Zusammenfassung
Während die Erforschung der Veranlagung zu den exogenen Reaktionspsychosen sich noch in den ersten Anfängen befindet und bisher, wie wir sahen, überhaupt noch nicht systematisch in Angriff genommen ist, existiert über die Belastung bei der wichtigsten exogenen Geisteskrankheit, der progressiven Paralyse, eine Überfülle von Untersuchungen. Und doch läßt sich nicht verschweigen, daß diese außerordentliche Forschungsarbeit durchweg am falschen Punkt angesetzt hat. Daß sich bis in die neueste Zeit entgegengesetzte, wenn auch auf Statistiken gegründete Urteile über die Veranlagung zur Paralyse gegenüberstehen, wie Kalb 1916 aus dem Ergebnis einer erschöpfenden Zusammenstellung der diesbezüglichen Literatur schließt, wird uns in dem Augenblicke selbstverständlich erscheinen, in dem wir uns klarmachen, daß fast alle diese Untersuchungen aus der Zeit stammen, da die Zurückführung der Paralyse auf eine Spirochätose unbekannt oder wenigstens hypothetisch war und demgemäß bei allen einschlägigen statistischen Ermittlungen die Paralyse hinsichtlich der Veranlagung nicht anders bewertet wurde wie jede andere Geisteskrankheit. Greift die Ursache der Paralyse an einem ganz anderen Punkte der psychophysischen Person an als diese, so muß naturgemäß auch die Veranlagung zu ihr in einer anderen Schicht derselben gesucht werden. Da indessen die Paralyse sich sowohl biogenetisch als in ihrem „Aufbau“ nicht als eine gewöhnliche Geisteskrankheit infolge Hirnlues auffassen läßt, sondern, wie uns gerade neuerdings immer eindringlicher zum Bewußtsein kommt, symptomatisch und nosodromisch mannigfache Beziehungen zu allen möglichen anderen Geisteskrankheiten exogener wie endogener Natur aufweist, wird eine systematische Erforschung der Veranlagung zur Paralyse in jedem Falle auch all jene Sonderanlagen zu psychischen und nervösen Erkrankungen zu berücksichtigen haben, die nicht mit einer Spirochätenschädigung in Zusammenhang gebracht werden können.
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Kehrer, F., Kretschmer, E. (1924). Die Veranlagung zur progressiven Paralyse. In: Die Veranlagung zu seelischen Störungen. Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-92471-2_7
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