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Narrative Formen in Geschichtspolitik und Erinnerungskultur

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Narrative Formen der Politik

Zusammenfassung

Erzählen ist grundlegend für Verständnis und Erschließung von Wirklichkeit. Als allgemeines Organisationsprinzip der Selbstwahrnehmung, der Weltaneignung und der Identitätsproduktion hat Narrativität strukturbildende Funktion für menschliches Handeln und Bewusstsein. Die Unübersichtlichkeit (lebens-)geschichtlicher Erlebnisse und die mit ihnen verbundenen Kontingenzerfahrungen werden in den Prozessen ihrer narrativen Wahrnehmung und Verarbeitung zu Verständlichkeit, Plausibilität und Zielgerichtetheit transformiert. Der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit kommen somit erst durch ihre narrative Erfassung und Gestaltung die Kohärenz, Kausalität und Sinnhaftigkeit einer Geschichte zu. Indem Erzählen Realität verdichtet, wandelt es Geschehen in Geschichten um, die dann als Gegenstand der Erinnerung zu Geschichte gerinnen können. Der Beitrag geht der Frage nach, wie im Erzählen von Geschichten, die in einem von mehreren Individuen geteilten Gedächtnis aufbewahrt werden, die narrativen Formen von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur Gemeinschaftlichkeit und kollektive Identität konstituieren sowie politische Legitimität produzieren.

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Notes

  1. 1.

    The Nobel Prize in Literature, in: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/(30.3.2013).

  2. 2.

    The Nobel Prize in Literature 1902, in: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1902/[30.3.2013].

  3. 3.

    etwa Genette (1998, S. 15–20); Abbott (2008, S. 339 f.); Ryan (2008, S. 344–347); Aumüller (2012, S. 141–144, 158–161).

  4. 4.

    Diese Eigenschaft der Diskontinuität rückt Charlotte Linde (2008, S. 278) sogar ins Zentrum ihres Verständnisses von Lebensgeschichten, wenn sie „life story“ definiert als „a temporally discontinuous unit of all the stories told by an individual during the course of his/her lifetime“.

  5. 5.

    Christian Klein und Matías Martínez (2009, S. 1, 6) unterscheiden idealtypisch diese drei Formen von „Wirklichkeitserzählungen“ als den „Erzählungen mit unmittelbarem Bezug auf die konkrete außersprachliche Realität“ und weisen den deskriptiven Wirklichkeitserzählungen einen Geltungsanspruch in Orientierung an der Dichotomie „wahr vs. falsch“ zu, den normativen Wirklichkeitserzählungen an der Dichotomie „richtig handeln vs. falsch handeln“ und den voraussagenden Wirklichkeitserzählungen an der Dichotomie „plausibel vs. unplausibel“. Die „Rekonstruktionen von Ereignissen in der Geschichtsschreibung“ werden von den beiden Autoren ohne weitere Problematisierung den deskriptiven Wirklichkeitserzählungen zugeordnet.

  6. 6.

    White (1991, S. 15 f., 163, 556; Ders. 1986, S. 7, 88, 101, 145, 152). Anfang der 1970er Jahre hat Harald Weinrich (1973, S. 521) darauf hingewiesen, dass “in der Geschichtsschreibung erzählende und besprechende […] Strukturen kombiniert werden.” Bei demselben Anlass, einem Kolloquium der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik, warnte allerdings auch Christian Meier (1973, S. 576f.) davor, die Analogie “zwischen politischem Ereignis und Kunstwerk” über die Feststellung, dass “beide bedeutungsoffen sind”, hinaus zu treiben, und postulierte: “Geschichte liegt im Gegensatz zum Kunstwerk nie als ein Text vor uns, sondern es liegen bestenfalls Texte vor uns, durch wir zu dem, was wir von der Geschichte noch fassen können, hindurchzukommen versuchen müssen.”

  7. 7.

    Rüth 2012, S. 21, 23. Auch wird in diesem Beitrag Whites Ansatz in etwas verzerrender Weise dargestellt: So wird dem in Santa Cruz und an der Stanford University lehrenden Amerikaner vorgehalten, seine „Behauptung, historiographische Texte seien narrative Konstrukte, die keinen größeren Anspruch auf Wahrheit hätten als fiktional-literarische Erzählungen, rückte fiktionale Literatur und Geschichte in extreme Nähe zueinander“ (Rüth 2012, S. 21). Unbeachtet bleibt dabei Whites Klarstellung, dass „historische Ereignisse sich von fiktionalen Ereignissen in eben der Weise unterscheiden, wie dies in der Nachfolge von Aristoteles immer wieder beschrieben worden ist. Historiker haben es mit Ereignissen zu tun, die einem bestimmten raum-zeitlichen Ort zugewiesen werden können, Ereignissen, die im Prinzip beobachtbar sind oder wahrnehmbar sind (oder waren), während Autoren fiktionaler Literatur – Dichter, Romanautoren, Dramatiker – es sowohl mit jener Art als auch mit vorgestellten, hypothetischen oder erfundenen Ereignissen zu tun haben.“ Was ihn hingegen interessiere, sei „die Frage, inwieweit der Diskurs des Historikers und der des Autors fiktionaler Literatur sich überschneiden, Ähnlichkeiten aufweisen oder einander entsprechen“ (White 1986, S. 145).

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Bergem, W. (2014). Narrative Formen in Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. In: Hofmann, W., Renner, J., Teich, K. (eds) Narrative Formen der Politik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02744-5_3

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