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Ursprung und Ausbreitung von Kulturpessimismus in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts

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Part of the book series: Studien zum Weber-Paradigma ((SZWP))

Zusammenfassung

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich quer durch die Schicht der deutschen Intellektuellen erhebliche Skepsis und schwere Befürchtungen hinsichtlich der Moderne generell. Mit wenigen Ausnahmen wetterten die Angehörigen des Bildungsbürgertums über die atomisierte ‚Massengesellschaft‘. Auch die Demokratie wurde angegriffen, denn man glaubte, dass sie alle Unterschiede zwischen den Menschen zu verwischen drohe (von Hartmann 1896).

Übersetzt von Dr. Ursel Schäfer und durchgesehen vom Verfasser.

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Notes

  1. 1.

    Ich verwende den Begriff ‚Kulturwert‘ im Sinne Webers (1985b: 181–82).

  2. 2.

    3 Ob Kulturwerte im Vergleich zu ökonomischen, herrschaftlichen, rechtlichen und andere Faktoren empirisch von größerer oder geringerer Bedeutung sind, ist für Weber eine vollkommen offene Frage, die in jedem Einzelfall aufs Neue empirisch überprüft werden muss. Der besondere Einfluss des Kulturpessimismus auf die deutsche politische und wirtschaftliche Entwicklung – der meines Erachtens kaum zu unterschätzen ist – hat mit dem Thema der vorliegenden Untersuchung nichts zu tun und bedarf gesonderter Erforschung. Im vorliegenden Kapitel geht es um den Ursprung und die Ausbreitung der Werte, die den Kulturpessimismus ausmachen.

  3. 3.

    Daraus folgt, dass die Analyse bis zu einem gewissen Grad auch auf die amerikanischen Gegebenheiten eingehen wird. Von Anfang an muss jedoch betont werden, dass der Vergleich mit Amerika hier ausschließlich einem eng umgrenzten Zweck dient: Ursprung und Ausbreitung des Kulturpessimismus in Deutschland besser zu verstehen. Die Besonderheiten Amerikas werden in diesem Kapitel vielmehr nur angedeutet.

  4. 4.

    Es sei noch einmal wiederholt, dass die Orientierung an Kulturwerten in der vorliegenden Untersuchung keineswegs bedeutet, dass sie mehr Gewicht haben. Thema dieses Beitrags ist die Erforschung einer umgrenzten Frage – Ursprung und Ausbreitung der Konstellation von Kulturwerten, die den Kulturpessimismus ausmachten –, und er geht von der Annahme aus, dass mit dieser Zielsetzung Analysen, die sich auf rein strukturelle Variablen konzentrieren, keinen geeigneten theoretischen Rahmen erbringen. Dies ist allein schon deshalb zu konstatieren, weil die strukturellen Veränderungen im Zuge der Industrialisierung in anderen Ländern keine vergleichbar intensive und nachhaltige Kritik auslösten wie in Deutschland. Diese Untersuchung über den Kulturpessimismus impliziert keineswegs, dass Kultur im Vergleich zu anderen Faktoren empirisch dominieren würde.

  5. 5.

    Mich interessiert in diesem Zusammenhang nicht generell die Entwicklung der Öffentlichkeit im Europa des späten 18. Jahrhunderts (siehe Habermas 1962), sondern die Beziehung zwischen bestimmten Werten der öffentlichen Sphäre in Deutschland, die eng mit der Entstehung und Ausbreitung des Kulturpessimismus zusammenhängen. Diese eingeschränkte Verwendung des Begriffs Öffentlichkeit darf nicht aus dem Blick verloren werden.

  6. 6.

    Mit anderen Worten: Die in Teil II definierten Werte der öffentlichen Sphäre bilden die empirische Basis für die logischen Ableitungen in Teil III.

  7. 7.

    Bedauerlicherweise ist hier keine sehr starke konkurrierende religiöse Strömung – in Deutschland hätte es der Katholizismus sein können – zu verzeichnen. Der lutheranische Glaube war damals in Deutschland die wichtigste Religion. Noch im Kaiserreich waren zwei Drittel der Deutschen Lutheraner (Lowie 1945: 102). Der Katholizismus erreichte erst nach 1945 die Fünfzig-Prozent-Marke. Ich stimme uneingeschränkt Lowies Feststellung zu, „die deutsche Kultur ist hauptsächlich protestantisch geprägt.“ Er sieht ein „unbestreitbares Überwiegen der protestantischen Geisteshaltung…im nationalen Leben“ (1945: 103f.). Versionen des asketischen Protestantismus existierten zwar auch in Deutschland, insbesondere der Pietismus und der Calvinismus, aber sie blieben eng regional begrenzt und ihre Anhängerschaft war immer sehr gering (1945: 102).

  8. 8.

    Zum asketischen Protestantismus gehören vor allem die Quäker, die Baptisten, die Calvinisten, die Presbyterianer, die Pietisten, die Mennoniten und die Methodisten. In Anbetracht der umgrenzten Zielsetzung dieses Beitrags wurde der asketische Protestantismus gleichermaßen aus ‚logischen‘ und methodischen sowie aus empirischen Gründen ausgewählt: Als eindeutiges Gegenmodell zu den deutschen lutheranischen Kulturwerten erlaubt der asketische Protestantismus eine besonders präzise Abgrenzung der zentralen Aspekte des kulturellen Kontextes, die die Entwicklung des Kulturpessimismus begünstigten. Der asketische Protestantismus hatte empirisch in der amerikanischen Geschichte unbestritten große Bedeutung, aber die vorliegende Untersuchung will keine Aussagen über das empirische ‚Gewicht‘ des asketischen Protestantismus gegenüber diesen Werten behauptet. Eine derartige Behauptung würde eine gesonderte Untersuchung verlangen, die den Vereinigten Staaten sehr viel mehr Raum geben und andere wichtige Träger von Kulturwerten in Amerika mit einbeziehen müsste.

  9. 9.

    Dies ist auch heute noch ablesbar am hohen Sozialprestige, das Geschäftsleute in Ländern mit einem starken asketisch-protestantischen Erbe genießen (Schweiz, Holland, die Vereinigten Staaten), im Gegensatz zu dem geringeren Prestige in Ländern ohne ein solches Erbe. In den letztgenannten Ländern ist immer noch die Annahme weit verbreitet, dass die Reichen ihren Reichtum nicht legal und ehrlich erworben haben können.

  10. 10.

    Ob sich das dann auch empirisch bestätigen lässt, ist eine andere Frage.

  11. 11.

    Dies trifft zu, obwohl die einzelnen protestantischen Sekten und Kirchen in sehr unterschiedlichem Grad eher autoritär (Calvinisten) oder eher egalitär (Quäker) verfasst waren (Baltzell: 1979; Hill 1964).

  12. 12.

    Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Begriff Beruf in Deutschland genau wie in den Vereinigten Staaten seine religiösen Wurzeln verloren. Die religiösen Werte starben jedoch nicht aus, sondern bestanden in säkularisierter Form fort, und ihre Pflege wurde zu einem bewussten Ziel von Sozialisierung und Erziehung (Dilthey 1971: 51).

  13. 13.

    Die Mitgliedschaft in einer protestantischen Sekte oder Kirche implizierte natürlich nach wie vor Ehrlichkeit, wie Weber in seinen bekanntesten Aufsätzen über Amerika schreibt (1988c, 2004b). Noch 1904 führten Zahnarztpatienten als Beweis ihrer Ehrlichkeit und ihrer Zahlungswilligkeit ihrem Zahnarzt gegenüber den Umstand an, dass sie einer protestantischen Sekte oder Kirche angehörten.

  14. 14.

    15 In dieser Analyse soll die Existenz echter demokratischer Bewegungen und Verfahren auf lokaler und kommunaler Ebene nicht bestritten werden. Gewisse deutsche Regionen und Städte besitzen eine Tradition der Selbstregierung, die bis ins Mittelalter zurückreicht (Bendix 1980, Bd. 2: 213–19).

  15. 15.

    In seiner reinsten Form findet dieses Ideal Ausdruck in den Schulbüchern, die im staatsbürgerlichen Unterricht der höheren Schulen von 1900 bis 1940 verwendet wurden (Cleveland 1927; Smith 1904; Snedden 1932; Ross 1925: 197–358), aber auch in Grundschulbüchern (Cabot et al 1914; Dunn und Harris 1919). In Deutschland gab es keine vergleichbaren Unterrichtswerke. Natürlich bleibt die Frage zu untersuchen, ob das Ideal auch in der realen Welt verwirklicht wurde.

  16. 16.

    Es kann gar nicht genug betont werden, dass hier nicht versucht wurde, ein vollständiges Bild der amerikanischen Situation zu zeichnen. Die amerikanische Öffentlichkeit in der vorindustriellen Zeit und im Industriezeitalter wurde nur mit dem einzigen heuristischen Ziel betrachtet, die Besonderheit der deutschen Kulturwerte der öffentlichen Sphäre um so klarer hervortreten zu lassen.

  17. 17.

    Ein vergleichbares Genre wie die ‚Erfolgsgeschichten‘ von Horatio Alger, die in immer neuen Variationen vom armen Jungen erzählten, der es mit Fleiß und Beharrlichkeit zum Millionär bringt, gab es in Deutschland nicht.

  18. 18.

    Wieder sei betont, dass die weiter oben vorgelegte Zusammenstellung von wichtigen Kulturwerten der öffentlichen Sphäre in den Vereinigten Staaten um die Jahrhundertwende und die weiter unten folgende Untersuchung der Beziehung zwischen den beiden Bereichen nicht als Versuch einer umfassenden Analyse der amerikanischen Erfahrung verstanden werden darf, und es soll nicht einmal der Eindruck erweckt werden, dass die hier gewählte Form der Darstellung die einzig mögliche ist. Diese Form wurde nur gewählt, weil sie heuristisch besonders nützlich ist, um die Besonderheiten des deutschen Falles herauszuarbeiten.

  19. 19.

    Das soll nicht heißen, dass es in Deutschland keine Orientierung an Werten gegeben hätte. Die unpersönlichen Werte, die zur Statusethik der Beamten gehörten (Pflichterfüllung, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, die disziplinierte Ausführung von Aufgaben, Respekt vor Autoritäten) dienten beispielsweise genau diesem Zweck, und das Gleiche gilt für die Werte, die generell mit der Vorherrschaft Preußens verbunden waren: Respekt vor und Treue zum Staat. Die vorliegende Untersuchung impliziert auch nicht, dass Herrschaft, Macht, formale Konventionen, rein materielles Nutzenkalkül und Gesetze in den Vereinigten Staaten keine Bedeutung gehabt hätten. Vielmehr ist es unser Anliegen, zu einer klaren Gewichtung zu kommen, wie die unterschiedlichen Handlungsorientierungen in den beiden Ländern potenziell die öffentliche Sphäre durchdringen konnten. Die hier verwendete vergleichende Perspektive deutet darauf hin, dass in Deutschland in der öffentlichen Sphäre Herrschaft eine größere Rolle spielte und in Amerika diffuse Ideale bestimmend waren.

    Parsons Neigung, die, value-generalization‘ und die Schaffung einer umfassenden normativen Ordnung als funktionale Begleiterscheinung und sogar als unverzichtbar für die strukturelle Differenzierung zu betrachten (1975: 25; 1972: 20f., 29f.; 1971a: 126–32), scheint im Licht der vorliegenden Untersuchung viel zu stark an den amerikanischen Verhältnissen ausgerichtet. (Dieses Ergebnis ist umso bemerkenswerter, als Parsons mit der deutschen Gesellschaft vertraut war [1964: 256ff.].) Der Ansatz, an dem wir uns in der vorliegenden Untersuchung orientieren, sieht Werte als nur ein mögliches Mittel neben vielen anderen, die öffentliche Sphäre zu ‚regulieren‘. Darüber hinaus muss bemerkt werden, dass Werte, also wirkungsmächtige Faktoren, in dieser Fallstudie nicht als Ergebnis einer allgemeinen evolutionären Entwicklung (wie bei Parsons) entstehen, sondern in Bezug auf eindeutige Gruppen und Organisationen, die in der Lage sind, als ihre Träger in Erscheinung zu treten. Zwar setzt Parsons die Bedeutung von Werten voraus, doch sein Ansatz verharrt auf einer zu abstrakten und zu deskriptiven Ebene, als dass er für diese Untersuchung hätte von Nutzen sein können: Die These der value-generalizations impliziert, dass die Werte, die zu diesem Prozess gehören, über verschiedene modernisierte Gesellschaften hinweg in einem hohen Grad homogen sind. Parsons‘ Ansatz liefert keine Hinweise, wie Werte sich von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheiden– und deshalb ist er ungeeignet für unsere Thema. In Anbetracht der Tatsache, dass Parsons in dem Ruf steht, in erster Linie Kulturtheoretiker zu sein, entbehrt diese Feststellung nicht der Ironie.

  20. 20.

    Selbst heute erwecken Deutsche bei Ausländern den Eindruck, sie seien sehr formell. Doch dieses Klischee spiegelt vor allem ihr Verhalten im öffentlichen Bereich wider und vernachlässigt den privaten Bereich, in dem ein vollkommen anderes Ethos herrscht (siehe Kalberg 2000a).

  21. 21.

    Hierbei spielten die latent mystischen Züge des Luthertums eine Rolle.

  22. 22.

    Und auch in den Vereinigten Staaten. Wenn man die gegenwärtige Situation in dem konzeptuellen Rahmen betrachtet, der in dieser Untersuchung verwendet wird, sprechen die Entwicklungen der letzten zehn Jahre für eine Wiederbesinnung auf die und Wiederbelebung der traditionell von wechselseitiger Durchdringung gekennzeichneten Beziehung zwischen öffentlichem und privatem Bereich. Zum Beispiel begegnet in Amerika die Generation der in spezifiden den sechziger Jahren im Arbeitsleben Stehenden der Berufstätigkeit und ihren Anforderungen keineswegs mit Skepsis, sondern sie legen bei der Erziehung ihrer Kinder womöglich noch größeren Wert auf Leistung, als sie es in ihren eigenen Elternhäusern erlebt haben. Auch die jüngsten Turbulenzen im politischen Bereich haben nicht die Grundlage für eine radikale Kritik der Werte dieses Bereichs und für einen Rückzug ins Privatleben gelegt. Die Rückkehr zur traditionellen Konstellation – wechselseitige Durchdringung von Öffentlichem und Privatem – hat in den Vereinigten Staaten stattgefunden, obwohl sich die öffentliche Sphäre radikal ausgeweitet hat und Produkte der öffentlichen Sphäre in einer Intensität wie in keinem anderen Land gegenwärtig sind.

  23. 23.

    24 Wiederum führt die Frage, in welchem Ausmaß sie wirtschaftliche und politische Entwicklungen beeinflusst haben, über den Rahmen unserer Untersuchung hinaus. Vielleicht hat sie dazu beigetragen, einige plausible Hypothesen zu formulieren, vor allem mit Blick auf Entwicklungen in der öffentlichen Sphäre in Deutschland.

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Kalberg, S. (2013). Ursprung und Ausbreitung von Kulturpessimismus in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Deutschland und Amerika aus der Sicht Max Webers. Studien zum Weber-Paradigma. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02840-4_3

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