Zusammenfassung
Angesichts drängender globaler Problematiken wie Ressourcenknappheit, Verteilungsungerechtigkeit und Klimawandel ist die Frage, was der Mensch essen darf, zu einem zentralen ethischen Diskussionspunkt geworden. Der Text zeigt in historischer Perspektive auf, dass diese Debatte keineswegs neu ist, sondern die Ethik der Ernährung von antiken Gesundheitslehren über die mittelalterlichen Fastengebote bis hin zu heutigen veganen und vegetarischen Lebensstilen stets eine bedeutende kulturelle Rolle spielte. Ihre Dimension wird gegenwärtig allerdings dadurch erweitert, dass Gesellschaften nie zuvor in solchem Maß in der Lage waren, die globalen Konsequenzen und damit auch die individuelle Verantwortung ihres Handelns zu erkennen. In diesem einführenden Beitrag werden daher Notwendigkeit und Hintergründe der modernen Ernährungsethik sowie des vorliegenden Sammelbandes näher beleuchtet, wobei vor allem auf die Wahl des Huhnes als gemeinsames Paradigma eingegangen wird.
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Notes
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Beispiele hierfür lassen sich im Alten Testament zuhauf finden, etwa beim Auszug der Israeliten aus Ägypten: „Da sprach der Herr zu Moses: Ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen. Das Volk soll hinausgehen, um seinen täglichen Bedarf zu sammeln. Ich will es prüfen, ob es nach meiner Weisung lebt oder nicht“ (Exodus 16, 4). Bei Hesekiel 14, 13–14 wird Hunger generell als Gottesstrafe beschrieben: „Und des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, wenn ein Land an mir sündigt und Treubruch begeht und wenn ich meine Hand dagegen ausstrecke und den Vorrat an Brot ihm wegnehme und Hungersnot ins Land schicke, um Menschen und Vieh darin auszurotten, und wenn dann diese drei Männer im Lande wären, Noah, Daniel und Hiob, so würden sie durch ihre Gerechtigkeit allein ihr Leben retten, spricht Gott der Herr.“
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Der Erhalt von Gesundheit war bei den Griechen zwar noch eng mit den Göttern verbunden, so wurde Asklepios als Gott der Heilkunst verehrt und seine Töchter Hygieia und Panakeia wurden als Göttinnen der Gesundheit und Medizin bezeichnet, dennoch war der Mensch durch die „richtige“ Lebensweise und Ernährung in erster Linie selbst für sich verantwortlich (Steger 2004, S. 77 ff.).
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Vgl. zur Geschichte der europäischen Esskultur ausführlicher Hirschfelder 2005.
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In seinem „Sermon von den guten Werken“ bemerkt Martin Luther hierzu: „Ich will jetzt davon schweigen, dass manche so fasten, dass sie sich dennoch voll saufen; dass manche so reichlich mit Fischen und anderen Speisen fasten, dass sie mit Fleisch, Eiern und Butter dem Fasten viel näher kämen. […] Wenn nun jemand fände, dass auf Fische hin sich mehr Mutwillen regte in seinem Fleisch als auf Eier und Fleisch hin, so soll er Fleisch und nicht Eier essen. Andererseits, wenn er fände, dass ihm vom Fasten der Kopf wüst und toll oder der Leib und der Magen verderbt würde […], so soll er das Fasten ganz gehen lassen und essen, schlafen, müßig gehen, so viel ihm zur Gesundheit nötig ist“ (Luther 1888 [1520], S. 245 f.).
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Vgl. Tab. 210b in BMELV 2012, S. 190.
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Aristoteles führte die Grundpfeiler dieser Lehre im 4. Jahrhundert v. Chr. erstmals in seinem Werk „Nikomachische Ethik“ aus (Aristoteles 2001).
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Das wohl bekannteste Beispiel bildet Kants kategorischer Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1900, S. 421).
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In „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ bringt Scheler 1913 die Dimension von Wertemotionen in die Theorie mit ein.
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Weber stellte diesen Unterschied 1919 in seiner Rede „Politik als Beruf“ heraus. Zentral bei seiner Definition von Verantwortungsethik war, dass Ethik auch ihre Absichten auf die Verantwortbarkeit ihrer Folgen hin zu überprüfen habe (Weber 1988, S. 551 f.).
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Der inzwischen vielfach zitierte Neologismus „Aufregungsschäden“ begegnet erstmals bei Luhmann 1986.
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Allein zwischen 1970 und 2005 ist die weltweite Produktion von Masthähnchen um 437 % angestiegen. Vor allem Brasilien und China sind zu neuen Aufzuchtzentren geworden: China stellt über die Hälfte des global verzehrten Hühnerfleisches her (Windhorst 2006, S. 585).
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Hirschfelder, G., Wittmann, B. (2015). „Was der Mensch essen darf“ – Thematische Hinführung. In: Hirschfelder, G., Ploeger, A., Rückert-John, J., Schönberger, G. (eds) Was der Mensch essen darf. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01465-0_1
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