Zusammenfassung
Wenn man sich über den Mechanismus der vorgriechischen Mathematik einigermaßen Klarheit verschaffen will, so muß man zunächst den äußeren Apparat dieser Mathematik, d. h. die Rechentechnik verstehen. Für die ganze vorgriechische Mathematik ist es eigentümlich, daß sie uns in allen ihren Texten nicht in allgemeinen Formeln oder geometrischen Beweisen Euklidischen Stiles entgegentritt, sondern nur durch zahlenmäßig vorgerechnete Einzelbeispiele. Man ist also schon aus äußeren Gründen veranlaßt, sich mit der ägyptischen und babylonischen Rechentechnik auseinanderzusetzen, denn ohne sie zu kennen ist es gar nicht möglich, die Fragen der numerischen Behandlung einer Aufgabe von den sachlichen Methoden zu scheiden. Darüber hinaus zeigt aber die nähere Untersuchung der vorgriechischen Mathematik, daß die tiefgehenden Unterschiede zwischen der ägyptischen und der babylonischen Mathematik ganz wesentlich bedingt sind durch den Grad, in welchem man das rein Numerische zu beherrschen verstanden hat. Es wird eine der wesentlichsten Aufgaben dieser Vorlesungen sein, zu zeigen, daß die volle Beherrschung aller numerischen Probleme die eigentliche Voraussetzung für das hohe Niveau der babylonischen Mathematik bildet, ebenso wie der Zustand der ägyptischen Mathematik bedingt ist durch die eigentümliche Richtung, in der sich die ägyptische Rechentechnik im Gegensatz zur babylonischen entwickelt hat. Für die vorgriechische Mathematik ist also das Studium ihrer Rechentechnik ebenso wesentlich wie die Kenntnis der eigentümlichen „geometrischen Algebra“ für das Verständnis etwa der Archimedischen Integrationsmethoden oder der griechischen Theorie der Kegelschnitte. Es betrifft also wirklich die Grundlagen der vorgriechischen Mathematik, wenn wir uns zunächst mit ihrer numerischen Methode vertraut machen.
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© 1969 Springer-Verlag Berlin, Heidelberg
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Neugebauer, O. (1969). Einleitung. In: Vorlesungen über Geschichte der antiken mathematischen Wissenschaften. Die Grundlehren der mathematischen Wissenschaften, vol 43. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-95095-7_1
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