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Der Postdemokratie-Diskurs

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Part of the book series: Kritische Studien zur Demokratie ((KSTD))

Zusammenfassung

Zum Zweck der theoretischen Verortung des Postdemokratie-Diskurses ist es zunächst sinnvoll, den historischen Kontext zu skizzieren, unter dem die postdemokratischen Krisendiagnosen formuliert wurden: Nie zuvor schien das liberale Demokratiemodell anderen Regierungs- und Staatsformen so überlegen zu sein wie es in den ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges der Fall war. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich nicht nur die militärische Bedrohungslage für die westlichen Demokratien schlagartig, auch der ideologische Kampf zwischen Sozialismus und Demokratie schien zugunsten des liberalen Modells entschieden worden zu sein. Doch die Euphorie über die viel versprechende Zukunft der Demokratie westlichen Vorbilds und ihre friedensstiftende Kraft, die viele Politikwissenschaftler verspürten und die ihren wohl prägnantesten Ausdruck in Francis Fukuyamas berühmter These vom „End of History“ fand (Fukuyama 1989, 1992), hielt nur kurz an. Bereits in den 1990er Jahren mündete die politikwissenschaftliche Diskussion über die Gegenwart und Zukunft der Demokratie wieder häufiger in Krisendiagnosen, wobei die Rede von der „Postdemokratisierung“ seit einigen den entsprechenden Diskurs beherrscht.

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Notes

  1. 1.

    Diese Fokussierung trifft in der wissenschaftlichen Diskussion der 1990er Jahre in besonderer Weise, jedoch nicht nur, auf die Governance-Forschung zu. Auch anhand von Wolfgang Merkels Begriff der „defekten Demokratie“ kann sie verdeutlicht werden: Merkel et al. definieren defekte Demokratien als „Herrschaftssysteme, die sich durch das Vorhandensein eines weitgehend funktionierenden demokratischen Wahlregimes zur Regelung des Herrschaftszugangs auszeichnen, aber durch Störungen in der Funktionslogik eines oder mehrer der übrigen Teilregime die komplementären Stützen verlieren, die in einer funktionierenden Demokratie zur Sicherung von Freiheit, Gleichheit und Kontrolle unabdingbar sind“ (Merkel et al. 2003, S. 66).

  2. 2.

    In einem anderen, gelegentlich im Kontext der Area Studies verwendeten, Verständnis wird unter dem Begriff der ‚Postdemokratisierung‘ die Aufgabe des unbedingten Ziels der Demokratisierung als Ziel internationalen politischen Handelns verstanden. Valbjorn und Bank (2010) sprechen in diesem Kontext vom Ende der „demo-crazyness“. Dieser Postdemokratiebegriff hat jedoch keine inhaltlichen Bezüge zu den Arbeiten der hier diskutierten Theoretiker und wird daher im Folgenden nicht weiter untersucht.

  3. 3.

    Mit Blick auf Rancières Demokratiebegriff mag die Rede von einem geteilten Demokratieverständnis der drei Autoren zunächst fraglich erscheinen. Selbstverständlich distanziert sich Rancières Terminologie, die im institutionellen Setting bestenfalls vage Hinweise auf die Demokratiehaftigkeit eines politischen Systems vermutet, in vielerlei Hinsicht von den Beschreibungen Crouchs, Wolins und vieler anderer Autoren. Dennoch kann festgehalten werden, dass er ein auf Gleichheit zielendes Demokratieverständnis hat bzw. dass Politik für ihn durch die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen begründet wird (vgl. May 2008, S. 38 ff.; Niederberger 2009, S. 105) und insofern unter anderem in dieser Hinsicht gut mit Crouch und Wolin vergleichbar (siehe Abschn. 2.4).

  4. 4.

    Crouch bezeichnet diesen Prozess als „parabelförmige“ Entwicklung. Dieser Begriff erscheint jedoch unglücklich gewählt, da der Begriff der Parabel im mathematischen Sinne einen Kegelschnitt beschreibt, der folglich achsensymmetrisch zum Scheitel der Parabel ist. Diese Symmetrieanforderung (die bedeuten würde, dass die Demokratisierungs- und Postdemokratisierungszeiträume gleich lang sind) erfordert Crouchs Theorie jedoch nicht (zumindest finden sich in seiner Beschreibung keine Hinweise auf eine solche Bedingung). Stattdessen beschreibt Crouch de facto eine kurvenförmige Entwicklung im Zeitverlauf, die ein globales Maximum erreicht.

  5. 5.

    Eine in dieser Hinsicht theoretisch anspruchsvollere, wenngleich auf anderen empirischen Beobachtungen bzw. Krisendiagnosen beruhende, Diskussion der Konsequenzen neoliberaler Hegemonie für die demokratische Qualität in Deutschland und anderen westlichen Demokratien hat beispielsweise Ingeborg Maus (1991) mit dem Begriff des „Neofeudalismus“ vorgelegt.

  6. 6.

    Entsprechend widersprechen Ereignisse wie die Proteste der Bürger gegen das Bauprojekt „Stuttgart 21“ Crouch Postdemokratie-Beschreibungen eher, als dass sie von ihnen prognostiziert werden würden.

  7. 7.

    So bezeichnet Crouch beispielsweise die ökologische Bewegung als eine ehemals neue soziale Identität.

  8. 8.

    Dieser Entwicklungsprozess hat Inkonsistenzen in dem Gebrauch einiger Termini im Kontext des Gesamtwerkes zur Folge, die die Rezeption von Rancières Werk erschweren. Für eine genaue Analyse der Modifikationen in der Begrifflichkeit zwischen „On the Shores of Politics“ (2007 [1992]) und „Disagreement“ (1999) siehe Dean (2009, S. 28 ff).

  9. 9.

    Richard Steurer hat für die im Suhrkamp-Verlag erschienene deutsche Übersetzung den Titel „Das Unvernehmen“ (2002) und nicht die direkte Übersetzung des Wortes „die Unstimmigkeit“ oder „Uneinigkeit“ gewählt. Steurers Neologismus konstruiert einen Gegensatz zum von Rancière kritisiterten Einvernehmen als normativem Ziel der Demokratietheorie – dennoch erscheint er angesichts der Vielzahl inhaltlich passender, etablierter Begrifflichkeiten wie Dissens, Uneinigkeit etc. unnötig verwirrend.

  10. 10.

    Als eine Ausnahme erscheint hier das Buch „Hatred of Democracy“, an dessen Anfang eine kurze Auseinandersetzung mit dem Marxismus stattfindet (2009 [2005], S. 2 f.).

  11. 11.

    Für umfangreichere Darstellungen zu diesen Begrifflichkeiten vgl. Rancière (1995, S. 61 ff.), Niederberger (2004), Heil und Hetzel (2006) oder May (2008, S. 43 f.).

  12. 12.

    Vergleiche beispielsweise die Arbeiten von Chantal Mouffe (1993, 2007) oder Ernesto Lauclau (1990).

  13. 13.

    Rancière versteht also pauschal jede „politische“ Erschütterung der gesellschaftlichen Ordnung als Ausdruck der Subjektivierung. Diese Parteinahme ist in der Literatur zu Recht Gegenstand von Kritik geworden (vgl. Marchart 2010, S. 183 ff.; Niederberger 2004, S. 142). Sie beruht auf der impliziten Annahme, dass die Verstärkung bestehender Machtungleichgewichte keine im Rancière’schen Sinne „politische“ Entwicklung ist. Er begreift solche Prozesse als Stärkung der polizeilichen Ordnung, womit sie entpolitisierend wirken.

  14. 14.

    Rancière hat sich, unabhänig von seiner Auseinandersetzung mit der deliberativen Demokratietheorie, schon früh mit sprachphilosophischen Ansätzen und ihrem emanzipatorischen Ertrag für die Gesellschaft(-stheorie) auseinandergesetzt (vgl. Rancière 1983, 1991 [1987]). Seine Kritik am habermasianischen Denken bezieht sich also nicht auf deren sprachphilosophische Grundlegung, sondern auf die daraus abgeleitete Konsensorientierung.

  15. 15.

    Douglas Lummis ist in seinen Überlegungen zur radikalen Demokratietheorie eine besonders treffende Beschreibung des Verhältnisses zwischen institutionellem Arrangement und Politik bzw. Demokratie in dieser Theorieströmung gelungen. Er vergleicht Demokratie dabei mit Kunst: „As an art, democracy is a performance art, like music, dance, and theater. Societies can build theaters, can organize orchestras and troupes of dancers and players, but the art itself exists only while it is being performed“ (Lummis 1996, S. 159 f.). Auch ohne entsprechende Institutionen besteht die Möglichkeit, dass künstlerisches bzw. demokratisches Handeln stattfindet, ihr Vorhandensein kann jedoch dazu beitragen, die Häufigkeit von Kunst bzw. Demokratie zu erhöhen, ihre Sichtbarkeit und den Zugang verschiedener Bevölkerungsgruppen dazu zu verbessern.

  16. 16.

    Wie bereits dargestellt wurde, kann man Rancière jedoch nicht im strengen Wortsinne als Anarchisten bezeichnen, da er den Staat bzw. die Polizei zwar herrschaftskritisch durchleuchtet, jedoch gleichzeitig für unvermeidlich hält.

  17. 17.

    In der deutschen Übersetzung von „Disagreement“ ist an dieser Stelle von „Aspekten“ der Demokratie die Rede (vgl. Rancière 2002, S. 109 ff.), was jedoch m. E. den Aspekt des Zusammenwirkens der drei „Stellschrauben“ des Demokratischen nur unzureichend zur Geltung bringt. An einer anderen Stelle (Rancière 1996b, S. 125) spricht die Übersetzung von „drei Termen“, welche die Demokratie schematisieren, was aber aus ähnlichen Gründen ungünstig erscheint.

  18. 18.

    Wobei man, um Inkonsistenzen in der Lesart von Rancières Werk zu vermeiden, die Akteure hier als Ergebnisse von Subjektivierungsprozessen und nicht im üblichen Sinne als Personen qua Geburt verstehen sollte.

  19. 19.

    Ein Terminus, der angesichts von Rancières kritischer Haltung gegenüber der deliberativen Demokratietheorie doppelt unglücklich erscheint.

  20. 20.

    Das vollständige Zitat lautet: „Demokratie ist die Institution der Politik selbst, als abweichende Form des Regierens. Dies verlangt nach dem, was man allgemein als die ‚Sphäre der Politik’ bezeichnet.“

  21. 21.

    Zu näheren Erläuterungen des Stellenwerts des Neoliberalismus in Rancières Denken siehe auch die Arbeit von Todd May (2008, S. 45 ff.). Jodi Dean (2009, S. 23 f.) hingegen hat kritisch Stellung zu seinem Neoliberalismus-Verständis bezogen, das sie als unspezifisch und übermäßig pessimistisch empfindet.

  22. 22.

    Hierzu kann man bspw. interessante Vergleiche zu Habermas’ These von der Kolonialisierung der Lebenswelt bzw. der Verrechtlichung der Politik (Habermas 1998 [1992]), oder zu Maus’ Überlegungen zur Refeudalisierung des Rechts (Maus 1994) anstellen.

  23. 23.

    Dies empirisch und detailliert zu klären wäre eine interessante rechtssoziologische Forschungsaufgabe, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter verfolgt werden kann.

  24. 24.

    Für einen Überblick zur Theorie der Schweigespirale vgl. Schenk (2002).

  25. 25.

    Auch der Titel dieses Buches der beiden Meinungsforscher Noelle-Neumann und Petersen bringt, nebenbei gesagt, eine Facette von Rancières (kritischer) Argumentation zum Ausdruck. Er lautet: „Alle, nicht jeder“.

  26. 26.

    Rancière spielt an dieser Stelle mit der Zweideutigkeit des Begriffes der Identität (Identität als Bezeichnung völliger Übereinstimmung und als Begriff zur Bezeichnung personaler bzw. sozialer Charakteristika), die in der französischen (und auch in der englischen) Sprache offensichtlicher ist als im Deutschen. Diese Zweideutigkeit sollte auch beim Lesen der hier genannten Zitate bedacht werden.

  27. 27.

    Für eine umfassende Beschreibung zeitgenössischer Politisierungsprozesse in Demokratien vgl. Greven (2008).

  28. 28.

    Nähere Erläuterungen zu den Begrifflichkeiten, ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden erfolgen im Abschnitt „Das Konzept der Postdemokratie bei Wolin“. Schon hier soll jedoch vermerkt werden, dass der Begriff der „Superpower“ aufgrund seines explizit außenpolitischen Bezuges nur eine vergleichsweise geringe Rolle für den Postdemokratiediskurs spielt und er daher in den folgenden Darstellungen auch nur am Rande beleuchtet wird.

  29. 29.

    Klar von seinen „postdemokratischen“ Begrifflichkeiten lässt sich jedoch Wolins Konzept des „megastate“ abgrenzen, das er vor dem Ende des Kalten Krieges entwickelt hat, um die Expansion der bürokratischen Macht zu beschreiben (vgl. Wolin 1989, S. 183 f.).

  30. 30.

    Wolins Monographien und auch die von Aryeh Bottwinick und William Connolly (2001) herausgegebene Aufsatzsammlung über Wolins Werk wurden in Deutschland vorwiegend in Form von Buchbesprechungen, jedoch nicht in längeren Texten diskutiert (vgl. Bluhm 2003).

  31. 31.

    Neben Sheldon Wolin zählen Norman Jacobson, Hanna Pitkin und John Schaar zu den wichtigsten Vertretern der Berkeley School (vgl. Hauptmann 2004, S. 35).

  32. 32.

    Unter anderem bildete er während seiner Tätigkeit als Professor an den Universitäten in Berkeley und Princeton Hanna Pitkin, Terence Ball und Dana Villa aus (vgl. Wiley 2006, S. 212).

  33. 33.

    Craiutu spielt mit dieser Aussage darauf an, dass sowohl Strauss als auch Wolin immer wieder vehemente Kritik am Liberalismus und am positivistischen Wissenschaftsverständnis geübt haben, wenn auch von unterschiedlichen theoretischen Standpunkten aus. Während Wolin als gleichheitsorientierter Theoretiker eine linke politische Orientierung aufweist, kann Strauss zum konservativen Spektrum gezählt werden.

  34. 34.

    Neben inhaltlichen Gemeinsamkeiten identifiziert er jedoch auch eine „hyperinflated rhetoric and a line or argument that outstrips all evidence on offer to support it“ als Gemeinsamkeit von Wolin und Rousseau (Zuckert 2010, S. 591).

  35. 35.

    Obwohl Wolin verneint hat, den Begriff des Politischen von Arendt übernommen zu haben. Arendt hielt sich zwar 1955 zeitgleich mit ihm als Dozentin für Politische Theorie in Berkeley auf, Wolin hat in einem Interview jedoch angegeben, „The Human Condition“ (1958) erst nach der Publikation von „Politics and Vision“ gelesen zu haben (Wolin in einem Interview aus dem Jahr 1992, zitiert nach Hauptmann 2003, S. 45). Hauptmann ist jedoch überzeugt davon, dass Arendt Wolins Verständnis der Politik und des Politischen maßgeblich geprägt hat: „Her understandings of the public realm, politics, and political thinking closely resemble the way Berkeley political theorists use these terms as well as their sense of how endangered what these words name has become in the contemporary world“ (Hauptmann 2003, S. 44). Und an anderer Stelle räumt Wolin auch ein, dass er Hannah Arendt viele theoretische Einsichten zu verdanken hat (Wolin 1977).

  36. 36.

    Ähnlich wie zuvor schon mit Blick auf Rancières Demokratiebegriff angemerkt wurde, ist auch hier zu konstatieren, dass unklar ist, woher die Verbindung zwischen den Arbeiten Derridas, Mouffes, Laclaus und jenen von Wolin resultiert. Wiederum weisen sie zwar inhaltliche Ähnlichkeiten auf, es existieren jedoch zu wenige entsprechende (Literatur-)Verweise in den Werken dieser Autoren, um eindeutig zu klären, inwiefern sie sich aufeinander beziehen. Obwohl der kritische Diskurs in den USA nur sehr selten Bezug auf französische Denker nimmt (ebenso ist es umgekehrt), deuten inhaltliche Gemeinsamkeiten und Parallelen jedoch auf eine gegenseitige Rezeption bzw. zumindest eine Rezeption derselben theoretischen Grundlagenwerke hin.

  37. 37.

    Eine genauere Ausführung seines Begriffs des Politischen erfolgt im nächsten Abschnitt.

  38. 38.

    So beruht auch seine Bewunderung für Alexis de Tocqueville nicht zuletzt auf dessen Fähigkeit zur Transformation seiner amerikanischen Reiseerfahrungen in theoretische Überlegungen.

  39. 39.

    Während der Bezug von Wolins Begriff des Politischen auf jenen von Hannah Arendt umstritten ist (vgl. Fußnote 44), liegt mit Blick auf die theoretische Verortung und auch die inhaltliche Definition des Politischen auf der Hand, dass keine Verbindungen zwischen den Arbeiten der Berkeley-School und dem Begriff des Politischen bei Carl Schmitt (1932) bestehen (vgl. auch Hauptmann 2004, S. 36 f.). Der Vollständigkeit halber soll dennoch darauf hingewiesen werden, dass Schmitt den Begriff des Politischen als Freund-Feind-Differenzierung bereits zuvor prominent in den theoretischen Diskurs eingeführt hatte. Versuche der Bestimmung einer Genealogie des Politischen und seiner Relevanz für die Demokratietheorie finden sich bei Gangl (2011) und Salzborn (2011).

  40. 40.

    Zur Relevanz von „constitutional moments“ in der amerikanischen Geschichte hat Bruce Ackerman (1995) ein lesenswertes Buch verfasst, das zudem eine umfangreiche empirische Analyse zu diesem Thema beinhaltet.

  41. 41.

    Wolin übernimmt zwar von Marx die Annahme, dass Macht in der Geschichte jeweils verschiedene Formen annimmt. Seine Machtdefinitionen stimmen jedoch nicht mit dem marxistischen Machtbegriff überein, wonach Macht eine normalisierende oder regulierende Kraft ist (vgl. Wolin 2004, S. 424).

  42. 42.

    Auch hier besteht eine Parallele zum Denken Hannah Arendts, die sich nicht nur auf die Erweiterung des Machtbegriffs auf das gemeinsame Handeln bezieht, sondern auch auf Arendts Überlegungen in „Macht und Gewalt“ (1970). Hier stellt Arendt die These auf, dass die „Wissenschaftsgläubigkeit“ der Regierungen und ihr stetiges Streben nach eindeutigen Lösungen und Regulierungen politische Macht in Gewalt zu transformieren drohen. „Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat,“ mahnt sie in diesem Werk und verweist damit ähnlich wie Wolin auf die Relevanz des handelnden Volkes für das Gelingen des Politischen.

  43. 43.

    Es mag zunächst erstaunlich erscheinen, dass ein linker Theoretiker wie Sheldon Wolin eine derartige Wertschätzung Friedrich Nietzsches zum Ausdruck bringt, dessen Werk zweifellos rassistisch-elitistische und diskriminierende Züge aufweist. Diesen Auffassungen will Wolin sich auch überhaupt nicht anschließen, er bewundert jedoch Nietzsches Vision eines Politischen, das von Individualisierung geprägt ist sowie sein Denken über den Totalitarismus.

  44. 44.

    Gemeinhin wird Tocqueville entgegen Wolins Rezeption als ein Theoretiker rekonstruiert, dessen Schriften und Überzeugungen sich während verschiedener Lebensphasen stark unterscheiden. Wolin hingegen glaubt, mit der „chose publique“ ein integratives Moment in seinem Gesamtwerk gefunden zu haben (Wolin 2001, S. 5).

  45. 45.

    Tocqueville positioniert sich hier mit Blick auf eine zwischen den amerikanischen Verfassungsvätern geführte Diskussion über die Zukunft der von ihnen begründeten verfassungsrechtlichen Ordnung. Während die Mehrzahl der Federalists (mit der wichtigen Ausnahme Hamiltons) an eine lineare (Fortschritts-) Entwicklung des zu gründenden amerikanischen politischen Systems glaubte, prognostizierten einige Anti-Federalists den zwingenden Untergang der Republik und das Widererstarken despotischer Systeme. So schrieb beispielsweise der Anti-Federalist An Old Whig im Jahr 1787: „From the moment we become one great Republic, either in the form or substance, the period is very shortly removed, when we shall sink first into monarchy, and then into despotism“ (An Old Whig: Philadelphia Independent Gazette, 27. 10. 1787). Demokratie aus.

  46. 46.

    So sieht Tocqueville es als ein Spezifikum demokratischer Ordnungen an, dass sie nur in „gewissen Augenblicken großer Erregung und großer Gefahren gewaltätig und grausam werden; aber diese Krisen werden selten sein und verübergehends“ (1985, S. 342).

  47. 47.

    Wendy Brown hat eine Erklärung des außenpolitischen Interventionismus während Bushs Regierungszeit vorgelegt, die ebenfalls an die Postdemokratisierungsthese anknüpft und deshalb an dieser Stelle ergänzend erwähnt werden soll. Sie betrachtet – ähnlich wie Crouch, Rancière und Wolin – den Aufstieg des Neoliberalismus zur zentralen politischen Rationalität als Ursache für Entdemokratisierungstendenzen in westlichen Staaten am Ende des 20. Jahrhunderts (Brown 2006). Das Zusammentreffen von neoliberaler und neokonservativer Logik während der Regierungszeit von George W. Bush habe im Bereich der Außenpolitik zu einer Situation geführt, in der zwei widerstreitende Rationalitäten dieselbe Handlungsform befürworten können: „[…] what critics loosely refer to as imperial behavior veers between commitments to corporate interests and free trade on one side and statist moral crusades at odds with these interests on the other“ (Brown 2006, S. 698). Die scheinbare Allianz von Neoliberalismus und Neokonservatismus sei de facto also eher als ein „clash“ zu verstehen, dessen unterschiedliche Hintergründe nicht zuletzt auch inkonstante und inkonsistente Verhaltensweisen im außenpolitischen Engagement der Bush-Regierung erklären könnten (ebd.).

  48. 48.

    Für einen umfassenden Überblick über philosophische Inversions-Verständnisse vgl. Moriconi und Tesconi (2008).

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Ritzi, C. (2014). Der Postdemokratie-Diskurs. In: Die Postdemokratisierung politischer Öffentlichkeit. Kritische Studien zur Demokratie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01469-8_2

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