Zusammenfassung
Der Beitrag skizziert die historische Entwicklung der Mortalität und der Morbidität in Deutschland und Europa und diskutiert die Determinanten, die auf diese Entwicklung eingewirkt haben. Ab dem 18. Jahrhundert setzte ein historischer Wandel ein, in dessen Verlauf sich die Sterblichkeit – unterbrochen von einigen Phasen der Stagnation und zwischenzeitlicher Erhöhung – langfristig und in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß reduzierte. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich seitdem nahezu verdoppelt. Mit diesem Wandel ist eine grundlegende Veränderung der Todesursachen eng verknüpft: Starben die Menschen im 18. Jahrhundert in erster Linie an übertragbaren, endemischen Infektionskrankheiten und Seuchen, zählen heutzutage nicht übertragbare, chronische Krankheiten, allen voran Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu den häufigsten Todesursachen. Für diese Entwicklung werden eine Vielzahl von Faktoren verantwortlich gemacht, von denen medizinische eine eher untergeordnete Rolle spielen. Wesentliche Einflüsse werden vielmehr dem sozialen Wandel und sozioökonomischen Faktoren zugeschrieben. Am Beispiel der Länder des ehemaligen Ostblocks zeigt sich, dass die Lebensbedingungen der Menschen deren Sterblichkeit und Lebenserwartung bis in die heutige Zeit hinein maßgeblich beeinflussen.
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Notes
- 1.
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- 2.
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- 3.
Todesursache nach dem Todesursachenverzeichnis des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, auch bekannt unter Debilitas vitae. Recht unspezifische Todesursache, beschrieben wird sie als allgemeine Schwäche der Funktion beim Kind, welche unterschiedlichen Ursprungs ist und zum Tod führen kann vgl. Reus, August Ritter von. 1914. Die Krankheiten des Neugeborenen. In Enzyklopaedie der klinischen Medizin, Hrsg. Leopold Langstein, Karl Harko von Noorden und Alfred Schittenhelm, 146–149. Berlin, Heidelberg: Springer.
- 4.
Eine ausführliche Kritik an der These McKeowns findet sich in: Szreter (1988): The Importance of Social Intervention in Britain’s Mortality Decline c. 1850–1914: a reinterpretation of the Role of Public Health SocHist Med. 1988; 1:1–38.
- 5.
McKeown entwickelte seine These anhand einer Analyse der Sterblichkeit in England, Irland, Schweden, Frankreich und Ungarn. In seiner Fokussierung auf die Entwicklung der Tuberkulosesterblichkeit unterschätzte er die für die Situation in Deutschland bedeutsamen gastro-intestinalen Erkrankungen. Zudem verwischt seine Verwendung aggregierter Daten bedeutsame Stadt-Land-Unterschiede, die vor allem im Zuge der Urbanisierung in den frühen Phasen der Industrialisierung eine große Rolle spielten (Vögele 2001, S. 398 f.).
- 6.
Muttermilch erhöht die Abwehrfähigkeit der Säuglinge gegenüber Krankheitserregern und reduziert zugleich die Ernährung mit unzureichenden oder verdorbenen Lebensmitteln, so dass gestillte Babys besser vor Krankheits- und Sterblichkeitsrisiken geschützt sind (Ehmer 2004, S. 94).
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Fach, EM., Rosenbach, F., Richter, M. (2016). Mortalitätsentwicklung und Gesundheitsbewegungen in Europa: Eine historische Perspektive. In: Niephaus, Y., Kreyenfeld, M., Sackmann, R. (eds) Handbuch Bevölkerungssoziologie. Springer NachschlageWissen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01410-0_25
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