Skip to main content

Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer Deliberation im Krankenhaus

  • Chapter
  • First Online:
Ethik – Normen – Werte

Part of the book series: Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten ((SZEGG,volume 1))

  • 13k Accesses

Zusammenfassung

Jedes denkbare Ereignis ist moralisierbar. Umso mehr stellt sich für die Soziologie die empirische Frage, wann welche Sachverhalte auf welche Weise moralisiert werden. Diese Frage lässt sich auch angesichts der aktuellen medizinethischen Diskussion stellen. Was ist in dieser vielfältigen und prominent geführten öffentlichen Diskussion zur Medizinethik ein ethischer Fall? Dass es hier Unterschiede gibt, zeigt bereits ein erster vorsichtiger Blick auf die medizin- resp. bioethische Beratungslandschaft: während sich Nationale Ethikgremien vorwiegend damit beschäftigen politische Entscheidungen vorzubereiten, befassen sich Forschungs-Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes (AMG) mit rechtlich klar definierten Prüfvorgaben, die eingehalten werden müssen, wenn klinische Forschung am Menschen durchgeführt wird. Klinische Ethik-Komitees (KEKs) schließlich lassen den Referenzrahmen nahezu völlig offen: dass ethisch beraten werden soll, wird in Satzungen und Selbstbeschreibungen von Klinischen Ethik-Komitees klar herausgestrichen – in welchen Problemlagen der ethische Gehalt aber gefunden werden soll, darüber verbleiben die Angaben relativ offen. Die Antwort auf die Frage, was ein ethischer Fall ist, wird im Falle Klinischer Ethik-Komitees offenbar vorwiegend in der Verfahrensform gesehen, nicht so sehr in der vorab erfolgten Bestimmung konkreter Fallkonstellationen. Drei Aufgaben werden den Klinischen Ethik-Komitees in der Literatur klassischerweise zugeschrieben: Beratung in konkreten ethischen Entscheidungssituationen, die Entwicklung von Richtlinien für ethisch problematische Entscheidungen und die Bildung über bioethische Sachverhalte erweitert diese Liste. Er geht von folgenden zehn Funktionen aus: Konsensfindungsfunktion, Streitentscheidungsfunktion, Demokratisierungsfunktion, Normsetzungsfunktion, Normdurchsetzungs- und Kontrollfunktion, Verantwortungszuschreibungsfunktion, Verantwortungsentlastungsfunktion, Publizitätsfunktion, Therapiefunktion, Beratungsfunktion.). Die Satzungen Klinischer Ethik-Komitees in Krankenhäusern führen diese relativ offene Aufgabenbeschreibung fort.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 39.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 49.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Joerden (2005) erweitert diese Liste. Er geht von folgenden zehn Funktionen aus: Konsensfindungsfunktion, Streitentscheidungsfunktion, Demokratisierungsfunktion, Normsetzungsfunktion, Normdurchsetzungs- und Kontrollfunktion, Verantwortungszuschreibungsfunktion, Verantwortungsentlastungsfunktion, Publizitätsfunktion, Therapiefunktion, Beratungsfunktion.

  2. 2.

    Ein Klinisches Ethik-Komitee in Hannover schreibt seine Aufgaben wie folgt fest: „Es bietet die Chance, in interdisziplinärer und systematischer Weise anstehende oder bereits getroffene Entscheidungen in den Bereichen Medizin, Pflege, Organisation und Ökonomie ethisch zu reflektieren und aufzuarbeiten.“ Ein KEK in Bremen erklärt in der Satzung: „Das KEK hat die Aufgabe, bei ethisch schwierigen Fragestellungen Orientierung und Hilfe anzubieten.“ Etwas konkreter wird ein Tübinger Komitee: „Zu den Problembereichen gehören u. a. die Therapiebegrenzung am Lebensende, Aufklärung und Einwilligung, Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch.“

  3. 3.

    Das verwendete empirische Datenmaterial hierzu entstammt dem DFG-Projekt „Klinische Ethik-Komitees: Weltanschaulich-konfessionelle Bedingungen und kommunikative Strukturen ethischer Entscheidungen“ (Leitung: Prof. Dr. Armin Nassehi, Prof. Dr. Reiner Anselm, Prof. Dr. Michael Schibilsky), das im Zeitraum von Juli 2003 bis August 2004 in soziologischer und theologischer Zusammenarbeit entstanden ist. Vier klinische Ethik-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland wurden untersucht. Der Auswertung liegen insgesamt 74 Beobachtungsprotokolle von Sitzungen klinischer Ethik-Komitees zu Grunde. Die Daten wurden nach den gängigen wissenschaftlichen Regeln transkribiert und anonymisiert.

  4. 4.

    So lesen sich etwa die Ausführungen in der Begründungsschrift der konfessionellen Krankenhausverbände zu klinischen Ethik-Komitees: „Im Namen der Ethik heißt: Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit. Die Rolle der allgemeinen Ethik ist es dann, dafür zu sorgen, dass das, was aus den verschiedenen Fachbereichen als fachlich richtig erkannt wurde, wahrzunehmen und die unterschiedlichen Standpunkte gerecht und ausführlich zu Wort kommen zu lassen, so dass diese für die anderen auf ihrem jeweiligen Hintergrund plausibel und einsichtig werden. Bei dieser unparteilichen und formalen Moderation wird es darum gehen, allgemeine ethische Werte wie Wahrhaftigkeit, Respekt vor dem Anderen, Freiheit und Selbstbestimmungsrecht vor dem Hintergrund des konkreten Konfliktes zu entfalten und mit in den Entscheidungsfindungsprozess einzubringen.“ (Katholischer Krankenhausverband Deutschlands/Deutscher Evangelischer Krankenhausverband 1997, S. 10, Hervorh. E.W.).

  5. 5.

    Insofern lässt sich aus dem hier zur Darstellung gebrachten empirischen Material eine Ergänzung der Argumentation von Alexander Bogner vornehmen, wenn dieser beobachtet, dass in Bürgerkonferenzen keine ethische Argumentation zustande kommt: „Ein freies Flottieren ethischer Argumente lässt sich nicht beobachten, jedenfalls nicht im Plenum. Die ethische Debatte blieb der Selbstorganisation der Bürger überlassen; sie fand in Kleingruppen und in privaten Treffen am Rande der Veranstaltung statt.“ (Bogner 2010, S. 101). Bogner scheint damit davon auszugehen, dass Bürger immer schon wüssten, was ethische Argumentation meinen könnte. Diese ergibt sich jedoch nicht einfach von selbst, sondern muss je nach Problembezug der Situation erst praktisch erzeugt werden.

  6. 6.

    „Mediating […] conflicts and facilitating decision making for incapacitated patients are among the most frequent and effective interventions by the ethics committee.“ (Farber Post et al. 2007, S. 30 f.)

  7. 7.

    Vgl. typisch: „One Flew Over The Cuckoo’s Nest“, Regie: Miloš Forman, 1975.

  8. 8.

    Diese hier formulierte Kritik folgt damit den Einwänden von Axel Honneth, der dafür im Übrigen die Zustimmung von Luc Boltanski erhielt (Boltanski und Honneth 2009, S. 98, 100).

Literatur

  • Abels, G., & Bora, A. (2004). Demokratische Technikbewertung. Bielefeld: Transcript.

    Google Scholar 

  • Bogner, A. (2009). Ethisierung und die Marginalisierung der Ethik. Soziale Welt, 60, 119–137.

    Google Scholar 

  • Bogner, A. (2010). Partizipation als Laborexperiment. Paradoxien der Laiendeliberation in Technikfragen. Zeitschrift für Soziologie, 39(2), 87–105.

    Google Scholar 

  • Bogner, A., Menz, W., & Schumm, W. (2008). Ethikexpertise in Wertkonflikten. Zur Produktion und politischen Verwendung von Kommissionsethik in Deutschland und Österreich. In R. Mayntz, F. Neidhardt, P. Weingart, & U. Wengenroth (Hrsg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer. Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit (S. 243–268). Bielefeld: Transcript.

    Google Scholar 

  • Boltanski, L., & Honneth, A. (2009). Soziologie der Kritik oder Kritische Theorie? Ein Gespräch mit Robin Celikates. In R. Jaeggi & T. Wesche (Hrsg.), Was ist Kritik? (S. 81–114). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Boltanski, L., & Thévenot, L. (2007). Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft. Hamburg: Hamburger Edition.

    Google Scholar 

  • Deleuze, G. (1992). Differenz und Wiederholung. München: Wilhelm Fink.

    Google Scholar 

  • Deutscher Evangelischer Krankenhausverband & Deutscher Katholischer Krankenhausverband. (1997). Ethik-Komitees im Krankenhaus. Freiburg.

    Google Scholar 

  • Farber Post, L., Blustein, J., Neveloff, C., & Dubler, N. (Hrsg.). (2007). Handbook for health care ethics committees. Baltimore: Johns Hopkins University Press.

    Google Scholar 

  • Fateh-Moghadam, B., & Atzeni, G. (2009). Ethisch vertretbar im Sinne des Gesetzes – Zum Verhältnis von Ethik und Recht am Beispiel der Praxis von Forschungsethikkommissionen. In S. Vöneky, C. Hagedorn, M. Clados, & J. von Achenbach (Hrsg.), Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht – Interdisziplinäre Untersuchungen (S. 115–143). Berlin: Springer. (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht herausgegeben von Bogdandy, A. und Wolfrum, R.).

    Chapter  Google Scholar 

  • Forst, R. (1994). Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Freidson, E. (1979). Der Ärztestand. Berufs- und wissenschaftssoziologische Durchleuchtung einer Profession. In J. Rohde & W. Schoene (Hrsg.). Stuttgart: Enke.

    Google Scholar 

  • Habermas, J. (1983/1999). Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Hucklenbroich, P. (2005). Wie die Theorie medizinethischer Beratungsorgane in die Theorie der Medizin eingebettet werden kann. Erwägen Wissen Ethik, 16, 35–38.

    Google Scholar 

  • Joerden, J. C. (2005). Mögliche Funktionen von Ethik-Komitees. Erwägen Wissen Ethik, 16, 38–41.

    Google Scholar 

  • Kettner, M. (2005). Ethik-Komitees. Ihre Organisationsformen und ihr moralischer Anspruch. Erwägen Wissen Ethik, 16, 3–16.

    Google Scholar 

  • Knoepffler, N. (2005). Real existierende Ethik-Komitees – meist nicht diskursethisch modelliert. Erwägen Wissen Ethik, 16, 43–45.

    Google Scholar 

  • Krohn, W. (1999). Funktionen der Moralkommunikation. Soziale Systeme, 5(2), 313–338.

    Google Scholar 

  • Lachmund, J., & Stollberg, G. (1992). The doctor, his audience, and the meaning of illness. The drama of medical practice in the late 18th and early 19th centuries. In J. Lachmund & G. Stollberg (Hrsg.), The social construction of illness (S. 53–66). Stuttgart: Steiner.

    Google Scholar 

  • Laclau, E. (1996). Emanzipation und Differenz. Wien: Turia/Kant.

    Google Scholar 

  • Lilje, C. (1995). Klinische, ethics consultation’ in den USA: Hintergründe, Denkstile und Praxis. Stuttgart: Enke.

    Google Scholar 

  • Luhmann, N. (1972). Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas. In J. Habermas & N. Luhmann (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (S. 291–404). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Nassehi, A. (2003). Offenheit und Geschlossenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Nassehi, A. (2004). Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik. Zeitschrift für Soziologie, 33(2), 98–118.

    Google Scholar 

  • Nassehi, A. (2006). Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Nida-Rümelin, J. (2001). Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft. Stuttgart: Reclam.

    Google Scholar 

  • Nassehi, A. (2008). Organisation – Macht – Medizin. Unterbrechungen in einer Gesellschaft der Gegenwarten. In I. Saake & W. Vogd (Hrsg.), Mythen der Medizin (S. 379–398). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

    Google Scholar 

  • Parsons, T. (1951/1968). The social system. New York: Free Press.

    Google Scholar 

  • Saake, I. (2003). Die Performanz des Medizinischen. Zur Asymmetrie in der Arzt-Patienten-Interaktion. Soziale Welt, 54, 223–254.

    Google Scholar 

  • Stollberg, G. (2001). Medizinsoziologie. Bielefeld: Transcript.

    Google Scholar 

  • Siegrist, J. (1977). Soziologie der Arzt-Patient-Beziehung. In J. Siegrist (Hrsg.), Lehrbuch der Medizinischen Soziologie (S. 168–219). München: Urban & Schwarzenberg.

    Google Scholar 

  • Simon, A. (2000). Klinische Ethikberatung in Deutschland. Erfahrungen aus dem Krankenhaus Neu-Mariahilf in Göttingen. Berliner Medizinethische Schriften 36. Dortmund: Humanitas.

    Google Scholar 

  • Spicker, S. F. (Hrsg.). (1998). The healthcare ethics committee experience. Selected readings from HEC-forum. Florida: Krieger.

    Google Scholar 

  • Sulilatu, S. (2008). Klinische Ethik-Komitees als Verfahren der Entbürokratisierung? In I. Saake & W. Vogd (Hrsg.), Moderne Mythen der Medizin, Studien zur organisierten Krankenbehandlung (S. 285–306). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

    Google Scholar 

  • Tarde, G. (1883/2009). Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Vogd, W. (2008). Paradoxien einer chirurgischen Abteilung, deren leitende Akteure zugleich entscheiden und funktionieren sollen. In I. Saake & W. Vogd (Hrsg.), Moderne Mythen der Medizin Studien zu Problemen der organisierten Medizin (S. 109–139). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

    Google Scholar 

  • Wagner, E. (2008). Der Arzt und seine Kritiker. Zur Aktivierung authentischer Publika im Krankenhaus. In I. Saake & W. Vogd (Hrsg.), Moderne Mythen der Medizin. Studien zu Problemen der organisierten Medizin (S. 265–284). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

    Google Scholar 

  • Wagner, E., & Fateh-Moghadam, B. (2005). Freiwilligkeit als Verfahren. Zum Verhältnis von Lebendorganspende, medizinischer Praxis und Recht. Soziale Welt, 56(1), 73–98.

    Article  Google Scholar 

  • Wagner, E., & Atzeni, G. (2011). Risiko und Verfahren. Zur Legitimationsfunktion der Ethik am Beispiel von Ethik-Komitees und Ethikkommissionen der Arzneimittelforschung. Dickel, Sascha/Franzen,Martina/Kehl, Christoph (Hrsg.): Herausforderung Biomedizin. Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis. (S. 67–86). Bielefeld: transcript.

    Google Scholar 

  • Wagner, E., & Atzeni, G. (2013). Zwischen Ethik und Recht. Zum Umgang mit medizinischer Ungewissheit am Beispiel von Klinischen Ethik-Komitees und Ethikkommissionen der Arzneimittelforschung. in C. Peter & D. Funcke (Hrsg.), Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin (S. 367–382). Frankfurt/New York, Campus.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Elke Wagner .

Editor information

Editors and Affiliations

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2015 Springer Fachmedien Wiesbaden

About this chapter

Cite this chapter

Wagner, E. (2015). Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer Deliberation im Krankenhaus. In: Nassehi, A., Saake, I., Siri, J. (eds) Ethik – Normen – Werte. Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten, vol 1. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-00110-0_11

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-00110-0_11

  • Published:

  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-00109-4

  • Online ISBN: 978-3-658-00110-0

  • eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)

Publish with us

Policies and ethics