Zusammenfassung
Die Ziele dieses Buches sind weitgesteckte: auf Grund einer Reihe von Krankengeschichten Schizophrener und Paraphrener sollen seelische Zusammenhänge dargestellt werden und seelische Erlebnisreihen zur Erfassung kommen. Es wäre ungenügend, nur die ruhenden Gebilde der Seele zu betrachten, sie zu zergliedern und zu beschreiben, sie in Reihen zu ordnen und zu klassifizieren. Freilich ist die sorgfältige Erfassung dessen, was im seelischen Erleben unmittelbar gegeben ist, ein unumgängliches Erfordernis und notwendige Voraussetzung. Eine derartige Arbeit ist aber unvollständig und unbefriedigend, denn es gehört zum Wesen des Psychischen, daß es in der Zeit verläuft, daß es eine Vergangenheit hat und in die Zukunft strebt. Ruhendes Seelenleben ist nur eine Abstraktion, und das Ruhende erhält seinen Sinn erst aus dem Flusse des Werdens. Jede deskriptive Psychologie ist und bleibt eine vorläufige, ist nur Vorarbeit, Vorbereitung, ist nur Teil der Gesamtpsychologie, welche auf den Strom des Erlebens zielt und nicht nur auf Querschnitte dieses Stromes. Jedes durch Momentaufnahme erfaßte Bruchstück des Seelischen erhält Sinn und Bedeutung durch das, was neben ihm, vor ihm und nach ihm ist. Die psychologische Analyse ist also auch Vergangenheitsanalyse. Vergangenheit und Gegenwart tragen den Zukunftskeim in sich, sie lassen in die zentralen Haltungen, in das Streben des Ich Einblick gewinnen. Die Entwicklungsgeschichte der Gegenwart ist auch die der Zukunft, so muß die Psychologie auch Folgen berücksichtigen, will sie sich nicht ihrem ureigensten Sinne entfremden. Sie darf nicht scheu an genetischen Gesichtspunkten vorbeigehen, denn Seelisches ist Genesis. Hiermit ist bereits der Untersuchungsmethode der Weg vorgezeichnet. Deskriptive Psychologie muß durch psychogenetische Forschung vervollständigt werden. Nur die Erfassung des strömenden Erlebens kann uns die Verbindung der Psychologie mit der Naturwissenschaft bringen. Die Naturwissenschaft hat ja die Folge zum Gegenstand. Sie bestimmt gesetzmäßige Folgen. Kann man nicht auch im Seelenleben gesetzmäßige Folgen antreffen?
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
H. G. Steinmann: Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. Arch. f. d. ges. Psychol. Jg. 36, S. 391, 1916.
Mayer-Groß: Die Stellungnahme zur abgelaufenen akuten Psychose. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u.Psychiatr., Jg. 60, S. 160, 1920. Beiträge zur Psychopathologie schizophrener Endzustände Jg. 69, S. 332, 1921. Einen vollständigen Überblick über die einschlägige Literatur gibt Kronfeld: Über neuere pathol.-psychiatr.-phänomenologische Arbeiten. Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. Jg. 28, H. 9, 1922.
Author information
Authors and Affiliations
Additional information
Besonderer Hinweis
Dieses Kapitel ist Teil des Digitalisierungsprojekts Springer Book Archives mit Publikationen, die seit den Anfängen des Verlags von 1842 erschienen sind. Der Verlag stellt mit diesem Archiv Quellen für die historische wie auch die disziplingeschichtliche Forschung zur Verfügung, die jeweils im historischen Kontext betrachtet werden müssen. Dieses Kapitel ist aus einem Buch, das in der Zeit vor 1945 erschienen ist und wird daher in seiner zeittypischen politisch-ideologischen Ausrichtung vom Verlag nicht beworben.
Rights and permissions
Copyright information
© 1923 Springer-Verlag Berlin Heidelberg
About this chapter
Cite this chapter
Schilder, P. (1923). Einleitung. In: Seele und Leben. Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie, vol 35. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-99073-1_1
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-642-99073-1_1
Publisher Name: Springer, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-642-98262-0
Online ISBN: 978-3-642-99073-1
eBook Packages: Springer Book Archive