Zusammenfassung
Wie lässt sich Religion praxistheoretisch deuten? Der Nutzen dieses Konzepts besteht vor allem in der Identifizierung von Religion als unterscheidbare Praktik. Religion wird hier als kontingente Verkettung spezifischer Praktiken innerhalb einer Praxisformation verstanden. Derartige Praxisformationen der Religion werden ausführlich beschrieben – auch um Luckmanns „unsichtbare Religion“ mit den Mitteln der Praxisforschung sichtbar zu machen.
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Notes
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„Dass ‚Religion‘ immer und überall mit einer Scheidung der Welten und der Dinge in ‚heilige‘ und ‚profane‘ zu tun habe, wie es uns in der Religionssoziologie seit Durkheim geläufig ist, ist eine christozentrische Projektion par excellence.“ (Matthes 1993, S. 22; vgl. Matter 2007, S. 21) Für Jacques Derrida (vgl. 2001) ist es wegen der christlichen Herkunft des höchst voraussetzungsreichen Religionsbegriffs letztlich unmöglich, über Religion zu sprechen, ohne sie zu verengen. Ganz ähnlich wie Derrida argumentiert Bruno Latour (vgl. 2011), der die Religion mit der Liebe vergleicht, von der man sich letztlich auch keinen Begriff machen kann. In soziologischer Perspektive bleibt dies allerdings schon deshalb unbefriedigend, weil man der Religion auch gleichgültig gegenüber stehen kann und sie zudem als das genaue Gegenteil von Liebe erfahren kann. Dies zeigt: Als Sozialwissenschaftlerin muss man sich trotz aller Schwierigkeiten einen Begriff von der Religion machen, um religiöse Praxis untersuchen zu können, die nämlich nicht selten folgenreich für viele Menschen ist. Dazu ist es aber sehr wichtig, die Bedeutungsgehalte des Religionsbegriffs zu dekonstruieren, wie es unter anderen Derrida (vgl. 2001) vornimmt. Vgl. zur Genealogie des religionssoziologischen Diskurses Daniel und Hillebrandt (2012).
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Beispielhaft formuliert Bourdieu (1976, S. 253): „Überall kann die Logik nur sein, wenn sie in Wahrheit nirgendwo ist.“
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Stefan Hirschauer (vgl. 2004) beschreibt diese Vorgänge des Zusammenwirkens unterschiedlicher Aktanten sehr anschaulich am Beispiel der medizinischen Operation.
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Latour vermeidet es durch eine derartig prozessuale Fassung des Netzwerkbegriffs, die zu untersuchenden Praktiken als essenziell gegeben zu verstehen. Dies hat weitreichende Konsequenzen für jede Soziologie, die Latour mit folgenden beiden Aussagen plakativ umschreibt: „Sozial zu sein, ist nicht länger eine sichere und unproblematische Eigenschaft, sondern eine Bewegung.“ (2007, S. 21) „Sozial ist kein Ort, kein Ding, keine Domäne oder irgendeine Art von Stoff, sondern eine provisorische Bewegung neuer Assoziationen“ (Latour 2007, S. 410).
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Vor dem Hintergrund dieses Theorievorschlags lässt sich eine klassische und wohl bekannte Definition der Religion durch Émile Durkheim meines Erachten neu verstehen und in gewinnbringender Weise aktualisieren: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. Das zweite Element, das in unserer Definition auftaucht, ist nicht weniger wichtig als das erste; denn wenn man zeigt, dass die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, dass die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist“ (1984, S. 75; Hervorh. weggelassen).
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„Religion wurzelt in einer grundlegenden anthropologischen Tatsache: Das Transzendieren der biologischen Natur durch den menschlichen Organismus. Diese Fähigkeit des einzelnen Menschen entsteht ursprünglich in gesellschaftlichen Vorgängen, die in der Reziprozität in face-to-face-Situationen gründen. […] Die gesellschaftlichen Formen der Religion beruhen somit in gewissem Sinne auf einem individuellen religiösen Phänomen: Die Individuation des Bewusstseins und des Gewissens auf dem Boden und nach dem Muster der menschlichen Intersubjektivität.“ (Luckmann 1991, S. 108; Hervorh. F. H.) Wird Religion in dieser Weise definiert, kann sich eine Soziologie der Religion die soziale Welt nicht mehr ohne Religion vorstellen, was nun angesichts der historischen Bedingtheit des Religionsbegriffs, auf die ich gleich eingangs hingewiesen habe, nicht nur verwunderlich, sondern auch völlig verfehlt ist.
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Hillebrandt, F. (2014). Die Religion als Praxisformation. In: Heiser, P., Ludwig, C. (eds) Sozialformen der Religionen im Wandel. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-00096-7_6
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