Zusammenfassung
Um das Eigenartige der Gestalt recht eindringlich klar zu machen, hat v. Ehrenfels (7) eine merkwürdige Überlegung angestellt. Die Töne eines kurzen Musikstückes seien einmal einem Individuum in ihrem natürlichen Zusammenhang vorgetragen; sodann aber sei jeder Einzelton mit seiner besonderen zeitlichen Bestimmtheit je einem anderen Hörer getrennt gegeben. Die Summe der Bewusstseinseinheiten von den Einzeltönen ist dann um etwas ärmer als das eine Bewusstsein, das die Vorstellung der ganzen Melodie umfasst. Für das „Mehr“, das einen derartigen Vorstellungskomplex vor der Summe von Einzelbewusstheiten auszeichnet, hat v. Ehrenfels den Namen „Gestaltqualität“ eingeführt. Abgesehen von der Fragwürdigkeit, die in der Voraussetzung liegt, es liessen sich die Bewusstseinsinhalte verschiedener Individuen addieren, bleibt in dieser Überlegung noch zweierlei unsicher. Besitzen die Individuen, die jeweils nur einen Ton vernahmen, wirklich isolierte Bewusstseinseinheiten, und ist in dem Augenblick, in dem ich eine Gesamtmelodie erfasse, wirklich die Summe ihrer Einzeltöne gegenwärtig? Mögen diese Bedenken zunächst einmal zurückstehen, so erkennt man immerhin, dass die v. Ehrenfels sehe Gestaltqualität auf einen eigentümlichen Tatbestand am Musikstücke abzielt, nämlich auf das, was wir gewöhnlich Melodie nennen. Darüber hinaus wird in dem beschriebenen Denkexperiment behauptet: Melodie ist nicht schlechthin Summe von Tönen; jene Gruppe von Menschen, die sämtliche Einzeltöne getrennt hörten, hat zusammengenommen keine Ahnung von der Gestaltqualität des Ganzen. Den Beweis für diese These erbringt v. Ehrenfels indessen mit dem Hinweise auf die Transponierbarkeit.
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Literatur
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© 1929 J. F. Bergmann, München
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Matthaei, R. (1929). Ganzheit negativ bestimmt. In: Das Gestaltproblem. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-94432-1_3
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