Zusammenfassung
Die Diskussion des indikationsorientierten Bedarfs an therapeutischen Leistungen erfolgt im Rahmen einiger sozialmedizinischer und gesundheitspolitischer Grundpositionen, die ausdrücklich eingeführt werden sollen:
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Der Begriff “Bedarf” bezieht sich im folgenden auf komplexe medizinische Leistungen wie sie z.B. eine Lebertransplantation darstellt Im weiteren Sinne umfaßt er auch die einzusetzenden Mittel (Spenderorgane, Medikamente, Verbrauchsmaterialien), die die Leistung tragende sachliche und personelle Infrastruktur und die hier gebundenen bzw. verbrauchten und damit anderweitig nicht zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen.
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Aus ärztlich-klinischer Sicht lassen sich die bedarfsdeckenden Leistungen auffassen als therapeutische Antworten auf oft sehr heterogene und komplexe individuelle Notlagen bei körperlichen oder seelischen Schäden. Das unbehandelt letale Leberversagen mag als ein drastisches Beispiel dienen.
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Will man den jährlichen Bedarf an Lebertransplantationen in der BRD ermitteln, dann muß man unterstellen, daß die sich jeweils einzigartigen und unwiederholbaren individuellen Notlagen typisieren lassen. Nur ihre Reduktion auf gemeinsame und empirisch bestimmbare Merkmale macht solche Problemgefüge objektivierbar, abgrenzbar gegen ähnliche, aber anders zu behandelnde Situationen, zählbar und schließlich vorhersagbar. Erst dies ermöglicht die Planbarkeit von Maßnahmen zur qualitativen und quantitativen Bedarfsdeckung. Unter der “ganzheitlichen” Annahme, daß es “so viele Krankheiten wie Kranke” gäbe, ist eine Bedarfsanalyse kaum möglich.
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Objektivierbarer “Bedarf” in diesem Sinne wird von idiosynkratischen Bedürfnissen ebenso wie von der Nachfrage oder dem Angebot krankheitsbezogener Dienstleistungen auf dem freien Markt und der tatsächlichen Inanspruchnahme bzw. der Veranlassung solcher Leistungen unterschieden. Dabei sollte die Häufigkeit der bedarfskonstituierenden Notlagen idealiter keine Rolle spielen. Man wird nicht deswegen keinen Bedarf erkennen wollen, weil die in Rede stehenden Problemlagen so selten sind wie das durch eine Transplantation abwendbare terminale Leberversagen.
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Es ist nicht zu verkennen, daß eine solche Bedarfsfeststellung paternalistisch ist und einer “väterlichen” Fürsorge für aktuelle oder zu erwartende Kranke bzw. Krankheitslagen entspringt Eine solche Bedarfsfeststellung geschieht primär zum “salus” und nicht zur Erfüllung der “voluntas aegroti”. Sie ist dabei auch parteilich im Sinne der betroffenen Kranken und kümmert sich nicht um die Probleme des Grenznutzens oder der Opportunitätskosten der jeweils in Rede stehenden Leistung.
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In einer Bedarfsdiskussion entsteht nahezu unvermeidlich der Eindruck einer Parteinahme auch für die ärztliche Disziplin und ihre Verfahren, die gerne als Fachegoismus etwa “der” Transplantationschirurgen (womöglich gegen “die” Internisten) ausgelegt wird. Wer aber sollte sonst für den Bedarf an Transplantationen eintreten, wenn nicht die damit zuallererst beschäftigten Ärzte. Die Formulierung und Abwägung von konkurrierendem Bedarf können nur in einem getrennten Schritt und von anderer Seite erfolgen. So darf sich eine Bedarfsanalyse zuerst freihalten von Kostenüberlegungen und Kosten-Nutzen-, Kosten-Wirksamkeits- oder Kosten-Nutzwert-Analysen.
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Jede Bedarfsanalyse unterstellt einen Adressaten, dem eine geeignete systemische Reaktion zur Deckung des herausgearbeiteten Bedarfs überhaupt zuzutrauen ist. Bei uns richtet sie sich vorzugsweise an soziale, oft staatliche, aber auch öffentlich-rechtliche Institutionen wie Gesundheits- und Sozialministerien, kassenärztliche Vereinigungen oder Krankenkassen, Rentenversicherungen und Verbände. In der Regel sind diese durch einen rechtlich normierten Sicherstellungs- oder Gewährleistungsauftrag gebunden. Sie verfügen über eine belastbare Zuständigkeit und über Mittel der Bedarfsdeckung. Hinzu tritt eine wirksame innere Bindung an dieses Feld (“commitment”).
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Bedarfsanalysen sind ein typisches Instrument des vorsorglich planenden Sozialstaats. Sie haben in verschiedenen europäischen Ländern eine unterschiedliche Tradition und Bedeutung, die aber stärker ausgeprägt sind als etwa in den USA.
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Selbstverständlich müssen die auf solche Notlagen bezogenen Leistungen ihrerseits abgrenzbar, objektivierbar, standardisierbar und quantifizierbar sein. Sie müssen erwiesenermaßen mehr nützen als schaden. Sie müssen, anders gesagt, in der Lage sein, den natürlichen Verlauf des Gesundheitsproblems im Nettoeffekt positiv zu beeinflussen. Schließlich müssen sie sozial akzeptiert oder jedenfalls akzeptabel sein — ein Hinweis auf die Bedeutung von Konsensus-Prozessen in diesem Feld.
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Typischerweise unterstellen Bedarfsanalysen und -anmeldungen eine befriedigende Prozeßqualität der angeforderten Leistungen, die, wie wir heute wissen, besonders gesichert werden muß. Sie unterscheiden deshalb fast nie zwischen der ““efficacy” von Leistungen, also der Effektivität, wie man sie etwa in kontrollierten klinischen Studien darstellen kann, und der realen “community effectiveness” der gleichen Leistungen, ihrer Effektivität unter den Bedingungen der alltäglichen Praxis.
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Nicht selten leiden von Klinikern vorgetragene Bedarfsanalysen daran, daß sie eine konstante Inzidenz der in Rede stehenden Krankheitsfälle unterstellen. Dadurch werden säkulare Inzidenztrends und v.a. ihre aktiv präventierbare Fraktion unterschätzt. Welchen Einfluß eine einfache und risikoarme Maßnahme für die Inzidenz etwa der Leberzirrhose haben kann, macht das Beispiel der Hepatitis-Impfungen deutlich.
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Raspe, H. (1993). Indikation und Bedarf. In: Nagel, E., Fuchs, C. (eds) Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Dokumentation des Wissenschaftlichen Symposiums. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-78327-2_9
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