Zusammenfassung
Pflegearbeit ist interaktive Arbeit: Sie findet in Auseinandersetzung – in Kooperation, in wechselseitiger Abstimmung, manchmal auch in Konflikt – mit einem immer konkreten Gegenüber statt: mit den zu Pflegenden als Interaktionspartnern der Beschäftigten. Natürlich arbeiten nicht nur Pflegekräfte interaktiv. Arbeit in unmittelbarem Kundenkontakt ist in modernen Dienstleistungsgesellschaften weit verbreitet: In einer aktuellen ver.di-Studie geben 65 % der Beschäftigten an, immer oder zumindest oft im direkten Kontakt mit Kunden, Klienten, Mandanten oder Patienten zu arbeiten (vgl. ver.di, Arbeit mit Kunden, Patienten, Klienten. So bewerten die Beschäftigten in den Dienstleistungs-Branchen die Arbeitsbedingungen, 2011). Gleichwohl ist Pflegearbeit gewissermaßen ein Paradefall für interaktive Arbeit. Während etwa in technischen Berufen interaktive Arbeit (z. B. die Verständigung mit dem Kunden über den Inhalt einer technischen Dienstleistung) als zusätzliches Element zu verschiedenen nicht-interaktiven Tätigkeiten hinzutritt (z. B. der Erstellung einer Software), bildet in der Pflege Interaktion den wesentlichen Kern der Tätigkeit. Es wird nicht nur über einen Arbeitsgegenstand interaktiv verhandelt, sondern der Arbeitsgegenstand selbst ist ein Mensch: Pflegearbeit findet somit mit und „am Menschen“ statt. Nicht ohne Grund gelten die klassischen Kontaktberufe im Gesundheits- und Sozialwesen als besonders anschaulicher Fall für interaktive Arbeit.
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Notes
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Das Projekt wurde vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. – ISF München durchgeführt, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds (ESF) unter dem Kennzeichen 01FB08005 von 2008 bis 2012 gefördert und ist Teil des Verbundvorhabens „Professionalisierung interaktiver Arbeit“, an dem darüber hinaus die Hochschule Aalen, die Universität Augsburg, die Technische Universität Chemnitz sowie mehrere Praxispartner beteiligt waren. Zu den Projektergebnissen siehe ausführlich die Beiträge in Dunkel und Weihrich (2012b). Zum Praxisfeld Pflege siehe insbesondere Weihrich et al. (2012).
- 2.
Dabei wurden insgesamt 36 Interviews mit Beschäftigten, Bewohnerinnen und Bewohnern der Seniorenzentren sowie Vertretern aus Seniorenbeirat, Heimaufsicht sowie Bildungsträgern geführt. Hinzu kommen 46 Beobachtungen und Aufgabenanalysen.
- 3.
Interessanterweise wird im Feld der Begriff des „Kunden“ von allen Beteiligten weitgehend abgelehnt, weil er zu sachlich klingt für ein insgesamt sehr persönliches, durch das „Ethos fürsorglicher Praxis“ (Senghaas-Knobloch 2008) und nicht durch „kalte Marktbeziehungen“ geprägtes Verhältnis. Auf der anderen Seite unterstellt der Kundenbegriff aber auch ein Einflusspotenzial der Bewohner, die ihrer Stellung in dem Organisations- und Interaktionsgeflecht Seniorenzentrum in der Realität nur selten entspricht: die Rolle des „König Kunde“. Der in der Praxis verwendete Begriff der Bewohner macht zugleich klar: Während das Heim für die Dienstleistungsfachkräfte „nur“ Arbeitsstätte ist, ist es für die Bewohner Lebenswelt und damit eine noch umfassendere Institution (vgl. Weihrich et al. 2012).
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Man könnte entsprechend folgern, dass die Kontrollinstrumente, mit denen die Pflegekassen und die verantwortlichen staatlichen Stellen die Pflegequalität zu sichern versuchen, gerade zur Kompensation dieser fehlenden Machtpotenziale auf der Seite der personalen Leistungsadressaten dienen.
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Birken, T., Menz, W. (2014). Die Kunden der Pflegekräfte. In: Bornewasser, M., Kriegesmann, B., Zülch, J. (eds) Dienstleistungen im Gesundheitssektor. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02958-6_11
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