Zusammenfassung
Einen Begriff bestimmen heißt nach alter guter Lehre seine wesentlichen Merkmale angeben. Die Grundlage und der Ausgangspunkt einer solchen Angabe ist stets eine Ansammlung von Stoff; man muß erst das Material zusammentragen, d. h. Erfahrungen sammeln über die Gegenstände oder Erscheinungen, deren Begriff bestimmt werden soll, also z. B. wenn es gilt, den Begriff der Strafe zu bilden, Vorstellungen gewonnen haben von häuslichen, kirchlichen, staatlichen Strafen, von ihren mittelalterlichen und neuzeitlichen Formen, von Leibes-, Freiheits- und Ehrenstrafen usw. Sodann durchsucht man diesen Stoff auf Merkmale, die überall wiederkehren, stellt also eine Vergleichung an, wobei sich die Ausdehnung auf verwandte Erscheinungen als unumgänglich erweist; so läßt sich, um beim Beispiel zu bleiben, der Begriff der Strafe nur bilden, wenn man Strafe und Schadensersatz, Bestrafungen und Belohnungen und ähnliches mehr vergleicht.
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Literatur
Es ist mehrfach mit Erfolg versucht worden, den Unterschied zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft begrifflich scharf zu fassen; vgl. Tönnies, Gemeinschaft u. Gesellschaft 1887, 3. Aufl. 1920, Stammler, Lehrbuch S. 218, Heinz Mahr, Proletarisches Verlangen 1921 mit der ansprechenden Formulierung (S. 11): „Gesellschaft ist Mechanismus und Kalkül, Gemeinschaft Organismus und Gefühl“. Soviel ich sehe, darf es dem Sprachgefühl überlassen bleiben, wann das eine und wann das andere Wort den Vorzug verdient.
Zur Geschichte des Gesellschaftsbegriffs vgl. Berolzheimer, System II, S. 322, 337.
Die methodologische Seite der Frage ist vorzüglich behandelt worden von Kistiakowski, Gesellschaft und Einzelwesen 1899.
Vgl. G. Jellinek, Allg. Staatslehre, in der 1. Aufl. S. 76.
In der Literatur findet sich eine erfreulich weitreichende Übereinstimmung über das Wesen der Nation. Vgl. etwa Fr. J. Neumann, Volk u. Nation 1888, G. Jellinek, Allg. Staatslehre S. 104, Ruedorffer, Grundzüge der Weltpolitik 1914, S. 5, Bruno Bauch, Vom Begriff der Nation 1916. Ganz konnten wir keinem folgen, z. B. Jellinek nicht, weil seine Definition (S. 106), „Vielheit von Menschen, die durch eine Vielheit gemeinsamer, eigentümlicher Kulturelemente und eine gemeinsame geschichtliche Vergangenheit sich geeinigt und dadurch von anderen unterschieden weiß,“auch auf andere Kulturkreise, etwa die deutsche Arbeiterschaft oder die englische Aristokratie, paßt.
Das tat ich in meiner Habilitationsschrift (Die schuldhafte Handlung 1901) und bin im Anschluß hieran 1903 von den Rechtsnormen auf die Kulturnormen zurückgegangen. Die Kennzeichnung dieser Schrift als „glückliche Synthese Kohlerscher und Binding scher Rechtsphilosophie“(Berolzheimer, System II, S. 402), die gerne wiederholt wird (zuletzt wieder Sauer, Grundlagen desStrafrechts S. 269), muß ich, soweit sie auf Kohler Bezug nimmt, schon deswegen ablehnen, weil Kohlers erste Darstellung der Rechtsphilosophie später (1904 in der ersten Aufl. der Neubearbeitung der Holtzendorffschen Enzyklopädie) erschienen ist und seine früheren ethnologischen Abhandlungen (Zusammenstellung bei Berolzheimer a. a. O. S. 439) eine systematische Verwertung des Kulturbegriffs überhaupt nicht anstreben.
Das gilt auch für die auf Rickert scher Grundlage aufgebaute vorwiegend methodologische Abhandlung von Müller-Eisert, Rechtswissenschaft u. Kulturwissenschaft 1917.
So zumZweck der „Modernisierung Hegels“vgl. oben S. 17. Die Zitate sind aus Kohler, Moderne Rechtsprobleme 1907 (S. 2 u. 8) entnommen (2. Aufl. 1913).
Hervorzuheben Radbruch in Logos II, S. 200 und Grundzüge, bes. S. 39 u. 89 (Gesamtheit absoluter Werte). Sauer, Grundlagen des Strafrechts 1921, verdrängt zwar den Kulturdurch den Wertbegriff (vgl. dazu unter b), würdigt den ersteren aber als Summe objektiver Werte.
Kultur undRechtl918 (zweiAbh., die zuerst 1914 in der Zeitschr. für Rechtsphil. I, S. 347 und im Juliheft der Monatsschrift „Die Tat“erschienen sind). — Ferner die oben S. 20 zit. kritische Übersicht über die Rechtsphilosophie der Gegenwart.
Salomon, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, bestimmt zwar die Philosophie als Prinzipienlehre der Kultur (S. 118), zieht aber nicht die danach zu erwartenden Konsequenzen.
Zutreffend Leonhard Cohn, Das objektiv Richtige (Heft 46 der Kant-Studien), 1919, S. 65, „die Kulturnormen sagen nichts über ihre Richtigkeit“, womit Cohn die absolute Richtigkeit meint.
Vgl. meinen Allg. Tl. des Strafrechts S. 41; daselbst auch das im Text folgende Zitat.
Etwa in der Art von Jakob Burckhardt, vgl. bes. seine Weltgeschichtlichen Betrachtungen, herausgeg. von Jakob Oeri 1905.
Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde. 1920/21.
Somlo S. 56; daselbst Näheres über die Arten der Normen.
Die gleiche Definition in meinem Allg. Teil des Strafrechts S. 64.
Du sollst nicht lügen. Wenn sich Besuch melden läßt, darfst du nicht wahrheitsgemäß sagen lassen, du wünschest, in der Arbeit nicht gestört zu werden, wohl aber wahrheitswidrig, du seist nicht zu Hause. — Du sollst Tiere nicht quälen. Du darfst Füchse mit der Meute hetzen und Treibjagden auf Hasen veranstalten, darfst Reihern die Federn ausreißen (für Damenhüte) und Gänse mästen. — Was dich nicht brennt, das blase nicht; wenn du aber einen fremden Mann, der ein Kind roh quält, prügelst, verdienst du Lob (andrer Ansicht das geltende Recht). — Du sollst, wenn du Arzt bist, dem qualvoll Leidenden das Leben mit allen Mitteln deiner Kunst erhalten, dem Sterbenden darfst du den Todeskampf erleichtern und (?) verkürzen. — Du darfst deines Vaters Tochter nicht heiraten, auch wenn sie eine andere Mutter hat als du selbst; aber die Tochter des Bruders deines Vaters darfst du heiraten, selbst wenn ihre Mutter und deine Mutter Geschwister sind. — Du sollst jeden nach seiner Façon selig werden lassen; wenn du aber der alleinseligmachenden Kirche eine Seele zuführst, rechnet diese Kirche es dir als ein großes Verdienst an. — Rechts ausweichen, links vorfahren.
Es wird die Verständlichkeit nicht fördern, mag aber doch beiläufig bemerkt werden, daß die kritische Funktion des Kulturprozesses sich als „transzendente Kritik“von der „immanenten Kritik“, die durch die Rechtsnorm geübt wird, unterscheidet.
So das griechische δíϰη, das hebräische Mischpat, das indische dhárma, das tabu der Naturvölker, die alle gleichmäßig Recht, Sitte und Sittlichkeit bezeichnen und auf den göttlichen Willen mehr oder weniger Bezug nehmen. Vgl. Jhering, Zw. i. R. II, in der 3. Aufl. S. 51, Somlo S. 122/23.
Die oft, besonders von Kelsen (Hauptprobleme S. 33) herangezogene Unterscheidung von autonomen und heteronomen Normen ist nur geeignet, Verwirrung anzurichten, wie das z. B. bei Radbruch S. 54—58 deutlich hervortritt. Alle sozialen Regeln sind für das Individuum heteronom, denn sie werden von einer Gesellschaft gesetzt. Daß daran gezweifelt wird, liegt hauptsächlich an der Verwechslung der moralischen Ordnung mit dem moralischen Ideal (vgl. unten 3b u. II 3), wofür Somlo S. 67 ein Beispiel bietet. Zutreffend Stammler, Th. der Rw. S. 457. Auch Weigelin, Sitte, Recht u. Moral S. 13 verwirft den Unterschied.
G. Rümelin, Über die Lehre vom Gewissen 1884; Träger, Wille, Determinismus, Strafe 1895, S. 160; Gerland, Das Gewissen, Gerichtssaal Bd. 65, 1905; Stammler, Lehrb. S. 187.
Ebenso unter Bezugnahme auf Darwin Paul Hensel, Hauptprobleme der Ethik 1903, S. 19.
Dasselbe Ergebnis, z. B. bei Külpe, Einleitung in die Philosophie, in dem Abschnitt über die ethischen Richtungen (in der 10. Aufl. S. 321). Dieses Buch ist wegen seiner neutralen Haltung besonders geeignet, über die verschiedenen Lehrmeinungen Auskunft zu geben.
Grundlegend noch immer Jheeing, Zweck im Recht Bd. 2. Ferner erwa Tönnies, Die Sitte 1909, und Weigelin, Sitte, Recht und Moral 1919, woselbst weiterführende Literaturangaben zu finden sind.
Vgl. Weigelin a. a. O. S. 109.
Daher ganz unhaltbar Stammlers Unterscheidung (neuerdings wieder Lehrb. S. 82) von „selbstherrlich verbindendem Wollen“— charakteristisch für das Recht — und dem „nur eine Einladung an die zu Verbindenden“bedeutendem Wollen — charakteristisch für die Konventionalregeln.
An die Tatsache, daß „ein Recht ohne Staat ebensowenig denkbar ist wie ein Staat ohne Recht“(Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre S. 406), knüpft die unnötig breitgetretene Kontroverse an, ob dem Staat oder dem Recht die logische Priorität zukomme. Da zweifellos das Recht der Wille des Staates ist, ist der Staat genau in dem Sinne Schöpfer des Rechts wie mein Wille der Schöpfer meiner Handlungen ist. Nur in diesem (modifizierten) Sinne ist es richtig, daß Staat und Recht nur die zwei Seiten einer Gegebenheit sind. So Kelsen a. a. O., Radbruch S. 83. Vgl. Jellinek, Allg. Staatslehre, 3. Aufl. S. 364.
Das Recht im weitern Sinn steht außerhalb der Definition; vgl. die Ausführungen unter a.
Nach der Entzifferung weiß man nicht mehr, als daß das Recht diejenige Gemeinschaftsregelung ist, die nicht Sitte und nicht Willkür ist, und das ist zu wenig. Außerdem sind die Abgrenzungen kaum haltbar; über Selbstherrlichkeit oben S. 50, Anm. 1; das Merkmal der Unverletzbarkeit, durch das Recht und Willkür geschieden werden sollen, ist schon deswegen abzulehnen, weil Willkür „kein begrifflicher Gegensatz zum Recht, sondern entweder unrichtiges Recht oder rechtswidriges Verhalten ist“. So zutreffend Radbruch S. 43.
Zur Einführung in die verzweigte Literatur sei verwiesen auf Bierling, Jurist. Prinzipienlehre I, S. 50, Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre S. 212, Somlo S. 140, neuerdings ausführlich Weigelin, Sitte, Recht und Moral S. 118.
Unter den Einwänden, die gegen die Zwangsnatur des Rechts vorgebracht werden, spielt ein kleinlicher eine große Rolle (über einen zweiten vgl. nachher unter b). Man verweist auf leges imperfectae, besonders auf klaglose Forderungsrechte (naturalis obligatio), etwa auf BGB. § 762, „durch Spiel oder durch Wette wird eine Verbindlichkeit nicht begründet“. Als ob ein Gesetzbuch nicht gelegentlich ein Geschäft erwähnen dürfte, das nicht Rechtsgeschäft ist! Es wird sehr oft durch den Zusammenhang dadurch genötigt; es muß das Verlöbnis erwähnen, obwohl es nicht klagbar ist, muß von Spiel und Wette sprechen, schon um der Erwartung entgegenzutreten, daß sie andern Verträgen gleichstehen. Nimmt man gar die Fortsetzung des § 762 hinzu, die bezahlte Spiel- oder Wettschuld kann nicht mit der Begründung, es habe keine Verbindlickheit bestanden, zurückgefordert werden, so rücken Spiel und Wette unter den Rechtsschutz; der befriedigte Gläubiger nimmt an den staatlichen Zwangsmitteln teil, um das Empfangene behalten zu dürfen. Und wenn die Beziehung zum Zwang nicht in jedem Fall so nahe ist, fehlt sie doch kaum je völlig. Daher hat das Argument im ganzen nicht mehr Gewicht, wie wenn jemand der Lehre, daß die Gesetze Rechtspflichten aufstellen, durch Verweisung auf RV. Art. 163 entgegentreten wollte, wo „die sittliche Pflicht“, die Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert, proklamiert ist. Vorzüglich entkräftet Brodmann, Recht und Gewalt, S. 51 ff. die Bedenken gegen die Zwangstheorie.
Diese Unterscheidung deckt sich nicht mit der von Adolf Merkel in der Jurist. Enzykl. (S. 25 der 5. Aufl.) getroffenen, „das Recht als Lehre und Macht“, knüpft aber an sie an.
M. E. Mayer, Allg. Teil des Strafrechts S. 58.
Franz Klein, Die psychischen Quellen des Eechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, 1912.
Das darf wohl als herrschende Lehre bezeichnet werden; vgl. Radbruch, S. 180, Stammler, Lehrb. S. 144 u. 162.
Daher ist es z. B. unrichtig, daß Somlo die gewöhnliche Befolgung unter die Merkmale des Rechts aufnimmt (oben S. 53); dazu zutreffend Kelsen, Problem der Souveränität 1920, S. 100.
Theodor Sternberg, Allgem. Rechtslehre I, S. 23. — Über die vielfach (namentlich von Bierling) vertretenen Anerkennungstheorien vgl. Kelsen, Hauptprobleme S. 351, Somlo S. 138, auch Sternfeld a. a. O.
Nänere Ausführungen hierzu in meinem Lehrbuch (Allg. Tl. des Strafrechts) S. 45.
Vgl. M. E. Mayer, Allg. Teil des Strafrechts S. 24.
Auswahl aus der Literatur: Zitelmann, Arch. f. ziv. Praxis Bd. 66,1883; Bruno Schmidt, Das Gewohnheitsrecht 1899; Ehrlich, Tatsachen des Gewohnheitsrechts 1907; Danz, Rechtsprechung nach der Volksanschauung und dem Gesetz 1908; Oertmann, Rechtsordnung und Verkehrssitte 1914; Somlo S. 350.
Recht und Sittlichkeit in den Kantstudien Bd. 18; vgl. dazu Salomon, Grundlegung zur Rechtsphilosophie S. 194ff., bes. S. 203.
Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. Aufl. 1908, S. 45. Der Ausspruch kommt tiberein mit Jherings Lehre, nach der es die Lebensbedingungen der Gesellschaft sind, die im Schutze des Rechts stehen, denn beidemal wird aus der Gesamtheit der sozialen Normen und Pflichten das „Existenzminimum“herausgelöst.
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Mayer, M.E. (1933). Der Begriff des Rechts. In: Rechtsphilosophie. Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, vol 1. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-99222-3_2
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