Zusammenfassung
Vor zweieinhalbtausend Jahren hat der platonische Sokrates ein Enthusiasmusverbot ins philosophische Argumentieren eingeführt, das sich bis heute in Geltung halten konnte. Seither genügt es für unsereinen, um Wahrheitsansprüche anzumelden, nicht mehr, sich darauf zu berufen, daß der Gott aus ihm redet oder daß der Wein ihn erleuchtet — zwei Größen, die, wie man weiß, nicht gerade zur kollegialen Diskussion einladen. Seit Sokrates auf dem berüchtig-ten Symposion die Argumente des Aristophanes als bloße Eingebungen der Begeisterung verwarf, ist das ekstatische Reden unter Philosophen verpönt, denn philosophieren soil — auch wenn von beflügelten Angelegenheiten wie dem Eros die Rede ist — in Zukunft durchweg argumentieren bedeuten, und argumentieren heißt: nüchtern reden. Die Arbeit der athenischen Akademie gründet in dem theoriehygienischen Vorsatz, nur mit trockener Seele eine Brücke zur Anschauung letz-ter Gründe zu bauen. Wer sich dieser anti-enthusiastischen Prohibition nicht un-terwerfen mag, soil es weiterhin mit dem traditionellen Gemisch von Rausch und Religion, von Herkommen und Bewußtseinstrübung versuchen — die Akademie freilich ist stolz darauf, sich von den Launen der seelischen Ausnahmezustände freigemacht zu haben und das Land der Wahrheit ohne Drogen und andere illegale Transportmittel zu durchqueren. Seit Sokrates gehört es zum Ehrenkodex der ar-gumentierenden Gemeinschaften, daß es besser sei, nüchtern in die Irre zu gehen als droguiert mit letzten Wahrheiten herauszurücken.
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Sloterdijk, P. (1991). Weltsucht. In: Buchheim, P., Cierpka, M., Seifert, T. (eds) Psychotherapie im Wandel Abhängigkeit. Lindauer Texte. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-84473-7_11
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