Zusammenfassung
Die Umgangssprache benutzt den Begriff „Gedächtnis“ in einem spezifischen und engen Sinn. Von Gedächtnis zu sprechen erscheint nur dann natürlich, wenn wir mit der Vergangenheit beschäftigt sind: „Ich weiß genau, daß ich Ihren Brief eingeworfen habe“, „ich erinnere mich noch an die Seminare von Professor Stumpf“ — mit solchen Äußerungen beziehen wir uns auf Tatsachen des Gedächtnisses. Es scheint nicht richtig, dasselbe Wort anzuwenden, wenn es sich um Tagträume, andere Ergebnisse der Einbildung oder um das Träumen im Schlaf handelt. Einzelheiten aus unserer Vergangenheit können in diesen Situationen zwar wieder lebendig werden, aber sie werden mehr oder weniger beiläufig wieder erweckt, und es besteht keine Absicht, das abzubilden, was sich im früheren Leben wirklich zugetragen hat. Nichtsdestoweniger ist es klar, daß man den größten Teil des „Materials“, das in solchen Vorgängen erscheint, nie träumen oder sich vorstellen würde, wenn sich nicht prinzipiell ähnliche Erlebnisse in unserer Vergangenheit ereignet hätten. Obgleich der Inhalt von Träumen und Einbildungen nicht in der Vergangenheit lokalisiert sein mag, ist er wenigstens ganz deutlich von Ereignissen abhängig, die zeitlich oft weit zurückliegen. In der Psychologie haben wir keinen zutreffenden Begriff für diesen Einfluß der Vergangenheit, der zwar dem Gedächtnis verwandt und doch nicht Gedächtnis im üblichen Sinne ist.
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Literatur
Vgl. Kap. VI, S.154f.
Der Kürze halber wende ich den Begriff „Polarisation“auf den Komplex von Wirkungen an, die an Grenzflächen vorkommen können. In der Terminologie des Physikers heißt Polarisation in diesem Zusammenhang hauptsächlich die Entwicklung elektromotorischer Kräfte, die bestrebt sind, die Bahn des polarisierenden Stromes zu blockieren.
Ich ziehe es vor, die Beantwortung der Frage aufzuschieben, ob im Bereich der Spuren elektromotorische Kräfte zwischen verschiedenen Gebieten schwache Ströme erzeugen und unterhalten können.
Es scheint tatsächlich durchaus möglich, daß die Ströme, die sich in einem kortikalen Feld um eine abgegrenzte Einheit ausbreiten, in andere Bereiche eindringen und daß dadurch ihre polarisierenden Wirkungen oder Spuren dieselbe weite Ausdehnung haben. Selbst dann würde es trotzdem richtig sein, daß Spuren gerade dort gebildet werden, wo die betreffenden Vorgänge auftreten.
R. H. Wheeler and F. T. Perkins, Principles of Mental Development (1932) S. 387 ff.
K. Koffka, Principles of Gestalt Psychology (1935) S. 452 ff. In Koffkas Buch findet der Leser die Theorie der Spuren konkret angewendet auf sehr viele Probleme, mit denen sich das vorliegende Kapitel nicht befaßt. Überdies wird in Koffkas Diskussion des Gedächtnisses die Theorie selbst viel weiter entwickelt, als dies bei irgendeinem anderen Autor geschehen ist. Ich verweise besonders auf seine Kapitel 10–13.
A. Gelb und K. Goldstein, Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle (1920) S. 111 ff.
K. S. Lashley, The Mechanism of Vision XII. Nervous Structures Concerned in the Acquisition and Retention of Habits Based on Reactions of Light. Compar. Psychol. Monogr. 11, No. 2, S. 43 ff (1935).
J. von Kries, Über die materiellen Grundlagen der Bewußtseinserscheinungen.
W. Köhler und H. von Restorff, Zur Theorie der Reproduktion. Psych. Forsch. 21, S. 59 (1935).
K. S. Lashley, Brain Mechanisms and Intelligence, S. 86 ff. (1929).
Cf. The Mechanism of Vision XII, pp. 58 ff.
Lashley glaubt, „daß die Gedächtnisspur nirgends innerhalb der optischen Rinde lokalisiert ist“(S. 73). Zu diesem Schluß führt ihn die Beobachtung, daß, solange irgendwelche beschränkten Anteile der area striata belassen sind, die Gewohnheit an Helligkeits-Unterscheidung nicht ernstlich gestört ist. Dies Argument überzeugt mich nicht. Nach unserer Annahme wird mehr als eine einzige Spur in der area striata der Ratte gebildet; es werden so viele Spuren in so viel verschiedenen Teilen der optischen Rinde vorliegen, als während der Versuche Kopf und Augen des Tieres verschiedene Richtungen in bezug auf den Reiz gehabt haben. Mit anderen “Worten, das Reizpaar wird praktisch überall in der area striata repräsentiert, natürlich auf verschiedenen Ebenen in der Dimension der vergangenen Zeit; und auch eine kleine Gruppe von Zellen kann groß genug sein, um eine richtige Darstellung dieser einfachen Situation: dunkel versus hell zu enthalten. Eine ganz unerwartete Entdeckung von Dr. Krechevsky hat uns inzwischen gezeigt, daß Lashleys Arbeit über Helligkeits-Unterscheidung auf einer Voraussetzung beruhte, die sich vielleicht nicht mehr aufrecht erhalten läßt. Daher will ich von einer weiteren Diskussion seines Arguments gegen das Vorhandensein lokalisierter Spuren in der optischen Rinde absehen. Vgl. I. Krechevsky, Brain Mechanisms and Brightness Discrimination Learning. The Journal of Comp. Psychol. 21, S. 405 – 441 (1936).
M. Wertheimer, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, II. Psych. Forsch. 4, S. 301 ff. (1923). Diese Arbeit ist wahrscheinlich immer noch die beste Einführung in die Probleme der Gestalt Psychologie.
Bericht über den 6. Kongreß für experimentelle Psychologie (hrs. F. Schumann) 1914, S. 148 ff.
Professor Gibsons Entdeckung (J. Gibson, Journal of Exper. Psychol. 16, 1933) gehört nicht eigentlich zu diesen Tatbeständen, weil bei seinen Beobachtungen der betreffende Standard erst allmählich nach längerer Prüfung erreicht worden ist. Andererseits bestätigen seine Versuche die Ansicht, daß die Tendenz, die wir bei der unmittelbaren Wahrnehmung feststellen, auch im Bereich der Spuren vorliegt. Eben dies will ich auf den folgenden Seiten zu zeigen versuchen.
Vgl. W. Köhler, Gestalt Psychology, S. 183 ff. (1929).
So viel ich weiß, hat der deutsche Psychiater Hallervorden als Erster diese Tatbestände untersucht.
Eine dritte Methode besteht darin, das Bild einer Person anzusehen, die vor einem Spiegel steht. Meistens ist das Aussehen dieses Spiegelbildes deutlich verschieden von demselben Gesicht, wie wir es gewöhnlich sehen. Das liegt daran, daß im Spiegel zum Beispiel die rechte Hälfte des Gesichtes eine linke wird und umgekehrt. Da beide Hälften gewöhnlich objektiv verschieden sind, führt das zu einer merklichen Veränderung des phänomenalen Charakters des Gesichtes. Manche Menschen scheinen nicht zu wissen, daß ihr Gesicht, das sie im Spiegel sehen, keineswegs das Gesicht ist, das die anderen Leute sehen, die sie anschauen.
W. Köhler, Die physischen Gestalten etc., S. 248 ff. Genau wie die Organisation der Wahrnehmung kann die Selbstverteilung in der Physik „zu gut“werden. Der Sinn dieser Aussage und die betreffenden Fakten sind auf S. 251 ff. desselben Buches erklärt.
H. von Restorff, Über die “Wirkung von Bereichsbildungen im Spurenfeld. Psychol. Forsch. 18, S. 299–342 (1933).
Andere Versuche von Restorffs beweisen, daß es auch nicht der Platz des „einzelnen“Gliedes der Reihe ist, von dem das Ergebnis abhängt.
Eine ausführlichere Beschreibung dieser und anderer Versuche von Restorffs findet man in Koffkas Principles of Gestalt Psychology, S. 481–493.
Professor C. Hull hat eine Anzahl von Axiomen aufgestellt, von denen er die Hemmungen ableitet, die in einer Reihe vorkommen (C. L. Hull, The Conflicting Psychologies of Learning — a “Way Out. Psychol. Review 42, S. 491–516 (1935)). Mir scheint, seine Axiome müssen verändert werden, wenn sie dem Einfluß Rechnung tragen sollen, den in diesen Versuchen die spezielle Organisation auf die Retention ausübt.
Aus verschiedenen Gründen schien es nicht ratsam, nur ein einziges „einzelnes“Glied unter einer größeren gleichförmigen Folge von anderen aufzunehmen.
I. Müller, Zur Analyse der Retentionsstörung durch Häufung. Psychol. Forsch. 22, S. 180–210 (1937).
O. Lauenstein, Ansatz zu einer physiologischen Theorie des Vergleichs und der Zeitfehler. Psychol. Forsch. 17, S. 130–177 (1932).
F. Wulf, Über die Veränderung von Vorstellungen (Gedächtnis und Gestalt). Psychol. Forsch. 1, S. 333 ff. (1922).
Vgl. die auf S. 187 ff. berichteten Versuche dieses Kapitels.
M. Kleinbub, Über die Unterschiedsschwelle für Helligkeiten bei verschiedenen Abständen der Vergleichsobjekte und Fixationswechsel. Diss. Berlin (1933).
Vgl. F. Angeix and Harwood, Amer. Jour, of Psychology 2, S. 67 ff. (1899). D. Katz, Zeitschr. f. Psychol. 42, S. 302 ff. und 414 ff. (1906).
W. Köhler, Zur Theorie des Sukzessivvergleichs und der Zeitfehler. Psychol. Forsch. 4, S. 121 f. (1923).
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Köhler, W. (1968). Gedächtnis und Transzendenz. In: Selbach, O.C. (eds) Werte und Tatsachen. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-88701-7_7
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