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Risse im »stahlharten Gehäuse«

Ist der Mensch bei Sartre wirklich in jeder Situation frei?

  • Chapter
Offene Ordnung?

Part of the book series: Wissen, Kommunikation und Gesellschaft ((WISSEN))

Zusammenfassung

Wenn aus philosophischer oder soziologischer Perspektive nach der Situation von Menschen gefragt wird, so interessiert man sich offensichtlich für die Gebundenheit an bestimmte materielle oder soziale Verhältnisse und Gegebenheiten, die das Denken und Handeln der Menschen ohne ihren Willen und selbst gegen ihren Willen beeinflussen und lenken. Wenn man darüber etwas (und auch mehr) erfahren will, scheint es zunächst wenig sinnvoll, ausgerechnet bei Jean-Paul Sartre nachzuschlagen.

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Notes

  1. 1.

    Und in diesem Sinne bedient und reflektiert dieser Beitrag programmatisch die von Ziemann (in der Einleitung) vorgegebene Schnittstelle der Situationsanalyse zwischen Philosophie und Soziologie.

  2. 2.

    Diese idealtypische Gegenüberstellung ist sicher hilfreich, dennoch bringt sie die Probleme mit sich, die mit einer solchen schematischen Zuspitzung wohl nicht zu vermeiden sind. Denn selbst bei Fichte ist das Ich nicht einfach nur ein Produkt seiner Setzung: »Mich selbst an sich aber habe ich nicht gemacht, sondern ich bin genötigt, mich als das zu Bestimmende der Selbstbestimmung voraus zu denken. Ich selbst also bin mir ein Objekt, dessen Beschaffenheit unter gewissen Bedingungen lediglich von der Intelligenz abhängt, dessen Dasein aber immer vorauszusetzen ist« (1984: 10). Ich setze nicht einfach nur mein Ich, sondern ein Ich zu sein, ist gewissermaßen selbst auch schon ein Sonderfall von Geworfenheit.

  3. 3.

    Es fehlt allerdings in der Forschungsliteratur zu »Das Sein und das Nichts« auch nicht an kritischen Stimmen, die einen diametral entgegengesetzten Vorwurf erheben und der Ansicht sind, Sartre falle letztlich aufgrund des An-sich-seins in einen naiven Objektivismus und Realismus zurück (vgl. z. B. Bubner 1964).

  4. 4.

    Siehe dazu seinen Beitrag im vorliegenden Sammelband.

  5. 5.

    Dies gilt allerdings nicht von jeder Reflexion: Sartre unterscheidet die reine von der komplizenhaften Reflexion (vgl. z. B. 1982b: 82, 88-90; 1991a: 295).

  6. 6.

    Siehe hierzu Simone de Beauvoirs kritische Selbstbeschreibung: »Wir hatten von der Freiheit eine praktische, unverrückbare Vorstellung. Unser Fehler bestand darin, daß wir sie nicht in angemessenen Grenzen hielten: wir klammerten uns an das Bild der Kantschen Taube: die Luft, die ihr Widerstand leistet, hemmt nicht ihren Flug, sie trägt sie. Das Bestehende erschien uns als Werkstoff unserer Anstrengungen, nicht als ihre Voraussetzung: wir glaubten von nichts abhängig zu sein« (1994: 17).

  7. 7.

    Obwohl das Für-sich bei Sartre selbst in Ketten frei ist, wird die reale Befreiung nicht überflüssig: »Dennoch ist es dieser freie Mensch, der befreit werden muß durch Erweiterung seiner Wahlmöglichkeiten. In bestimmten Situationen ist nur für Alternativen Raum, deren eine der Tod ist. Wir müssen es so weit bringen, daß der Mensch unter allen Umständen das Leben wählen kann« (1986: 168 f.).

  8. 8.

    Aus Sartres Konzeption des Praktisch-Inerten folgt, dass die Menschen sich niemals vom Praktisch-Inerten befreien können, solange sie handeln, also die Materie bearbeiten. Offenbar ist das Praktisch-Inerte ein ewiges Schicksal des Menschen, das ebenso verhängnisvoll wie unausweichlich ist. Während Sartre dazu tendiert, das Praktisch-Inerte zu dämonisieren, hat Arnold Gehlen in seiner Institutionenlehre (vgl. 2004) die Verselbstständigung und Verfestigung des Handelns gegenüber dem Handelnden positiv als Stabilisierung, Entlastung und Orientierung für den Menschen gewertet. Anders als Sartre, für den das Praktisch-Inerte unentrinnbar ist, befürchtet Gehlen jedoch, dass es im Zuge kultureller Entwicklungen zur Auflösung der Institutionen kommt, die das menschliche Mängelwesen in einen heillosen Subjektivismus stürzen würde.

  9. 9.

    Sartre versteht also als eine Konstante der Naturbeherrschung, was Adorno (vgl. 1997a) vor allem der verwalteten Welt des Spätkapitalismus zur Last legt. Wenn Adorno mit der »Kritik der dialektischen Vernunft« vertraut gewesen wäre, so hätte er sicher gegen Sartre den Vorwurf einer Naturalisierung der Entfremdung erhoben.

  10. 10.

    Das Klassen-sein definiert Sartre »als einen praktisch-inerten Status der individuellen oder gemeinsamen Praxis, als der zukünftige und im vergangenen Sein versteinerte Urteilsspruch, den diese Praxis selbst verwirklichen und in dem sie sich schließlich in einer neuen Erfahrung der Notwendigkeit wiedererkennen muß« (1980b: 264).

  11. 11.

    Siehe hierzu auch Adorno (1997b: 450): »Der technische Arbeitsprozeß […] formt die Subjekte, die ihm dienen, und zuweilen ist man versucht zu sagen, er bringe sie geradezu hervor. Wenn im Ernst von der Bedrohung des Menschen die Rede sein kann, dann einzig in dem Sinne, daß die Weltverfassung es bereits verhindert, daß in ihr jene sich entwickeln, die fähig wären, sie zu durchschauen und daraus die rechte Praxis abzuleiten«.

  12. 12.

    Dennoch setzt andererseits, wie Sartre hervorhebt, selbst die Knechtschaft des Menschen noch seine Freiheit voraus: »es trifft zu, daß selbst der Sklave in der schlimmsten Unterdrückung die Synthese des praktischen Feldes vollziehen kann und muß und sei es, um seinem Herrn besser zu gehorchen« (1980b: 612, Fn. 1). »Denn der Zwang schaltet die Freiheit nicht aus (außer durch Liquidierung der Unterdrückten). Er macht sie zu ihrer Komplizin, indem er ihr keinen anderen Ausweg als den Gehorsam läßt« (1980b: 780).

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Bonnemann, J. (2013). Risse im »stahlharten Gehäuse«. In: Ziemann, A. (eds) Offene Ordnung?. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01528-2_3

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