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Politische Tätigkeit und meine Stellung zum Judentum

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Ein bewegtes Gelehrtenleben
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Zusammenfassung

Sehr frühzeitig erwachte meine Anteilnahme an der Politik. Mannigfache äußere Umstände trugen dazu bei. Das un-geheure Erlebnis des siebziger Krieges mit dem einheitlichen Jubel eines großen Volkes und dem dadurch bedingten Stolz, diesem Volke angehören zu dürfen. Die besondere Zusammen-setzung des Schülerkreises am kgl. Wilhelmsgymnasium, wo die Söhne von Staatsmännern, Reichs- und Landtagsabgeordneten, Feldherren, Gelehrten usw. zu Hause von soviel poli-tischem Handeln hörten, daß sie unwillkürlich davon etwas in die Schule mitbrachten. Schon als 14–15 jähriger konnte ich nicht genug von der Tagespolitik zu hören und zu sehen be-kommen, und verschaffte mir durch die Söhne des Ministers von Schelling wiederholt Eingang zu guten Tribünen des Reichs- und Landtages, wenn die Verhandlungen in die Schul-ferien fielen. Jch verschlang die Geschichtswerke Rankes, Häußers, Taines, Macaulays über die französische und englische Revolution, die ich in der Bücherei meines Baters fand, und die ich mir heimlich zu verschaffen wußte, da er — mit Recht — diesen Lesestoff als noch nicht geeignet für mich ansah und außerdem bemerkte, daß diese Betätigung meinem Fort-kommen in der Schule nicht gerade forderlich war. Sehr eingehend vertiefte ich mich in die deutschen Kerfassungskämpfe, die Geschichte der achtundvierziger Bewegung, und las begierig die stenographischen Berichte aus der Zeit des preußischen Berfassungsstreits von 1862 bis 1866, die im Besitz meines Baters waren. Lebhaftesten Anteil nahm ich an der Ende der siebziger Jahre entstehenden christlich-sozialen Bewegung Stöckers und besuchte als Siebzehn- und Achtzehnjähriger Ber-sammlungen, in denen neben Stöcker, Eugen Richter und Sozialdemokraten wie Most und andere sprachen. — Auch zu Hause wurde viel über Politik gesprochen; mein Bater war nationalliberal, der Mann meiner ältesten Schwester, ein Sohn eines seinerzeit sehr bekannten Freihändlers und Statistikers Dr. Otto Hübner, unentwegter Fortschrittler, so daß beide häufig in politischen Streit gerieten. — Ich war selbstverständ-lich radikal mit stark sozialistischer Färbung, aber doch nicht, wie es im Anfang von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ heißt, als normales Produkt des humanistischen Gymnasiums Republikaner, wohl aber erfüllt von der Überzeugung, daß durch Einführung des parlamentarischen Systems ein Strom von Wohlfahrt und Glückseligkeit über Reich und Volk sich er-gießen würde. Je mehr von der Obersekunda an meine Leiden-schaft für Geschichte durch die für Philosophie verdrängt wurde, um so mehr nahm auch meine Beschäftigung mit der Tages-politik ab. Freilich wurde sie in den ersten Studienhalbjahren in Leipzig wieder angestachelt, wo die gesamte Studentenschaft von den Fragen des Antisemitismus und — Spiritismus in starke Aufregung versetzt war. Als Burschenschafter habe ich mich am wenigsten um Politik gekümmert, die damals bei den meisten Burschenschaften gar keine Rolle mehr spielte, und je mehr ich mich mit Naturwissenschaften und theoretischer Medizin beschäftigte, um so konservativer wurde ich, und wurde schließlich durch meine eigene wissenschaftliche Arbeit immer mehr von der Beschäftigung mit der Tagespolitik, soweit es sich nicht um ganz große Fragen handelte, abgelenkt.

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Literatur

  1. Selbst ein so geistvoller, vornehmer und hochkultivierter Mann wie Rathenau ist nicht ganz frei davon und neigt dazu, die Leistungen des jüdischen Volkes zu über-und die des deutschen Volkes zu unterfchätzen. Nach ihm hat das jüdische Volk trotz seiner Kleinheit „die größte Zahl welt-bestimmender Genialitäten aller Nationen überhaupt erzeugt“ (Gesammelte Schriften Bd. 5, S. 406.), während im deutschen Volk „seit hundert Jahren schöpferisch Gedanken nicht mehr entstanden find“ ! (Ebenda S. 274.)

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  2. Sehr bemerkenswert ist ja in dieser Hinficht, mas Winnig über die Stellung von K. Marxzu dem sozialiftifch-kommunistischen Vorläufer, den Schneidergefellen Weitling, schreibt, den er voller hohn über sein „Ge-schwätz“ und „Liebessabbelei“, ablehnte.

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  3. Das Berl. Tagebl. hat in seinem kleinen Aufsatz vom 5. 1. 28 „Abschied von Prof. Lubarsch“ u. a. geschrieben: „… er hat in feiner Schrift: ‚Zur Frage der hochschulreform‘, antisemitische Tendenzen erkennen lassen, die bei ihm befonders grotesk wirkten. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Einleitung, die er zu Richard Semons Buch über ‚Bewusztseinsvorgang und Gehirnprozeß“ gefchneben hat.ß Das Berl. Tagebl. scheint also zu meinen, ich hätte dem Judentum zuliebe in einer kurzen Lebensbeschreibung R. W. Semons einen so wichtigen Schritt wie seinen Übertritt zum Chriftentum entweder verheimlichen oder seine Beweggründe fälschen sollen — denn was ich darüber ohne hinzusügung eigener Meinung geschrieben, stammt wörtlich aus einigen von ihm an mich gerichteten Briefen.

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  4. Ein so eigenartiger und selbständiger Denker, wie W. Rathenau hat bekanntlich mehrfach zu der Frage der Übertritte der Juden zum Christentum Stellung genommen und ebenfalls, das, was mich so lange vom Übertritt abhielt, als einen Haupthinderungsgrund bezeichnet, daneben aber noch, daß, mit dem Übertritt äußere Dorteile verbunden waren, die gerade feinfühlige Natur zurückhalten mußten. Das ist zuzugeben. Auch ich habe es immer für etwas widersinniges gehalten, wenn man demselben Menschen, den man noch kurz vorher als der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörig, für unfähig hielt, Rorpsstudent, Reserveoffizier, Regierungsassessor usw. zu werden, dies zubilligte, sobald er sich rein äußerlich zur christlichen Rirche bekannt hatte. Der Fehler lag darin, das man dies als das einzige und noch dazu zuoerlässige Merkmal der Lösung vom Judentum ansah.

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  5. Hellpach: Politische Prognose für Deutfchland, S. 374. S. Fischer 1928. Ein zweifellos sehr lehrreiches und von dem Bestreben nach Sachlichkeit erfülltes Buch, das aber schon in seiner Widmung (Friedrich dem Sroßen, Stein, Bismarck, Friedr. Naumann, Friedr. Ebert und Hugo Preuß) an ein Buch Hans von Gagerns, des Daters von Heinrich und Friedr. v. G., erinnert, der seine Sittengeschichte, Napoleon, Erzherzog Rarl v. Üfterreich, Friedrich Wilhelm III. und Stein widmete.

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  6. Ich weiß nicht, ob Hellpach nicht mehr hätte nennen können, aber das weiß ich, das aus der gleichen Zeit in Preußen viel mehr genannt werden können. Jch sehe ab von dem Theologen Nleander, dessen Einfluß auf die praktische evangel. Theologie in Preußen ein ungemein großer und nachhaltiger war, und dem Schöpfer des Programms der konservatioen Partei, den Rechtslehrer Stahl, aber ich möchte doch die Minister Friedberg, Friedenthal, Leonhardt und den Reichsgerichtspräsidenten Simson nennen, sowie den späteren Rolonialdirektor Ranser, der von Bismarck selbst ins auswärtige Amt gezogen wurde, obgleich er sogar Better eines sozialdemokratischen Abgeordneten war.

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  7. In diefer Hinsicht sind einige Bemerkungen recht lehrreich, die sich in dem Buch Sidney Lees über Rönig Eduard VII. finden. Da heißt es (S. 54): „Es wurde damals vielfach kritisiert, daß in des Rönigs Freundeskreis die Juden vorherrschen“ und S. 55: „Er (Ed. VII.) ist sehr geschickt, ist aber immer von einer Schar von Juden und einem Rreis von Tursleuten umgeben. Er hat diefelbe Vorliebe sür Luxus, Vergnugen und Romsort wie die Semiten“.

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  8. Als ich im Sommer 1882 in Heidelberg als Einjährig-Freiwilliger diente, war ein Oberleutnant der Reserve eingezogen, der eine Zeitlang unsere Rompagnie führte, ein dunkelhaariger und dunkeläugiger, aber zweifellos nicht einen Tropfen jüdifchen Blutes enthaltender Philologe, der mitunter etwas übertrieben den strammen Preußen herausbiß. Die Mannschaft, die den aktven blonden Oberleutnant E., der mitunter die Rompagnie bis zum umfallen zwiebelte, geradezu liebte, schimpfte auf den Referveoberleutnant in maßlostester Weife und nannte ihn nur „den niederträchtigsten Judenlümmel“. — Das waren doch wirklich keine Ronseroative, Aristokraten oder Oberlehrer und universitätsprofessoren !

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  9. Das schließt nicht aus, daß auch rassenbewußte Juden als einzelne sich in das Wirtsvolk vollkommen einleben. Disraeli ift also kein Gegenbeispiel gegen meine Ansicht, obgleich er in feinen Romanen, die zum gröten Teil vor der Zeit seines politischen Aufstiegs liegen, ausgesprochenster Rassenjude ift und im Christentum höchstens den Gipfel der jüdischen Religion sieht. Jn seinen Romanen herrscht eben das Gefühl und Bergeltungsgefühl („ressentiment“) vor, während er als Politiker, vom scharfen Berstand und Einbildungskrast (Phantafie) geleitet, fich zum reinen Engländer durcharbeitet und nur noch die Größe und Macht des Volkes im Auge hat, in dem feine Borfahren feit zwei Jahrhunderten lebten.

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  10. Das beweisen nicht nur die oerhältnismäßig nicht feltenen und keineswegs nur aus Geldrüsichten zuftande gekommenen Mischehen zwischen Adligen und Jüdinnen (feltener ztoifchen adligen Damen und Juden), fondern auch Aussprüche Bismarks, der derartige Mischehen als vorteilhaft ansah und von ihnen die halbe Flasche Sekt erhoffte, die er jedem Deutfchen im Blute wünschte.

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  11. A. Maurois: Benjamin Disraeli.

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  12. Unter den fogenannten „Sosjuden“ märkischer und pommerscher Ritter-güter mögen namentlich in den vierziger bis sjebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts solche ehrliche und dankbare Perfönlichkeiten nicht selten ge-wesen fein. Bismark erwähnt auch einen folchen.

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Dieses Kapitel ist Teil des Digitalisierungsprojekts Springer Book Archives mit Publikationen, die seit den Anfängen des Verlags von 1842 erschienen sind. Der Verlag stellt mit diesem Archiv Quellen für die historische wie auch die disziplingeschichtliche Forschung zur Verfügung, die jeweils im historischen Kontext betrachtet werden müssen. Dieses Kapitel ist aus einem Buch, das in der Zeit vor 1945 erschienen ist und wird daher in seiner zeittypischen politisch-ideologischen Ausrichtung vom Verlag nicht beworben.

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Lubarsch, O. (1931). Politische Tätigkeit und meine Stellung zum Judentum. In: Ein bewegtes Gelehrtenleben. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-94427-7_17

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