Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird der Blick darauf gerichtet, wie Normen in theoretischen Diskussionen und Konzeptionen der Liebe und ihrer Funktion in modernen Gesellschaften figurieren. Normen, so die grundlegende These, tauchen in diesen Diskursen doppelt auf. Einmal (etwa bei Michael Warner) erscheinen sie in ihrer bedrohlichen Form als Gefahr der Normalisierung für authentische, andersartige und alternative (queere) Weisen der intimen Begegnung und Selbsterfahrung; am entgegengesetzten Pol der Diskussion findet sich aber (etwa bei Axel Honneth) auch die Hoffnung auf die Normativität von Normen, die im Kontext des Liebens kritische und welterzeugende Formen annehmen können. Der Beitrag plädiert dafür, dass sich dieser vermeintliche Widerspruch als konstitutive Spannung soziologisch nutzbar machen lässt, wenn das analysierte Phänomen empirisch im Kontext einer Gesellschaft der Gegenwarten gedeutet wird. Hierzu werden (intime) Selbstdarstellungspraktiken interpretiert, die dem Autor in Paarinterviews begegnet sind. In dieser Konfrontation von empirischen Ergebnissen mit intimitätssoziologischen und -theoretischen Diskursen lässt gerade der radikale Bruch mit gängigen Kontinuitätsunterstellungen, den das Konzept einer Gesellschaft der Gegenwarten vorschlägt, den Zusammenhang von Normen und Liebe in einem neuen Licht erscheinen: die spezifische Normativität des Liebens entpuppt sich als eine konstitutive Norm der Normabweichung.
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Notes
- 1.
Im Gegensatz zu Butler erkennt Warner keinen Unterschied zwischen dem Normalitäts- und dem Normativitätsbegriff an.
- 2.
Für Illouz ist Ironie „der rhetorische Trick einer Person, die zuviel weiß, die Wirklichkeit aber nicht ganz ernst nehmen möchte. Modernes romantisches Bewusstsein hat die rhetorische Struktur der Ironie, weil sie von einem entzauberten Wissen durchzogen ist, das volles Vertrauen und Verbindlichkeit verhindert“ (2008b, S. 219).
- 3.
Als empirisches Material stütze ich mich in dieser empirischen Untersuchung auf Paarinterviews. Ich beschränke mich hier auf Ergebnisse, die eine praxistheoretische Fassung des Normbegriffs im Hinblick auf den soziologischen Umgang mit Interviewdaten nahelegen.
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Stempfhuber, M. (2015). Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität in zeitgenössischen Theorien der Intimität. In: Nassehi, A., Saake, I., Siri, J. (eds) Ethik – Normen – Werte. Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten, vol 1. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-00110-0_4
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