wenn das der Fall ist, wird man dem gerecht, dass die beiden Klassen von Methoden unabhängig voneinander variieren können. Bei allen beschreibenden Verfahren der Datenerhebung, z. B. den ethnographischen (wie der Name schon sagt), lassen sich, weil die Beschreibungen von intelligenten Subjekten durchgeführt werden und immer schon eine gegenstandsspezifische Interpretation enthalten, die im Grunde eine Dateninterpretation ist, Datenerhebung und Dateninterpretation bzw. -auswertung nicht mehr auseinanderhalten. Daraus resultiert eine vermeidbare, die methodische Geltungsüberprüfung einschränkende Zirkelhaftigkeit.

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Notes

  1. 1.

    Zur systematischen Begründung dieses Argumentes vgl. Oevermann (2004).

  2. 2.

    Vgl. vor allem die diesbezüglich irreführenden Darstellungen der objektiven Hermeneutik von Reichertz (2002; 1994; 1998;1986).

  3. 3.

    3 Vgl. dazu meinen Aufsatz „Selbsterhaltung oder Sublimierung? Odysseus als künstlerischerger Protagonist der Kulturentwicklung“ (Oevermann 1998).

  4. 4.

    Vgl. dazu ausführlicher Oevermann (2000).

  5. 5.

    Hier macht der objektive Hermeneut die übliche Erfahrung, dass ihm diese Verwendung des Vernunftbegriffs als empirisch nicht einlös- und validierbar, mithin als eine petitio principii vorgehalten wird. Darin schlägt sich aber nur das typische subsumtionslogische Denken des Empiristen nieder. Rekonstruktionslogisch gesehen muss man nämlich diesen Vernunftbegriff nicht theoretisch valide definiert haben, um daraus operationale Indikatoren für seine gültige Verwendung zu beziehen. Vielmehr genügt es – und ist auch der forschungspraktisch einzig gangbare Weg - , jeweils in der Konkretion der sequenzanalytisch realisierten Fallrekonstruktion, also in der „Sprache des konkreten Falles“ zu explizieren, was als vernünftig zu gelten hat und was nicht. Das ist jeweils schlüssig durchführbar, indem man sich auf die Wohlgeformtheitsbedingungen konkreter Äußerungen und Handlungen beruft. Das tun wir im übrigen im praktischen Leben beständig, ja, wir können es nur führen, indem wir uns darauf wie selbstverständlich berufen, in der Immanenz dieser konkreten Praxis urteilsfähig zu sein. Dem widerspricht nicht, dass die Inanspruchnahme dieser Urteilsfähigkeit ständig auch Strittigkeiten ausgesetzt ist. Aber diese Strittigkeit setzt ihrerseits das Prinzip voraus, dass sie „in the long run“ sich rational auflösen lässt. Ein so konzipierter Vernunftbegriff entspricht der pragmatistischen Maxime im Sinne von Peirce.

  6. 6.

    In diesem Zusammenhang erweist sich im Übrigen der in der Systemtheorie beliebte Kontingenzbegriff als sehr problematisch, weil er letztlich eine über den Erwartungsbegriff nicht abzudeckende Zukunftsoffenheit meint, die aber darüber hinwegsieht, dass jenseits der subjektiv zuschreibbaren Erwartungen eine dadurch nicht determinierte Zukunft von Vollzügen dennoch sinnlogisch determiniert ist auf der Ebene von latenten Sinnstrukturen der Ausdrucksgestalten dieser Emergenz, die dann über den scheinbaren „Umweg“ ihrer methodischen Erschließung nachträglich als trotz jener Kontingenz auch psychisch motiviert entziffert werden können und müssen.

  7. 7.

    Deswegen ist, was Soziologen selten richtig sehen, die entscheidende Opposition nicht die von Natur und Gesellschaft, sondern die von Natur und Kultur. Kommunikation, also Gesellschaftlichkeit, ist im Sinne von innerartlicher Kommunikation für die Natur der subhumanen Gattungen ebenso zentral wie für die Menschheit. Entscheidend ist, von welcher Stufe an diese Kommunikation sprachlich vermittelt wird und damit den Modus von Kultur eröffnet.

  8. 8.

    Selbstverständlich sind die vielen Versuche in der Forschung, die Vorläufer der sprachlichen Kommunikation zwischen Menschen in der Kommunikation der Primaten gewissermaßen „maximalistisch“ zu bestimmen, instruktiv und sinnvoll, aber sie können doch nicht darüber hinwegsehen lassen, dass genau das, was die Sprache als Regelsystem wesentlich ausmacht: die syntaktische Kompetenz, sich eben nicht nachweisen lässt. Sie kommt exemplarisch in der kategorialen Differenz von infiniten und finiten, d. h. flektierten bzw. konjugierten Verben zum Ausdruck. Aus dem elementaren, infiniten Auxiliar „sein“ z. B., das substantiviert als Nomen gleichzeitig den zentralen Begriff der philosophischen Ontologie abgibt, ergibt sich durch Konjugation u.a. die finite Form „ist“ für die dritte Person Indikativ Präsens, jene elementare Form, die als Kopula für die Bildung der elementaren Satzform „X ist ein P“ nötig ist, in der einem noch unbestimmten Gegenstand X ein bestimmendes Prädikat P zugewiesen wird. Es ist die Grundform der Proposition und der Prädikation und damit die Grundform von Erkenntnis, deren Bildung ohne diese Transformation einer infiniten Verbform in eine finite nicht möglich wäre. Aber genau das ist eine Leistung, die in der subhumanen Kommunikation nicht nachzuweisen ist trotz aller außerordentlichen kognitiven Leistungen, die man bei den Primaten inzwischen festgestellt hat.

  9. 9.

    Dabei entsteht das erkenntnistheoretisch und methodologisch schwierige Problem, inwieweit die Kognition dieser Versprachlichung – unabhängig – vorausgeht, so dass man berechtigt wäre zu behaupten, die wegen des unabgeschlossenen Spracherwerbs noch eingeschränkte Verbalisierungsfähigkeit, die entsprechend dann eine der Kompetenz und nicht nur der Performanz wäre, behindere den Ausdruck jener Kognition. Andererseits fragt man sich, ob eine die sprachliche Realisierung überschießende Kognition anzunehmen wenig plausibel sei, stattdessen durch Versprachlichung überhaupt erst konstituiert werde.

  10. 10.

    Sequenzanalyse und Fallrekonstruktion sind Begriffe, die ursprünglich im Kontext der objektiven Hermeneutik entwickelt wurden, inzwischen aber im gesamten Spektrum der sogenannten „qualitativen Sozialforschung“ geläufig sind, auch und gerade in den Teilen, die der objektiven Hermeneutik kritisch bis ablehnend gegenüberstehen.

Literatur:

  • Oevermann, Ulrich (1998). Selbsterhaltung oder Sublimierung? Odysseus als künstlerischer Protagonist der Kulturentwicklung. Merkur, 52(6), 1–14.

    Google Scholar 

  • Oevermann, Ulrich (2000). Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In Kraimer, Klaus (Hrsg.), Die Fallrekonstruktion. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 58–153

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  • Oevermann, Ulrich (2004). Die elementare Problematik der Datenlage in der quantifizierenden Bildungs- und Sozialforschung. Sozialer Sinn, 5(3), 413–476.

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  • Reichertz, Jo (1986). Probleme qualitativer Sozialforschung. New York. Frankfurt/M.: Campus.

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  • Reichertz, Jo (1988). Verstehende Soziologie ohne Subjekte? Die objektive Hermeneutik als Metaphysik der Strukturen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 40(2), 207–222.

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  • Reichertz, Jo (1994). Von Gipfeln und Tälern – Bemerkungen zu einigen Gefahren, die den objektiven Hermeneuten erwarten. In Garz, D. & Kraimer, K. (Hrsg.), Die Welt als Text. Zur Theorie, Kritik und Praxis der objektiven Hermeneutik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 125–152

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  • Reichertz, Jo (2002). Die objektive Hermeneutik. In König, Eckard, & Zedler, Peter (Hrsg.), Qualitative Sozialforschung. Weinheim & Basel: Beltz, 123–156

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Oevermann, U. (2013). Objektive Hermeneutik als Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt. In: Langer, P., Kühner, A., Schweder, P. (eds) Reflexive Wissensproduktion. Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialpsychologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03112-1_5

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