Zusammenfassung
Der 41jährige Herr S. kam mit insulinpflichtiger Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ I) und beginnendem Nierenversagen in meine Praxis. Eine Reihe an Symptomen wie Schweißausbrüche, Erbrechen, Gewichtsverlust, Depressionen, innere Unruhe und Suizidgedanken hatten ihn zu mir geführt. Herr S. war seit mehreren Jahren wechselweise in ambulanter und stationärer Behandlung. In den letzten 3 1/2 Jahren vor dem Beginn der Psychotherapie war er dauerhaft im Krankenhaus.
Ein Derwisch, dessen Freude die Entsagung und dessen Hoffnung das Paradies war; traf einst einen Fürsten, dessen Reichtum alles übertraf, was der Derwisch je gesehen hatte. Das Zelt des Adeligen, das außerhalb der Stadt zur Erholung lagerte, war aus kostbaren Stoffen und selbst die Zeltnägel, die es hielten, waren aus purem Gold. Der Derwisch, der es gewohnt war, Askese zu predigen, überfiel den Fürsten mit einem Wortschwall, wie nichtig doch der irdische Reichtum, wie eitel die goldenen Zeltnägel, wie vergeblich das menschliche Mühen seien. Wie ewig und herrlich seien dagegen die heiligen Stätten. Entsagung bedeute das größte Glück. Ernst und nachdenklich hörte der Fürst zu. Er ergriff die Hand des Derwischs und sprach: ≫Deine Worte sind für mich wie die Glut der Mittagssonne und die Klarheit des Abendwindes. Freund, komm mit mir, begleite mich auf dem Weg zu den heiligen Stätten.≪ Ohne rückwärts zu schauen, ohne Geld, ein Reitpferd oder einen Diener mitzunehmen, begab sich der Fürst auf den Weg. Erstaunt eilte der Derwisch hinterher: ≫Herr! Sag mir doch, ist es dein Ernst, daß du zu den heiligen Stätten pilgerst? Wenn es so ist, warte auf mich, daß ich schnell meinen Pilgermantel hole.≪ Gütig lächelnd antwortete der Fürst: ≫Ich habe meinen Reichtum, meine Pferde, mein Gold, mein Zelt, meine Diener und alles, was ich hatte, zurückgelassen. Mußt du dann wegen eines Mantels den Weg zurückgehen?≪ ≫Herr≪, staunte der Derwisch, ≫erkläre mir bitte, wie konntest du alle deine Schätze zurücklassen und selbst auf deinen Fürstenmantel verzichten?≪ Der Fürst sprach langsam, aber mit sicherer Stimme: ≫Wir haben die goldenen Zeltnägel in den Erdboden geschlagen, aber nicht in unser Herz!≪
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Peseschkian, N. (1996). «Ich war auf der Suche nach fehlender Wärme». In: Das Geheimnis des Samenkorns. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-93572-5_19
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