Zusammenfassung
Summarisch kann ich behaupten, dass jeder Zwangsneurose die Funktion innewohnt, den betroffenen Zwangsneurotiker jedem äusseren Zwang dadurch zu entziehen, dass er nur seinem eigenen Zwang gehorcht, mit anderen Worten, der Zwangsneurotiker wehrt sich so sehr gegen Kooperation, gegen jeden fremden Willen und gegen jede fremde Beeinflussung, dass er im Kampf gegen sie soweit gelangt, seinen eigenen Willen als heilig und unwiderstehlich hinzustellen. Dadurch allein schon verrät er, dass er in allem vorwiegend nur an sich, nicht an die andern denkt, was auch aus seinem sonstigen Leben trotz allen Trugs erschlossen werden kann. Ein äusserst lehrreicher Fall ist z. B. folgender: Eine 40jährige Dame klagt darüber, dass sie nichts im Hause leisten kann, weil sie für die einfachsten Dinge das Verständnis verloren habe. Sie stehe deshalb unter dem Zwange, alles was sie tun solle, sich erst zu wiederholen. Dann könne sie es ausführen. Hätte sie z. B. einen Stuhl zum Tisch zu stellen, so müsse sie erst sagen: „ich soll den Stuhl zum Tisch stellen!“ Dann gelinge ihr diese Arbeit. — Die Patientin muss erst einen fremden Willen, die Verpflichtung zur (weiblichen!) Hausarbeit, zur Kooperation, zu ihrem eigenen machen, um etwas leisten zu können. Wer sich der schönen Arbeit Furtmüllers, „Ethik und Psychoanalyse“ (München, E. Reinhardt 1912) erinnert, kennt diesen Mechanismus als einen tragenden der Ethik. In der Zwangsneurose steht er als Grundpfeiler, der dem Patienten ermöglicht seine quasi Gottähnlichkeit sich zu beweisen, indem jeder andere Einfluss nullifiziert erscheint. Kurz erwähne ich noch, wie der Waschzwang ermöglicht, alle Umgebung als unrein zu demonstrieren, wie der Masturbationszwang den Einfluss des sexuellen Partners unterbindet, wie der Betzwang in eigentümlicher Weise alle himmlische Macht dem Beter zur Verfügung zu stellen scheint. „Wenn ich das nicht tue, wenn ich dieses sage oder verrichte, wenn ich nicht jenes Gebet, jene Worte spreche, wird diese oder jene Person sterben.“ Der Sinn wird sofort klar, wenn wir die positive Fassung der Formel hinstellen, etwa: wenn ich dies tue oder unterlasse, wenn ich meinen eigenen Willen wirken lasse, wird die Person nicht sterben. Nun hat der Patient einen Scheinbeweis, als ob er Herr über Leben und Tod, also gottähnlich wäre.
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Dieses Kapitel ist Teil des Digitalisierungsprojekts Springer Book Archives mit Publikationen, die seit den Anfängen des Verlags von 1842 erschienen sind. Der Verlag stellt mit diesem Archiv Quellen für die historische wie auch die disziplingeschichtliche Forschung zur Verfügung, die jeweils im historischen Kontext betrachtet werden müssen. Dieses Kapitel ist aus einem Buch, das in der Zeit vor 1945 erschienen ist und wird daher in seiner zeittypischen politisch-ideologischen Ausrichtung vom Verlag nicht beworben.
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© 1930 J. F. Bergmann, München
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Adler, A. (1930). Zur Funktion der Zwangsvorstellung als eines Mittels zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühles. In: Praxis und Theorie der Individual-Psychologie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-99710-5_16
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