Zusammenfassung
Mit dem Kinder und Jugendhilferecht (KJHG) sollte ein Paradigmenwechsel im Umgang mit der Jugendhilfeklientel eingeleitet werden: Betroffene sollten die Chance erhalten, im Hilfeprozess eine Stimme zu bekommen. Manche verbanden damit die Hoffnung auf einen Durchbruch auf dem langen Weg der Sozialpädagogik zur Professionalisierung: in Gestalt der Überwindung des sogenannten Hilfe-Kontrolle-Dilemmas. In diesem Beitrag wird die Auffassung vertreten, dass der § 8a die Sozialpädagogik mit aller Deutlichkeit daran erinnert hat, dass die Aufgabe, eine tragfähige Haltung zum sogenannten Hilfe-Kontrolle-Problem aus eigener fachlicher Autonomie heraus zu entwickeln, nach wie vor nicht erledigt ist. Wenn die Sozialpädagogik das Hilfe-Kontrolle-Problem lösen will, muss sie sich zuallererst – insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe – klarmachen, dass sie einen Schutzauftrag bzw. ein Wächteramt wahrzunehmen hat, was ohne Kontrolle, d. h. Verantwortungsübernahme, nicht zu bewältigen ist, und die Rechtslage muss ernst genommen werden.
Wir werden uns nicht in die Debatte um die angemessene Denomination, ob es Sozialarbeit oder Sozialpädagogik heißen soll, einschalten. Einstweilen begnügen wir uns mit der Definition von C. J. Klumker. Demnach geht es bei der Sozialpädagogik um „Erziehungsarbeit gesellschaftlicher Gebilde“ (Klumker in einem Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Gertrud Bäumer, Nachweis siehe dort, S. 103). Der Begriff „gesellschaftliche Gebilde“ kam nach 1930 aus der Mode, ihm folgten: Gemeinwesenarbeit, Lebensweltorientierung, Sozialraum, aktuell: Netzwerk. Die Begriffe wechseln grosso modo alle zehn Jahre, und damit ändert sich jeweils die Definition des Selbstverständnisses des Fachs.
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Notes
- 1.
Ich habe es mir angewöhnt, in Texten, die im Zuge einer Projektarbeit entstanden sind, von „wir“ zu sprechen. Nur dort, wo es um mich persönlich geht, verwende ich das Personalpronomen „ich“. Im vorliegenden Fall schließt „wir“ folgende Personen ein: PD Dr. Karl-Friedrich Bohler, Tobias Franzheld M. A., Anja Schierbaum M. A., Dr. Anna Engelstädter. Für alle Fehleinschätzungen bin ich natürlich selbst verantwortlich. Für sorgfältiges Lektorieren danke ich meiner Frau, Astrid Hildenbrand M. A.
- 2.
Wo die männliche Form benutzt wird, ist die weibliche mitzudenken, und umgekehrt.
- 3.
Vgl. dazu Heft 15 der Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, speziell den Beitrag von Gertrud Bäumer, S. 73ff; vgl. auch Scheiwe 2013.
- 4.
Erste Beobachtungen unserer Forschergruppe, hier Raphaela Oetter.
- 5.
Dieser Fischer handelt, wie Karl E. Weick und Cathleen M. Sutcliffe (2010) sich vorstellen, dass Organisationen handeln, die ständig mit dem Unerwarteten umgehen müssen. Routineverfahren und Checklisten bergen die Gefahr, die Neugier abzutöten. Als günstiger erweisen sich Verfahren, die die Aufmerksamkeit auf das Unerwartete lenken (Weick und Sutcliffe 2010, S. 85).
- 6.
Der Aufsatz von Kirsten Scheiwe (2013) weist im Literaturverzeichnis drei Beiträge mit „zwischen“ und einen Beitrag mit „Spannungsfeld“ im Titel auf.
- 7.
An anderer Stelle (Hensen und Schone 2009, S. 149) behaupten diese Autoren, dass die „beiden Spannungsfelder zwischen Elternrecht (elterlicher Sorge) und (…) Elternpflicht (…) nicht auflösbar“ seien. Später sagen sie dann, dass „das Kontrollhandeln nicht von dem Hilfekonzept“ zu trennen sei. Das System von Hilfe und Kontrolle sei daher zu balancieren (S. 157). Wie das geschehen soll, darüber schweigen sich die Autoren aus. Wir schlagen dafür das Konzept der Begegnung vor, Elisabeth Helming (o. J.) schlägt das Konzept der Anerkennung vor, wobei dieser Begriff bei ihr eine professionstheoretische Substanz erhält.
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Hildenbrand, B. (2014). Das KJHG und der Kinderschutz: Eine verpasste Professionalisierungschance der Sozialpädagogik. In: Bütow, B., Pomey, M., Rutschmann, M., Schär, C., Studer, T. (eds) Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01400-1_9
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