Konstruktionen: die Genese der Scham

Zusammenfassung

So wie Poseidons Sohn Antäus von Zeit zu Zeit die Erde, seine Mutter, berühren mußte, um seine Stärke zu erneuern, so ist es für uns nach diesem theoretischen Exkurs vonnöten, zu klinischer Beobachtung zurückzukehren. Für diesen Zweck werde ich einige (Re)konstruktionen verwenden. „Eine Konstruktion ist es…, wenn man dem Analysierten ein Stück seiner vergessenen Vorgeschichte… vorführt“(Freud 1937 b, S. 47). Meine Absicht ist es nicht, die gesamte Geschichte der hauptsächlichen unbewußten Konflikte eines Patienten darzulegen, sondern die Teile vorzustellen, die hier relevant sind, d. h. jene Konflikte, die zu der symptomatischen Vorherrschaft von Scham und zu den Abwehrmechanismen gegen diesen Affekt führen.

… ὡς ὁϱῶμεν οὐχ ὁϱώμενοι.

(… So könnten wir sehen, aber nicht gesehen werden.)

(Euripides, Die Bakchen)

»Elle savait donc que la source des rayons épanchés de nos yeux était dans nos âmes, auxquelles ils servaient de route pour pénétrer l’une chez l’autre ou pour se confondre en une seule, se séparer, jouer comme deux femmes sans défiance qui se disent tout.«

(Sie wußte daher, daß die Quelle der Strahlen, die von unseren Augen ausgesendet werden, in unseren Seelen war, für die sie als Wege dienten, sich gegenseitig zu durchdringen oder in eines zu verschmelzen, sich zu trennen, wie zwei Frauen, die sich alles erzählen, miteinander ohne Argwohn zu spielen.)

(Balzac, Die Lilie im Tale)

“Everything had something behind it: Life was like a long, long corridor with rows of closed doors. She had learned that at these doors it was wise not to knock — this seemed to produce from within such sounds of derision.“

(Hinter allem lag etwas anderes: Das Leben war wie ein langer, langer Korridor mit endlosen Reihen geschlossener Türen. Sie hatte gelernt, daß es weise war, nicht an diese Türen zu klopfen — denn dies schien dahinter Hohngelächter hervorzurufen.)

(Henry James, Maisie)