Zusammenfassung
Der Arzt, der es den Tag über mit kranken Menschen zu tun hat, so kann man gelegentlich hören, will am Abend anderes lesen als Krankengeschichten in literarischer Form. Was heißen soll: er hat Anspruch auf schöne Literatur, diese im althergebrachten Sinne verstanden. Ansprüche wie diese sind ganz unbestreitbar. Nur muß man wissen, daß man sich mit einem solchen Literaturverständnis den Zugang zur modernen Literatur weithin verstellt, in der zunehmend aüch wissenschaftlich relevante Sachverhalte zur Sprache gebracht werden. Denn wo Krankengeschichten erzählt werden, geht es stets auch um medizinische Wissenschaft und um den Beruf derjenigen, die ihn ausüben. Aber Krankheiten können sehr Unterschiedliches bedeuten. Es gibt solche mit einem Anflug von Feudalität wie die Tuberkulose von einst, deren Verläufe Thomas Mann in seinem Roman Der Zauberberg so eindringlich schildert; und es gibt weniger angesehene, zu denen die meisten psychischen Krankheiten gehören. Sie haben es am schwersten gehabt, in die Literatur Eingang zu finden. Selbst ein für neue Denkweisen so aufgeschlossener Arzt wie Sigmund Freud war hier nur zögernd zum Umdenken bereit. Er sehe seine Patienten lieber in der Sprechstunde als auf der Bühne, hat er gelegentlich bemerkt; und wenn Kurt Schneider noch 1922 in seinem Vortrag Der Dichter und die Psychopathologie die Darstellung psychotischer Gestalten in der Literatur bestreitet, so ist dies aus der Zeit heraus durchaus zu verstehen.
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Müller-Seidel, W. (1984). Psychiatrie im erzählten Text. Zur Problematik von Diagnosen in Literatur und Literaturwissenschaft. In: Hippius, H. (eds) Ausblicke auf die Psychiatrie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-93268-7_6
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