Zusammenfassung
In der Seele des Menschen liegen zwei Arten der Erkenntnissuche begründet, das Erkennen durch Begriffsbildung, durch das Suchen nach Gesetzen und Regeln unter Zuhilfenahme von Abstraktionen, Theorien und Hypothesen, und das Erkennen durch unmittelbare Bewußtseinsakte, durch das „Schauen“, sei es nun einfaches sinnliches Schauen oder geistige Anschauung, Intuition. Beide Arten der Erkenntnismöglichkeit werden von jedem Menschen unablässig in Dienst gestellt; aber dem einen Individuum liegt das Erkennen durch Schauen näher, dem anderen das Erkennen durch Begriffsbildung. Das Erkennen durch Schauen hat unzweideutig Beziehungen zur Kunst, das Erkennen durch Begriffsbildung zur Wissenschaft. So hat ein Goethe, als vorzugsweise zum Schauen geborener Mensch, stets eine Abneigung gegen begriffsbildende, zergliedernde Wissenschaft gehabt; in seiner Farbenlehre ist uns seine aufs Schauen und unmittelbares Erleben eingestellte Erkenntnisweise im Gegensatz zu den analysierenden und begriffsbildenden Bestrebungen der Physik, zu denen er nie ein Verhältnis gewinnen konnte, besonders deutlich gegeben. Auch die Art, wie er auf seiner italienischen Reise seine Eindrücke festhielt, macht seine aufs Sinnliche, auf Anschauung eingestellte Erkenntnisweise deutlich, und erst in der nachitalienischen Zeit, zum Teil unter dem Einfluß Schillers, wurde er einem diskursiven Denken geneigter und ließ das intuitive Erfassen und Erleben gelegentlich zurücktreten hinter Analyse und Synthese, auch in seiner Arbeit.
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Ewald, G. (1924). Einleitung. In: Temperament und Charakter. Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie, vol 41. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-99510-1_1
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