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Zusammenfassung

Ich bekam gestern abend spät Ihr so reizendes Brief chen. Natürlich legte ich die Einlage, die hier wieder zurückfolgt, neben mich, um zuvörderst Ihre lieben Zeilen zu lesen. Ich las mit immer wachsendem Entzücken; als ich aber gar an die Stelle kam, wo Sie selbst spät abends noch hastig auf die Eisenbahn laufen, damit—so drängt es Sie—Ihr Brief nur gar schnell genug hinkömmt—ja, da konnte ich mich kaum von dieser Stelle trennen. Ich las sie immer und immer wieder und dann den ganzen Brief immer und immer wieder und verfiel endlich in träumerisches Sinnen!—Einen solchen Zug denkt kein Denker sich aus, erfindet nicht einmal ein Poet. Aber begreifen kann ihn der Denker, wenn er ihn vorfindet, und dann ermessen, was alles darinnen liegt an Jugendfrische, an Herzensgüte, an heiligem, rührendem Eifer, an … Ach, mein Gott, wozu alles aufzählen, was da drinnen liegt! Wie frostig ist diese Nomenklatur gegen jenen Gang, grade wie der Leichnam unter dem anatomischen Messer gegen den heißen, lebendigen Körper. Ich war, wie gesagt, in träumerisches Sinnen verloren. Es dauerte über eine halbe Stunde, ehe ich mich erinnerte, daß ich ja auch noch einen Genuß des Stolzes zu befriedigen hätte. Ich hatte an diesen Genuß vergessen, wie ich an den Stolz selbst vergessen hatte. Das Herz hatte ihn verschlungen. Jetzt erinnerte ich mich. Leise lächelnd griff ich nach dem Brief. Zuerst verdroß es mich, daß der Verfasser eine Dame ist. Ein Mann wäre mir so viel lieber gewesen! Aber die Reflexion eines Augenblickes zeigte mir, wie unrichtig das sei! Ich habe im Rheinland—und daher oder aus Westfalen stammt doch der Brief—in der ganzen Zeit, ich glaube nicht vier Damen kennen gelernt. Natürlich, die Haften, die Kriminalprozesse, die Agitationen, die immensen Arbeiten der Zivilprozesse raubten mir Zeit wie Lust, mich auf weibliche Gesellschaft einzulassen. Die Verfasserin kann also, was sie sagt, nicht nur nicht aus sich selbst haben, sie kann es nicht einmal von einer andern Dame gehört haben, die es aus sich hat. Folglich—es ist kein anderer Rückschluß möglich—sind es die Männer, die so sehr vor ihren Frauen über mich räsoniert haben, daß dies die Wirkung davon ist. Kaum hatte ich mir dies Räsonnement gemacht, als ich wieder von oben bis unten in Selbstvergnügtheit eingewickelt war, wie eine frostige Dame an spätem Winterabend in ihren Schal!

Dienstag. [15. Dezember 1857.]

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Gustav Mayer

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Dieses Kapitel ist Teil des Digitalisierungsprojekts Springer Book Archives mit Publikationen, die seit den Anfängen des Verlags von 1842 erschienen sind. Der Verlag stellt mit diesem Archiv Quellen für die historische wie auch die disziplingeschichtliche Forschung zur Verfügung, die jeweils im historischen Kontext betrachtet werden müssen. Dieses Kapitel ist aus einem Buch, das in der Zeit vor 1945 erschienen ist und wird daher in seiner zeittypischen politisch-ideologischen Ausrichtung vom Verlag nicht beworben.

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Mayer, G. (1923). Lassalle an Lina Duncker. In: Mayer, G. (eds) Lassalles Briefwechsel von der Revolution 1848 bis zum Beginn seiner Arbeiteragitation. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-94436-9_73

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