Zusammenfassung
Das Thema Ernährung bei Kindern und Jugendlichen hat in den letzten Jahren verstärkt gesellschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Damit stieg auch die staatliche Bereitschaft in die Ernährungsweise von Kindern und Familien einzugreifen. Der Aufhänger für die gegenwärtig zu beobachtenden Eingriffe in die Ernährungsautonomie von Familien ist vor allem der Anstieg des Körpergewichts von Kindern und Jugendlichen. Problematisiert wird die Ernährungsweise von Kindern und Familien daher in Verbindung mit einer äußerst wirkmächtigen gesellschaftlichen Problemwahrnehmung: der „Adipositas-Epidemie“.
Vor diesem Hintergrund fragt der Artikel, wie sich die Problemwahrnehmung der „Adipositas-Epidemie“ diskursiv durchsetzen konnte, und wie sich die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung in die Prämissen des Aktivierenden Sozialstaats einfügen. Im Fazit werden Alternativen zum gegenwärtigen Umgang mit einem als zu hoch empfundenen Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen diskutiert.
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Notes
- 1.
Unter Jo-Jo-Effekt wird das Phänomen verstanden, dass das Körpergewicht bei Diäten häufig zunächst sinkt, um dann nach Beendigung der Diät umso schneller wieder anzusteigen. Am Ende dieses Jo-Jo-Zyklus steht daher häufig ein höheres Gewicht als vor Beginn der Diät.
- 2.
Aus dieser Sichtweise darf die Lebensmittelindustrie dann auch nicht für das unverantwortliche Verhalten Einzelner bestraft werden. Die Akteure dieser Gruppe sind vor allem darum bemüht, die Lebensmittelindustrie vom Vorwurf, für die „Adipositas-Epidemie“ in irgendeiner Form verantwortlich zu sein, freizusprechen. Diese Problemwahrnehmung ist vor allem in den USA in der öffentlichen Diskussion stark vertreten und findet dort sowohl im libertären als auch im konservativen politischen Spektrum viel Zuspruch (Basham et al. 2006).
- 3.
Perzentile bzw. Hundertstelwerte beschreiben die Aufteilung einer Grundgesamtheit in 100 umfangsgleiche Teile. Das neunzigste Perzentil entspricht dem Wert, den neunzig Prozent der Grundgesamheit unterschreiten und zehn Prozent überschreiten.
- 4.
Gemeint ist damit, dass die zukünftige Generation aufgrund von Übergewicht und damit einhergehenden Zivilisationskrankheiten nicht diesselbe Lebenserwartung erreichen wird wie ihre Elterngeneration.
- 5.
Tatsächlich trifft die Aussage, „aus dicken Kindern werden mit hoher Wahrscheinlichkeit dicke Erwachsene“ allenfalls auf Jugendliche in der Pubertät zu, nicht aber auf Babys und Kleinkinder (Schorb und Helmert 2011).
- 6.
Auch die ehemalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast (2004) zieht in ihrem Buch „Die Dickmacher“ einen expliziten Vergleich zwischen der Krise des Rentenversicherungssystems und der Krise des Gesundheitssystems: „Bei der Fettleibigkeit ist es eher wie mit der demographischen Entwicklung. Bei diesem Thema haben wir auch die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass es nichts nützt, ein Phänomen einfach übersehen zu wollen. Seit über zwanzig Jahren kennen wir präzise Prognosen. Die Botschaft ist seit den siebziger Jahren klar: Immer weniger Junge können unmöglich das heutige Rentenniveau für immer mehr Alte erwirtschaften, deren Lebenserwartung zügig steigt“ (ebd., S. 17).
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Schorb, F. (2014). Die „Adipositas-Epidemie“ bei Kindern als Rechtfertigung für Eingriffe in die Ernährung von Familien. In: Bütow, B., Pomey, M., Rutschmann, M., Schär, C., Studer, T. (eds) Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01400-1_5
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