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Entscheiden über Fremdunterbringungen. Praktiken der Fallerzeugung

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Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie

Zusammenfassung

Jede Entscheidung für oder gegen eine Fremdunterbringung ist mit dem Risiko verbunden, „zu früh zu viel“ oder „zu spät zu wenig“ (Anna Freud) zu tun. Die Unterbringung außerhalb der Familie bleibt allerdings nach wie vor eine der wichtigsten Interventionsformen des Jugendamtes. Der Autor geht der Frage nach, wie es SozialarbeiterInnen der Jugendämter gelingt, Entscheidungen über Fremdunterbringung zu treffen. Herausgearbeitet wird, wie SozialarbeiterInnen in Falldarstellungen den Fall – über den sie entscheiden – erst konstruieren. Dabei wird Plausibilität für/gegen Fremdunterbringung erreicht. Es wird verständlich gemacht, warum eine Fremdunterbringung in der Logik der jeweiligen Situation angebracht scheint, eine alternative Interventionsform gewählt wurde bzw. künftig gewählt werden könnte. Auf Grundlage ethnographisch erhobener Daten werden drei Gruppen von Praktiken herausgearbeitet, die für die Entscheidungspraxis sowie die Fallkonstruktion zentral sind: Das Abwägen beruhigender und beunruhigender Beobachtungen (1.), der Einsatz von Neutralisierungstechniken (2.) sowie die Herstellung des Falls über Referenzverkettungen (3.). Es handelt sich hierbei um Praktiken, die dazu geeignet sind, Fremdunterbringungen zu (de-) plausibilisieren, zu befördern bzw. zu „behindern.“

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Notes

  1. 1.

    Relativierend sei noch angemerkt, dass die stationären Hilfen nicht so stark anstiegen wie die ambulanten Hilfeformen (z. B. Sozialpädagogische Familienhilfe), die sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelten. Dies ändert aber nichts daran, dass die Fremdunterbringung eine zentrale Interventionsform darstellt, von der in den letzten Jahren zunehmend Gebrauch gemacht wurde.

  2. 2.

    Man könnte auch davon sprechen, dass Jugendämtern unter „vielfacher Beobachtung“ stehen und so selbst zunehmend zu (fehler-)gefährdeten Organisationen werden (vgl. Ackermann 2010).

  3. 3.

    Der Beitrag beruht auf der Überarbeitung einer ersten Formulierung des Themas (vgl. Ackermann 2012). Ich danke allen Beteiligten des Promotionsprogramms „Soziale Dienste im Wandel“ der Universität Hildesheim für ihre Unterstützung, insbesondere auch Stephan Wolff für die „Supervision“ des Schreibprozesses.

  4. 4.

    Das Forschungsfeld verstehe ich nicht als festen Ort, sondern als Feld, dass ich in der Interaktion mit den von mir begleiteten SozialarbeiterInnen mithergestellt habe (vgl. Wolff 2008).

  5. 5.

    Vernünftigkeit ist hier nie im Sinne einer universalistischen Rationalität gedacht. Gemeint sind eher Formen systembezogener und situierter Rationalität, aus denen sich feldtypische Erwartungen bzw. Akzeptabilitätsbedingungen ergeben (vgl. Haraway 1988; Luhmann 1984). Mit Garfinkel (1964, 1967) gehe ich zudem davon aus, dass sich die Akteure im Rahmen alltäglichen Handelns die Vernünftigkeit ihres Tuns ständig nachweisen, sich ihr Handeln laufend neu verständlich machen (es „accountable“ halten). Rationalität verstehe ich insofern nicht als normative (z. B. fachliche) Forderung, sondern als Erwartung, die Mitglieder eines sozialen Feldes gegenseitig aneinander richten (vgl. Luhmann 1984), sowie als Produkt situierter Herstellung (vgl. Haraway 1988). Man kann in diesem Sinne auch von einem situativen, lokalen und „interaktiven Ringen[] um Rationalität“ (Treutner et al. 1978, S. 162) sprechen. Konzepte übergreifender, universalistischer Rationalität (z. B. der „Fachlichkeit“) können hierbei jedoch von den Teilnehmenden als Ressource zur Herstellung von Rationalität genutzt werden.

  6. 6.

    „Ein Soziologe von einem anderen Planeten, der sich auf einer Feldforschungsreise zur Erde befindet, würde wohl schnell erkennen, daß (…) die Eingeborenen unablässig damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu beschreiben und zu erklären, was sie in der Vergangenheit getan haben, in der Gegenwart gerade tun und in der Zukunft tun wollen“ (Wieder und Zimmerman 1976, S. 105). Solche Darstellungen können im Sprechen und Tun erfolgen, wobei das Sprechen selbst „Tun“ ist (Garfinkel 1967).

  7. 7.

    Das Vorgehen, wie es hier beispielhaft Frau X. in dieser Situation entwickelt, hat Ähnlichkeiten mit der forscherischen Arbeit, wie sie Latour (2000) beschreibt.

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Ackermann, T. (2014). Entscheiden über Fremdunterbringungen. Praktiken der Fallerzeugung. In: Bütow, B., Pomey, M., Rutschmann, M., Schär, C., Studer, T. (eds) Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01400-1_8

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