Zusammenfassung
Wenn wir in ganz allgemeiner Weise die intellektuelle Verarbeitung und Verwertung sinnlicher Eindrücke ins Auge fassen, so können wir als die einfachste und grundlegende Leistung die Unterscheidung des Ungleichen voranstellen 1). Es ist eine der wichtigsten Tatsachen der Sinnesphysiologie, daß dieser Unterscheidung überall bestimmte Grenzen gesteckt sind. Wenn wir den Unterschied zweier Farben, zweier Helligkeiten, zweier Töne usw. geringer und geringer machen, so kommen wir an eine Grenze, bei der der Beobachter die beiden Empfindungen für gleich hält, also nicht anzugeben vermag, ob von zwei aneinanderstoßenden Feldern das rechte oder das linke heller, ob von zwei nacheinander gehörten Tönen der erste oder der zweite der höhere ist. Wir bezeichnen die an der Grenze der Erkennbarkeit stehenden Unterschiede als Schwellenwerte, speziell als Unterschiedsschwellen, und sprechen in diesem Sinne von einer Unterschiedsempfindlichkeit für Helligkeiten, für Tonhöhen usw. Die Unterschiedsempfindlichkeit steht im umgekehrten Verhältnis zu den Schwellenwerten: je geringer die eben noch wahrnehmbaren Unterschiede sind, um so höher werden wir die Unterschiedsempfindlichkeit bewerten. Die Tatsache, daß jeder Unterschied einen bestimmten Mindestwert erreichen muß, um erkennbar zu werden, hängt offenbar mit ganz allgemeinen physiologischen Verhältnissen zusammen, die freilich in ihrem letzten Grunde vorderhand noch dunkel sind. — Die Erfahrung lehrt ferner, daß für jedes Sinneswerkzeug auch der einzelne Reiz eine gewisse Mindeststärke besitzen muß, um überhaupt eine merkbare Empfindung hervorzurufen. Wir sprechen demgemäß auch von absoluten Schwellenwerten, die wir den Unterschiedsschwellen gegenüberzustellen pflegen, und einer absoluten Empfindlichkeit. Ein Schall muß, um hörbar zu sein, unserem Ohr einen Energiewert von mindestens 5. 10−16 Erg in der Sekunde zuführen; ein Licht von bestimmter Stärke und Ausdehnung wird unsichtbar, wenn wir die Zeit seiner Einwirkung auf das Auge unter einen gewissen Wert vermindern. Ganz entsprechenden Tatsachen begegnen wir übrigens auch in der Funktion unserer Bewegungsorgane. Auch der Muskel beantwortet eine äußere Einwirkung, einen Reiz, mit einer Bewegung nur dann, wenn jener Anstoß einen gewissen, wiederum als Schwelle zu bezeichnenden Stärkegrad erreicht. Der „unterschwellige“ Reiz bleibt unwirksam.
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Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie XIV. S. 249. 1890.
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von Kries, J. (1926). Intellektuelle Verarbeitung des Gehörten. In: Wer ist Musikalisch?. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-99284-1_2
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