Zusammenfassung
„Zusammenbruch und Wiederaufbau“ hieß das Motto der 13. Documenta 2012 in Kassel. Obwohl sich auch die vorherigen Ausstellungen auf die eine oder andere Weise mit dem Ausstellungsort auseinandergesetzt haben, so hatte diese documenta doch einen spezifischen Blick auf die Stadt Kassel geworfen, der sich bewusst damit auseinandersetzte, dass die Stadt im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört und in der Nachkriegszeit paradigmatisch neu aufgebaut worden ist. Mit der bundesweit ersten Fußgängerzone und dem Verzicht auf eine Rekonstruktion des verlorengegangenen Bau-Erbes symbolisiert Kassel für viele ein Beispiel der Vergangenheitsverdrängung im Nachkriegsdeutschland. Mit dem Pragmatismus des Wiederaufbaus wurden die Trümmer und Erinnerungen verschüttet. Die Künstlerin Natascha Sadr Haghighian hat hierzu mit ihrem Projekt „trail“ für die documenta 13 gezielt nachgeforscht. Große Teile der Ausstellung der documenta werden von jeher aus den Ausstellungsräumen in die Karlsaue verlagert, die aber zumeist nur als eine Art Spielwiese für die Künstler dient und von ihnen als historisch-gesellschaftlicher Ort nicht thematisiert wird. Mit „trail“ (siehe http://www.d13trail.de/) hat Sadr Haghighian sich der angrenzenden Straße „Schöne Aussicht“ gewidmet, von der man den Park übersehen kann und von dem hinab ein steiler Pfad führt. Dieser Pfad wurde im Jahr 1955 für die Bundesgartenschau mit Trümmern,u. a. der Henschel-Werke, angelegt. Die Künstlerin konnte sich zur Vorbereitung des Projekts mit vielen Menschen treffen, mit denen sie Erinnerungen, Assoziationen und Interpretationen über diesen für Kassel besonderen Ort ausgetauscht hat. Sie hat die Bepflanzungen, die heutige Nutzungen und auch das Tierleben in der Aue erkundet und versucht, deren Onomatopöie einzufangen und in ihre eigene künstlerische Ausdrucksweise zu übertragen. Dieser Übersetzungsvorgang ist von Anfang bis Ende als ein öffentlicher Prozess zu beobachten gewesen und hat großes Interesse und Anteilnahme der lokalen Bevölkerung gefunden. Dabei wurden die historischen Bezüge zwischen der Waffenfabrik der Familie Henschel – die nicht nur hauptsächlich von der Kriegsgüterproduktion lebte, sondern auch mehr als 20.000 Zwangsarbeiter beschäftigte – und der Bombardierung der Stadt durch die Alliierten in einer tast- und begehbaren Weise räumlich erfahrbar, wie dies ohne den Vermittlungsakt eines künstlerischen Projekts nicht möglich gewesen wäre. Das abstrakte Wissen über den Zusammenhang zwischen den Verbrechen des Nationalsozialismus, der Kriegszerstörung und dem modernen Wiederaufbau wurde durch „trail“ zu einem anschaulichen und erfahrbaren Lernraum, in dem die Teilnehmer eine Art von Wissensgemeinschaft bildeten, für die die „Schöne Aussicht“ nicht mehr ohne ein Verständnis der gesellschaftlichen Historie des Ortes sein wird. Das Projekt lebte von der medialen und direkten Diskussion mit der Künstlerin und konnte nur funktionieren, weil eine aktive Beteiligung sowohl der älteren Bewohner Kassels als Zeitzeugen und jüngeren Interessenten durch die documenta eingerahmt wurde. Doch diese Kunstausstellung leistete noch mehr. Gemäß ihrem Motto abstrahierte sie die Kasseler Erfahrungen und stellte sie in den Kontext heutiger Stadtzerstörungen, wobei vor allem die Zerstörung von Kabul thematisiert wurde, wo eine zeitgleiche Ausstellung von afghanischen Künstlern organisiert wurde. Der zeitversetzte Vergleich zwischen Kassel und Kabul sollte dazu dienen, zwischen beiden Städten Korrespondenzen aufzuzeigen. Die Fragestellung lautete:
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Eckardt, F. (2014). Künstlerische Stadtforschung. In: Stadtforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-00824-6_15
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