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Die mimetische Erfahrung des Selbst als Ungekanntem. Überlegungen zum Autotune-Effekt als Phänomen der expressiven Kultur der Popmusik in den Nullerjahren

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Alltagsklänge – Einsätze einer Kulturanthropologie des Hörens
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Zusammenfassung

Mit dem Dance-Popsong Believe ereignete sich 1998 nicht nur ein erstaunliches Comeback der Popsängerin Cher. Auch das Neue, dessen Erscheinen die Geschichte der ‚expressiven Kultur‘ der Popmusik bestimmt, hatte einen neuen Platz gefunden: Nach dem herausfordernden Schmelz in den Stimmen des frühen Rock’n’Roll (Elvis) und der Ekstase der Stimmen im Soul (Aretha Franklin, James Brown), nach dem Sound der E-Gitarre, Rückkopplungen und Verzerrungen, dem Sound brüllender junger Menschen (Rock, Punk, Metal) und des Sprechgesangs des Rap, der gleitenden (Disco) oder forcierten (Techno) Emergenz magischer Klangräume auf dem Dancefloor, nach der Isolierung des Breaks und dessen Ausdehnung zu einer Situation im Loop des HipHop etc. war es wieder einmal am Platz der Stimme aufgetreten. Deren ohnehin faszinierende ‚Körnung‘ im Grenzbereich von Leib und Sprache war nun digital potenziert in ein zugleich abruptes und subtiles Sich-Überschlagen in digitale Glätte. Die hörbare Digitalität des Klangs verriet, was sich als Wissen schnell verbreitete: Erzeugt wurde der eindringliche Stimmklang durch Software, und zwar durch extreme Einstellungen an einer eigentlich zur Tonhöhenkorrektur an der aufgenommenen Singstimme entwickelten Musikproduktionssoftware, die dem Phänomen ihren Namen gab: ‚Autotune‘ respektive ‚Autotune-Effekt‘.

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Notes

  1. 1.

    Von ‚expressiver Kultur‘ spreche ich in Anlehnung an Regina Bendix zur Bezeichnung von in der Alltagskultur vorkommenden künstlerischen, ästhetischen Phänomenen – gerade im Unterschied zur Kultur im ethnografischen Sinne von Medium oder Rahmen der Welt. Bendix übernimmt diesen Begriff aus der US-amerikanischen Folkloristik und spricht in diesem Zusammenhang auch von „unsere[r] kreative[n] Menschlichkeit“ (Bendix, Regina 1995: Amerikanische Folkloristik, 27) und mit Edmund Leach von den „Rüschen einer Kultur“ (ebd., 29). Vgl. auch Bendix, Regina 2000: Pleasures of the Ear.

  2. 2.

    Vgl. Barthes, Roland 2005: Rauheit der Stimme, und Dolar, Mladen 2007: His Masters Voice.

  3. 3.

    Rabe, Jens-Christian 2008: Das große Flattern, 13.

  4. 4.

    Ebd.

  5. 5.

    Die Rede ist hier vom Burial-Track Fostercare, vgl. Walter, Klaus 2010: Geschminkte Stimmen.

  6. 6.

    Ein vergleichbares Beispiel ist die Sängerin Kandi, die im Anschluss an Gastgesangsauftritte bei Destiny’s Child und TLC ein selbstbetiteltes Soloalbum veröffentlichte, das das Stück Hey Kandi enthält, dessen Gesang digital schillert.

  7. 7.

    Weheliye, Alexander G. 2002: Posthuman Voices, 37.

  8. 8.

    Vocoder, Talk Box und Autotune-Verzerrung scheinen für Weheliye dermaßen ähnlich zu klingen, dass er gar keine begriffliche Unterscheidung zwischen den verschiedenen Technologien und ihren jeweiligen Klangeigenschaften vornimmt. Tatsächlich unterscheidet sich der Autotune-Effekt durch seine digitale Glätte und Abruptheit jedoch deutlich von seinen Vorläufern – den weniger akzentuierten Stimmklängen des Vocoders und der eigenwillig organisch-künstlich klingenden Verschlungenheit des Talk Box-Sounds.

  9. 9.

    Vgl. Dery, Mark 1998: Afro-Futurismus, 20.

  10. 10.

    So etwa von Beat Weber, der über den Autotune-Effekt sagt: „Ich denke, dass die Ausbreitung der Autotune/Vocoder-Stimmverzerrung in dieser Zeit eine Art ‚Obama Effekt‘ ist. So wie die Roboter-Motive in der US-amerikanischen Black Music der 1970er und 1980er Jahre Hoffnungen auf eine postrassistische Zukunft ausdrückten, könnte das Wiederaufkommen dieser Roboterisierungseffekte als Zeichen für die wieder aufkeimenden Hoffnungen gelesen werden, die der Aufstieg von Barack Obama unter anderem unter AfroamerikanerInnen in den USA ausgelöst hat.“ Bonz, Jochen im Interview mit Holger van Dordrecht und Beat Weber 2012: Rap-Roboter, 18.

  11. 11.

    Nelson, Alondra 2002: Future Texts, 9. Vgl. Dery, Mark 1998: Afro-Futurismus, 20.

  12. 12.

    Zu Rap Attack als kanonischer Afrofuturismus-Studie vgl. Dery, Mark 1998: Afro-Futurismus, 20.

  13. 13.

    Toop, David 1985: Rap Attack, 126.

  14. 14.

    Zitiert ebd., 129.

  15. 15.

    Hier und im Folgenden ebd., 129.

  16. 16.

    Ebd., 129f.

  17. 17.

    Ebd., 130.

  18. 18.

    Rabe, Jens-Christian 2008: Das große Flattern, 13.

  19. 19.

    Vgl. Marcus, Greil 1992: Mystery Train, 93ff.

  20. 20.

    Toop, David 1985: Rap Attack, 127.

  21. 21.

    Auch Kodwo Eshuns More Brilliant Than The Sun, ein weiterer Referenztext der Afrofuturismus-Studien, thematisiert die fundamentale Fremdheit, die afrofuturistischer Musik innewohne – „this feeling of impossibility which this music often gives you“ (185). Besonders interessiert Eshun, wie in der Dimension des Sounds das Ungekannte ausgelotet wird, „to use the sonic as a probe into new environments“ (ebd.). Mit dem Erscheinen ungekannter Klänge geht für ihn eine Veränderung in der Wirklichkeitswahrnehmung der Zuhörenden einher. Eshun schreibt diesbezüglich von „new perceptions“ (191), oder auch von „a new nervous system“ (179). Diese neue Wirklichkeitswahrnehmung erzeugt im Subjekt nicht einfach eine neue, andere Welt. Vielmehr ruft sie in ihm eine Welt hervor, in der das Ungekannte existent ist; eine Welt, die fundamental fremd bleibt. Als entscheidend für das Zustandekommen der Ungekanntheit gilt bei Eshun die Technologie. So schreibt er z. B. über die Verwendung des Moog-Synthesizers im freien Big Band-Jazz Sun Ras: „[H]e’s using the Moog to produce a new sonic people. Out of this circuit, he’s using it to produce the new astro-black American of the 70s.“ (185) In Bezug auf Detroit Techno wird die Produktivität des Technologischen von Eshun metaphorischer gefasst, wenn er Detroit Techno wie folgt charakterisiert: „[T]he key in Techno is to synthesize yourself into a new American alien“ (178).

  22. 22.

    Das Album hat den Titel Homework. Im Track Daftandirekt arbeitet sich eine „da Funk back to the Punk, come on!“ sprechende Stimme aus den verzerrtesten Tiefen langsam in den üblichen Tonhöhenbereich, während zum Beispiel im Track Teachers auf dem linken Stereokanal eine tief gepitchte Stimme und auf dem rechten Kanal eine ins Quietschige hoch gepitchte Stimme im Chor die Vorbilder der beiden Produzenten aufzählen.

  23. 23.

    Vgl. Weheliye, Alexander G. 2002: Posthuman Voices, 33f. Die Bezeichnung Cell Phone-Effect stammt laut Weheliye von Woods, Scott 2000: Cell-Phone Girls.

  24. 24.

    Walter, Klaus 2010: Geschminkte Stimmen, 23.

  25. 25.

    Zum Call-Response vgl. Rappe, Michael 2010: Under Construction, 134ff.

  26. 26.

    Weheliye, Alexander G. 2002: Posthuman Voices, z.B. 38.

  27. 27.

    Ebd., 30.

  28. 28.

    Ebd., 40.

  29. 29.

    Weheliye nennt ausdrücklich das Motown-Komponistenteam Holland, Dozier, Holland sowie Gamble und Huff von Philly International Records. Man sollte hier aber auch an die an der fordistischen Industrieproduktion orientierte Praxis des Musikmachens denken, wie sie bei Motown als Idee bestand und umgesetzt wurde. Mit dem Ergebnis: Hits am Fließband.

  30. 30.

    Hier und im Folgenden Weheliye, Alexander G. 2002: Posthuman Voices, 31.

  31. 31.

    Ebd., 32.

  32. 32.

    Ebd., 38.

  33. 33.

    „[T]his focus on rhythmic dimensions of vocalization moves the R&B singing voice closer to the stereotypically mechanical, since the machinic is often associated with rigid rhythmic structures and not the ‚human‘ expansiveness of melody and harmony“ Ebd., 32.

  34. 34.

    Ebd., 38.

  35. 35.

    Ebd., 39.

  36. 36.

    Diederichsen, Diedrich 2007: Allein mit der Gesellschaft, S. 331. Es ist klar, dass Diederichsen, wenn man die Lacan’schen Konzeptionen hier zur Anwendung bringt, die Rezeptionshaltung des Pop als eine imaginäre Identifikation fasst. Vgl. den Einschub zu den Lacan’ schen Dimensionen der Beziehung des Subjekts zur Wirklichkeit, und damit zugleich: die Dimensionen des Wirklichkeitserlebens und der Subjektivität, in Kapital 3.2.

  37. 37.

    Eggebrecht, Hans Heinrich 1997: Musik und das Schöne, 183, vgl. ebd., 162ff.

  38. 38.

    Ebd., 182.

  39. 39.

    Žižek, Slavoy 1997: Mehr-Genießen, 70.

  40. 40.

    Elias, Norbert u. Dunning, Eric 2003: Suche nach Erregung, 132.

  41. 41.

    Hier und im Folgenden ebd., 151.

  42. 42.

    Lacan, Jacques 1991: Das Ich, 64. Französische Wörter, die in der Übersetzung als originalsprachliche Hinweise fungieren, wurden zum Zweck der besseren Lesbarkeit ausgelassen, vgl. ebd. Weheliye fasst den Aspekt der Medialität in den Worten: „[D]esire can be represented only in the guise of the machinic“, Weheliye, Alexander G. 2002: Posthuman Voices, z.B. 39.

  43. 43.

    Kittler erkannte die medientheoretische Anlage der Lacan’schen Psychoanalyse und machte Einiges aus dieser Erkenntnis, vgl. z.B. Kittler, Friedrich 1993: Die Welt des Symbolischen.

  44. 44.

    Lacan, Jacques 1991: Das Ich, 385.

  45. 45.

    Dolar, Mladen 2007: His Masters Voice, 100. Dolar greift damit eine Konzeptualisierung der Stimme auf, die dreißig Jahre zuvor schon Roland Barthes in Le grain de la voix skizziert hatte, entwickelt hieraus jedoch eine andere Überlegung.

  46. 46.

    Ebd., 97.

  47. 47.

    Hier und im Folgenden ebd., 99.

  48. 48.

    Meine Auslegung von Dolars Unterscheidung zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ entspricht Emile Benvenistes Unterscheidung zwischen dem Subjekt, das in seiner Aussage erscheint, und dem Subjekt des Aussagens, vgl. Gondek, Hans-Dieter 2001: Subjekt, Sprache, Erkenntnis, 134.

  49. 49.

    Während der Riss für die fundamental mit einer symbolischen Ordnung identifizierten Subjekte, die die Wirklichkeit entsprechend dauerhaft und stabil mit deren Kategorien wahrnehmen, quasi inexistent, nämlich verdrängt ist.

  50. 50.

    Im Anschluss an die Präsentation dieser Überlegungen in einem Kolloquium der Forschergruppe Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas am Max Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, im Frühjahr 2013, ergänzte eine Teilnehmerin meine Überlegungen mit dem Hinweis, die Lieblingsmusik ihres Kindes (im Kindergartenalter) habe gerade von den Schlümpfen zu Daft Punk gewechselt. Beides vocoderized voices, in denen es sich spielerisch als das Andere erleben kann, das es durch sein Eintreten in die Dimension der symbolischen Ordnung dabei ist zu werden.

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Bonz, J. (2015). Die mimetische Erfahrung des Selbst als Ungekanntem. Überlegungen zum Autotune-Effekt als Phänomen der expressiven Kultur der Popmusik in den Nullerjahren. In: Alltagsklänge – Einsätze einer Kulturanthropologie des Hörens. Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-00889-5_4

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