Zusammenfassung
Jedes denkbare Ereignis ist moralisierbar. Umso mehr stellt sich für die Soziologie die empirische Frage, wann welche Sachverhalte auf welche Weise moralisiert werden. Diese Frage lässt sich auch angesichts der aktuellen medizinethischen Diskussion stellen. Was ist in dieser vielfältigen und prominent geführten öffentlichen Diskussion zur Medizinethik ein ethischer Fall? Dass es hier Unterschiede gibt, zeigt bereits ein erster vorsichtiger Blick auf die medizin- resp. bioethische Beratungslandschaft: während sich Nationale Ethikgremien vorwiegend damit beschäftigen politische Entscheidungen vorzubereiten, befassen sich Forschungs-Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes (AMG) mit rechtlich klar definierten Prüfvorgaben, die eingehalten werden müssen, wenn klinische Forschung am Menschen durchgeführt wird. Klinische Ethik-Komitees (KEKs) schließlich lassen den Referenzrahmen nahezu völlig offen: dass ethisch beraten werden soll, wird in Satzungen und Selbstbeschreibungen von Klinischen Ethik-Komitees klar herausgestrichen – in welchen Problemlagen der ethische Gehalt aber gefunden werden soll, darüber verbleiben die Angaben relativ offen. Die Antwort auf die Frage, was ein ethischer Fall ist, wird im Falle Klinischer Ethik-Komitees offenbar vorwiegend in der Verfahrensform gesehen, nicht so sehr in der vorab erfolgten Bestimmung konkreter Fallkonstellationen. Drei Aufgaben werden den Klinischen Ethik-Komitees in der Literatur klassischerweise zugeschrieben: Beratung in konkreten ethischen Entscheidungssituationen, die Entwicklung von Richtlinien für ethisch problematische Entscheidungen und die Bildung über bioethische Sachverhalte erweitert diese Liste. Er geht von folgenden zehn Funktionen aus: Konsensfindungsfunktion, Streitentscheidungsfunktion, Demokratisierungsfunktion, Normsetzungsfunktion, Normdurchsetzungs- und Kontrollfunktion, Verantwortungszuschreibungsfunktion, Verantwortungsentlastungsfunktion, Publizitätsfunktion, Therapiefunktion, Beratungsfunktion.). Die Satzungen Klinischer Ethik-Komitees in Krankenhäusern führen diese relativ offene Aufgabenbeschreibung fort.
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Notes
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Joerden (2005) erweitert diese Liste. Er geht von folgenden zehn Funktionen aus: Konsensfindungsfunktion, Streitentscheidungsfunktion, Demokratisierungsfunktion, Normsetzungsfunktion, Normdurchsetzungs- und Kontrollfunktion, Verantwortungszuschreibungsfunktion, Verantwortungsentlastungsfunktion, Publizitätsfunktion, Therapiefunktion, Beratungsfunktion.
- 2.
Ein Klinisches Ethik-Komitee in Hannover schreibt seine Aufgaben wie folgt fest: „Es bietet die Chance, in interdisziplinärer und systematischer Weise anstehende oder bereits getroffene Entscheidungen in den Bereichen Medizin, Pflege, Organisation und Ökonomie ethisch zu reflektieren und aufzuarbeiten.“ Ein KEK in Bremen erklärt in der Satzung: „Das KEK hat die Aufgabe, bei ethisch schwierigen Fragestellungen Orientierung und Hilfe anzubieten.“ Etwas konkreter wird ein Tübinger Komitee: „Zu den Problembereichen gehören u. a. die Therapiebegrenzung am Lebensende, Aufklärung und Einwilligung, Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch.“
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Das verwendete empirische Datenmaterial hierzu entstammt dem DFG-Projekt „Klinische Ethik-Komitees: Weltanschaulich-konfessionelle Bedingungen und kommunikative Strukturen ethischer Entscheidungen“ (Leitung: Prof. Dr. Armin Nassehi, Prof. Dr. Reiner Anselm, Prof. Dr. Michael Schibilsky†), das im Zeitraum von Juli 2003 bis August 2004 in soziologischer und theologischer Zusammenarbeit entstanden ist. Vier klinische Ethik-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland wurden untersucht. Der Auswertung liegen insgesamt 74 Beobachtungsprotokolle von Sitzungen klinischer Ethik-Komitees zu Grunde. Die Daten wurden nach den gängigen wissenschaftlichen Regeln transkribiert und anonymisiert.
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So lesen sich etwa die Ausführungen in der Begründungsschrift der konfessionellen Krankenhausverbände zu klinischen Ethik-Komitees: „Im Namen der Ethik heißt: Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit. Die Rolle der allgemeinen Ethik ist es dann, dafür zu sorgen, dass das, was aus den verschiedenen Fachbereichen als fachlich richtig erkannt wurde, wahrzunehmen und die unterschiedlichen Standpunkte gerecht und ausführlich zu Wort kommen zu lassen, so dass diese für die anderen auf ihrem jeweiligen Hintergrund plausibel und einsichtig werden. Bei dieser unparteilichen und formalen Moderation wird es darum gehen, allgemeine ethische Werte wie Wahrhaftigkeit, Respekt vor dem Anderen, Freiheit und Selbstbestimmungsrecht vor dem Hintergrund des konkreten Konfliktes zu entfalten und mit in den Entscheidungsfindungsprozess einzubringen.“ (Katholischer Krankenhausverband Deutschlands/Deutscher Evangelischer Krankenhausverband 1997, S. 10, Hervorh. E.W.).
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Insofern lässt sich aus dem hier zur Darstellung gebrachten empirischen Material eine Ergänzung der Argumentation von Alexander Bogner vornehmen, wenn dieser beobachtet, dass in Bürgerkonferenzen keine ethische Argumentation zustande kommt: „Ein freies Flottieren ethischer Argumente lässt sich nicht beobachten, jedenfalls nicht im Plenum. Die ethische Debatte blieb der Selbstorganisation der Bürger überlassen; sie fand in Kleingruppen und in privaten Treffen am Rande der Veranstaltung statt.“ (Bogner 2010, S. 101). Bogner scheint damit davon auszugehen, dass Bürger immer schon wüssten, was ethische Argumentation meinen könnte. Diese ergibt sich jedoch nicht einfach von selbst, sondern muss je nach Problembezug der Situation erst praktisch erzeugt werden.
- 6.
„Mediating […] conflicts and facilitating decision making for incapacitated patients are among the most frequent and effective interventions by the ethics committee.“ (Farber Post et al. 2007, S. 30 f.)
- 7.
Vgl. typisch: „One Flew Over The Cuckoo’s Nest“, Regie: Miloš Forman, 1975.
- 8.
Diese hier formulierte Kritik folgt damit den Einwänden von Axel Honneth, der dafür im Übrigen die Zustimmung von Luc Boltanski erhielt (Boltanski und Honneth 2009, S. 98, 100).
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Wagner, E. (2015). Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer Deliberation im Krankenhaus. In: Nassehi, A., Saake, I., Siri, J. (eds) Ethik – Normen – Werte. Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten, vol 1. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-00110-0_11
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