Zusammenfassung
Das deutsche Gesundheitssystem ist durch eine Ausdifferenzierung in einzelne Teilsysteme gekennzeichnet, die ihrerseits unterschiedlichen Handlungslogiken folgen. Bei gesundheitlichen Problemen ist es jedoch in vielen Fällen notwendig, unterschiedliche Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen und dementsprechend zu verbinden. Hierdurch entstehen besondere Anforderungen an die Koordination unterschiedlicher Akteure und Leistungen im Gesundheitssystem. Aufgrund von heterogenen und individuellen Problemlagen sind dabei standardisierte Konzepte einer integrierten Versorgung nur sehr begrenzt anwendbar.
Am Beispiel der neurologischen Erkrankung ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) werden exemplarisch Anforderungen an die fallspezifische Koordinierung von Gesundheitsdienstleistungen beschrieben und zwei Lösungsansätze vorgestellt, mit denen die Koordinierung bewältigt und PatientInnen unterstützt werden. Sowohl beim „systemischen“ als auch beim „subjektorientierten“ Lösungsansatz kommt der Interaktionsarbeit eine zentrale Rolle bei der Übernahme der Koordinierungsarbeit im ALS-Dienstleistungssystem zu. Ihre besonderen Bestandteile gilt es deshalb anzuerkennen und durch geeignete Maßnahmen zu fördern.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Am Forschungsverbund waren die Universität Augsburg, das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, die ALS-Ambulanz der Charité in Berlin, die Universität Leipzig sowie die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e. V. (DGM) beteiligt. Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse stammen aus dem Teilprojekt der Universität Augsburg. Untersucht wurden die Interaktionsarbeit von verschiedenen Berufsgruppen und ihr Beitrag für das Gelingen des Dienstleistungsprozesses.
- 2.
- 3.
Zur detaillierten Beschreibung beider Lösungsansätze siehe den Abschlussbericht des Teilprojektes der Universität Augsburg (Böhle et al. 2011).
- 4.
Siehe www.dgm.org.
- 5.
Der hier auftauchende Interessengegensatz zwischen Kostenträgern und PatientInnen ist durch ein grundlegendes Machtungleichgewicht geprägt, da ALS-PatientInnen, z. B. im Falle einer abgelehnten Leistung, nur der Weg der gerichtlichen Auseinandersetzung bleibt, wenn sie ihre Interessen wahren wollen. Dieser Weg kann, beispielsweise bei einem teuren Hilfsmittel, sehr zeitaufwendig werden. Insofern ist eine Klage vor dem Sozialgericht für ALS-Patienten meist keine realistische Option, da sie viele Leistungen unmittelbar benötigen.
- 6.
So haben z. B. Maßnahmen zum Gesundheitsschutz nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitenden sondern immer auch auf die KundInnen und KlientInnen. Vgl. hierzu Böhle (2011) und das gegenwärtige laufende, von der HBS finanzierte Projekt zur Arbeitsgestaltung bei Interaktionsarbeit (www.boeckler.de/11145.htm?projekt=S-2011-512-3#kontakt).
Literatur
Amelung, E. V., Sydow, J., & Windeler, A. (Hrsg.). (2009). Vernetzung im Gesundheitswesen. Wettbewerb und Kooperation. Stuttgart: Kohlhammer.
Böhle, F. (2009a). Weder rationale Reflexion noch präreflexive Praktik – erfahrungsgeleitet- subjektivierendes Handeln. In F. Böhle & M. Weihrich (Hrsg.), Handeln unter Unsicherheit (S. 203–228). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Böhle, F. (2009b). Erfahrungswissen – Wissen durch objektivierendes und subjektivierendes Handeln. In A. Bolder & R. Dobischat (Hrsg.), Eigen-Sinn und Widerstand. Kritische Beiträge zum Kompetenzentwicklungsdiskurs (S. 70–88). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Böhle, F. (2011). Interaktionsarbeit als wichtige Arbeitstätigkeit im Dienstleistungssektor. WSI-Mitteilungen, 64, 456–461.
Böhle, F., & Bolte, A. (2002). Die Entdeckung des Informellen. Der schwierige Umgang mit Kooperation im Arbeitsalltag. Frankfurt a. M.: Campus.
Böhle, F., Merl, T., & Stöger, U. (2011). Koordination durch Interaktion – Neue Perspektiven für die Organisation komplexer Dienstleistungssysteme. Eine Untersuchung am Beispiel der Gesundheitsversorgung bei ALS (Amyotrophe Lateralsklerose). Stuttgart: Fraunhofer Verlag.
Bolte, A., & Porschen, S. (2006). Die Organisation des Informellen. Modelle zur Organisation von Kooperation im Arbeitsalltag. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bruhnke, D. (2008). Netzwerkmanagment und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen. In E. Häusler (Hrsg.), Entwicklungslinien im Gesundheitswesen. Demographie und Integrierte Versorgung (S. 163–220). Sternenfels: Verlag Wissenschaft & Praxis.
Dunkel, W., & Rieder, K. (2004). Interaktionsarbeit zwischen Konflikt und Kooperation. In W. Dunkel & G. Voß (Hrsg.), Dienstleistung als Interaktion. Beiträge aus einem Forschungsprojekt. Altenpflege, Deutsche Bahn, Call Center (S. 211–226). München: Hampp.
Dunkel, W., & Weihrich, M. (2010). Arbeit als Interaktion. In F. Böhle, G. G. Voß, & G. Wachtler (Hrsg.), Handbuch Arbeitssoziologie (S. 177–200). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Ewers, M. (2005). Krankenhausbasiertes Case-Management als Baustein einer integrierten Versorgung. In B. Badura & O. Iseringhausen (Hrsg.), Wege aus der Krise der Versorgungsorganisation (S. 156–166). Bern: Huber.
Goffman, E. (1959). The presentation of self in everyday life. New York: Anchor Books.
Hochschild, A. R. (1979). Emotion work, feeling rules, and social structure. American Journal of Sociology, 85, 551–575.
Hochschild, A. R. (1983). The managed heart: Commercialization of human feeling. Berkeley: University of California Press.
Jenzer, G., & Balmer, S. (2008). In der Überlebensfalle. Erfahrungen einer ALS-Patientin. Basel: Schwabe.
Nassehi, A. (2003). Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Rekittke, A. (2011). „Integrierte Versorgung“. Qualitätsdefizite im Gesundheitssystem. Hamburg: VSA.
Strauss, A., Fagerhaugh, S., Suczek, B., & Wiener, C. (1980). Gefühlsarbeit. Ein Beitrag zur Arbeits- und Berufssoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 32, 629–651.
Voß, G. G., & Rieder, K. (2005). Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Campus.
Wendt, W. R. (2010). Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine Einführung (5., überarbeitete Aufl.). Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2015 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Böhle, F., Stöger, U., Merl, T. (2015). Interaktionsarbeit zur Koordination in gesundheitsbezogenen Dienstleistungsnetzwerken. In: Becke, G., Bleses, P. (eds) Interaktion und Koordination. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02460-4_9
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-02460-4_9
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-02459-8
Online ISBN: 978-3-658-02460-4
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)