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Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ Symmetrisierungsprozesse in diskursiven Verfahren

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Ethik – Normen – Werte

Part of the book series: Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten ((SZEGG,volume 1))

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Zusammenfassung

Im Anschluss an Wolfgang van den Daeles Behauptung, in diskursiven Verfahren entstünde eine Distanzierung von moralischen Authentizitätsansprüchen und eine Konzentration auf Sachargumente, soll in diesem Beitrag gezeigt werden, wie sich in klinischen ethischen Fallbesprechungen die spezielle Argumentationsform „ethischer Sensibilisierung“ entwickelt. Unter dem Begriff der „ethischen Sensibilisierung“ soll dabei eine Selbstbeschreibung der Mitglieder von ethischen Diskursen verstanden werden, bei der - schlichter als eine Habermassche Diskurstheorie dies vermuten würde - die Reversibilität jedweden Arguments zugunsten einer Kultur der reversiblen Argumente behauptet wird. Während Theorien deliberativer Entscheidungsfindung üblicherweise kontrafaktisch eine Zukunft, in der entschieden sein wird, fokussieren, entdeckt der empirische Blick in Formen der ethischen Beratung eine Gegenwart, in der das bessere Argument zunächst nur eine Asymmetrie (die der ärztlichen Expertise gegenüber allen anderen) produziert. Insofern in einer solchen Gegenwart des Diskurses die Asymmetrie selbst zum Problem wird, entstehen nun Disziplinierungsformen, in deren Gefolge ärztliche Expertise - als Prototyp kohärenter Argumentation - zunächst entwertet werden muss, bevor sie gelten kann. Die Kultur der „ethischen Sensibilisierung“ lässt sich so als Argumentationstyp rekonstruieren, der zunächst einmal alles zerstört, was als vernünftiger Grund gelten kann.

Es handelt sich bei diesem Text um einen Wiederabdruck des gleichnamigen Textes in der Zeitschrift für Soziologie aus dem Jahre 2006 (Jg. 35, Heft 1, S. 41–56).

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Notes

  1. 1.

    Die folgenden Interviewpassagen beziehen sich in organisatorischer Hinsicht entweder auf das klassische Ethikkomitee (vgl. Lilje 1995), auf das Ethik-Forum, wie es von der Trägerschaft Dialog-Ethik initiiert und betreut wird (vgl. Medizin-ethischer Arbeitskreis Neonatologie des Universitätsspitals Zürich 2002) oder auf das Klinische Ethikkonsil (vgl. Reiter-Theil 1999). Unsere Untersuchung hat mit dem Modell interdisziplinärer Urteilsfindung der Neonatologie auch Fallbesprechungen miteinbezogen, welche von Stationsteams durchgeführt werden und deren Beschlüsse unmittelbar therapierelevant sind. Es spielt für die vorliegende Darstellung aber keine Rolle, ob die Entscheidung in der Praxis bereits gefasst wurde und sich die Fallbesprechung also retrospektiv mit einem Fall beschäftigt, oder ob dies prospektiv geschieht, denn die Vergleichbarkeit der Aussagen wird durch die Fokussierung auf die praktische Diskursivität gewährleistet.

  2. 2.

    Der Interviewte verweist hier auf einen Gesprächsleitfaden, welcher in Fallbesprechungen des Modells „Ethik-Forum“ zur Anwendung kommt. Dieser Gesprächsleitfaden sichert anhand von sieben Verfahrensschritten die Vollständigkeit des Verfahrens. Zusätzlich wird hier deutlich, dass ethische Fallbesprechungen in der Praxis in unterschiedlichen organisatorischen Zusammenhängen praktiziert werden.

  3. 3.

    Die Anspielung auf ein Training verweist auf den Grad der Institutionalisierung ethischer Fallbesprechungen. Mitunter können Fallbesprechungen – als eine unter anderen Aufgaben eines klinischen Ethikkomitees – erst trainiert werden, um eine gewünschte Diskussionskultur zu erreichen.

  4. 4.

    Zu dieser Behauptung, die sich hier nur vage im Anschluss an die Sätze der Interviewten formulieren lässt, müssten sich weitere Untersuchungen anschließen.

  5. 5.

    Eine funktionalistische Medizinsoziologie stößt an dieser Stelle schnell auf Kontexte, in denen die Asymmetrie der Arzt-Patienten-Interaktion einer Zeitperspektive geschuldet ist, die den Patienten auf eine hoffnungsvolle Zukunft festlegt, die also explizit „schamanische“ Anteile enthält, um einen Patienten behandlungsfähig zu machen, um seine „compliance“ zu gewinnen. Jenseits eines Diskurses der bloßen Inszeniertheit ärztlicher Expertise lässt sich an dieser Stelle besser von der „Performanz des Medizinischen“ sprechen, um der Funktionalität der Dramaturgie ärztlichen Handelns gerecht zu werden. (vgl. Saake 2004).

  6. 6.

    Der überzeugende Einwand von van den Daele und Neidhardt lautet: Öffentlichkeit/Massenkommunikation produziert Inszenierungsdruck, denn die Sprecher „kommunizieren gewissermaßen ‚zum Fenster hinaus‘“ (van den Daele und Neidhardt 1996, S. 19). Deshalb empfehlen sie, das Publikum auszuschließen. „Auf diese Weise wird die Zentrierung der Kommunikation unterstützt“ (van den Daele und Neidhardt 1996, S. 23). Und mit der folgenden Diagnose sind van den Daele und Neidhardt sehr viel skeptischer als Kettner: „Nach unseren Untersuchungen kann weder von einer massenmedialen Debatte noch von diskursiven Verfahren politischer Deliberation eine Konvergenz der Meinungen oder ein Entscheidungskonsens mit einiger Sicherheit erwartet werden“ (van den Daele und Neidhardt 1996, S. 46).

  7. 7.

    Die Homepage des NER macht entsprechende Selbstbeschreibungen zugänglich: www.ethikrat.org.

  8. 8.

    Es verwundert nicht, dass es dann im Folgenden wiederum nur um Hierarchien geht: „Die Einrichtung von KEKs verspricht allemal die Bewusstmachung, womöglich sogar die Lösung von schwerwiegenden Moralproblemen, die durch Stations-, Disziplin- und Statusgrenzen im modernen Klinikbetrieb entstehen“ (Kettner und May 2002, S. 39). Hierarchien werden dadurch nicht abgeschafft, denn – so die Autoren – es wäre eine unrealistische Hoffnung, „dass aus der Einrichtung von KEKs starke Impulse für die ‚Demokratisierung des Krankenhauses‘ ausgehen“ (Kettner und May 2002, S. 39). Aber: „Nicht unrealistisch, das zeigen amerikanische Erfahrungen, ist die Erwartung, dass die Präsenz eines Ethikkomitees in der Klinik die Arbeitszufriedenheit erhöht, weil es durch Partizipation die Möglichkeiten zur Bewältigung von ‚moralischem Stress‘ verbessert“ (Kettner und May 2002, S. 39). Ob die Entstehung von ‚moralischem Stress‘ auf die falschen Argumente oder auf asymmetrische Strukturen hinweist, ist dabei zunächst unklar.

  9. 9.

    Und noch einmal: „… it is that, with Balint, the doctor’s personal status is specifically given a kind of epistemological grounding, i.e. the ethical cultivation of the personality of the doctor is decisive in a directly therapeutic sense, it becomes a component internal to good practice itself“ (Osborne 1994, S. 521). Ärzte sind selbst Drogen, sagt folgerichtig Balint (vgl. Osborne 1994, S. 521).

  10. 10.

    Vielleicht ist es nicht untypisch, dass für Vernunfttheoretiker vieles an der Konsumgesellschaft zu scheitern scheint. Habermas hat in seiner Revision der Thesen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit die „Umstellung auf Massenkonsum bei wachsender arbeitsfreier Zeit“ (Habermas 1990, S. 25) als entscheidendes Problem herausgestellt. Während es den bürgerlichen Subjekten gelang, die Vorstellung von Freiheit und Gleichheit in ihrem Alltag als privatautonome Subjekte, als Eigentümer, mit einem Gefühl von Legitimität auszustatten, bleiben die heutigen Angestellten und Arbeiter als Klientel des Wohlfahrtsstaates auch in ihrer alltäglichen Praxis abhängig. Man kann – folgt man diesen Sätzen – nicht jemanden emanzipieren, in dessen Horizont die Erfahrung von Souveränität nicht auftaucht. Was man aber offensichtlich kann, ist, die Erfahrung der Illegitimität von Asymmetrien zu konservieren.

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Saake, I., Kunz, D. (2015). Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ Symmetrisierungsprozesse in diskursiven Verfahren. In: Nassehi, A., Saake, I., Siri, J. (eds) Ethik – Normen – Werte. Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten, vol 1. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-00110-0_9

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