Zusammenfassung
Der Begründer der wissenschaftlich orientierten Medizin ist der geniale Arzt und Physiologe François Magendie (1783–1855) [534]. Er revolutionierte die Medizin weniger durch seine konkreten Forschungen als durch Leitgedanken, die Lichtenthaeler (1982) als Grundlage seiner „experimentellen Revolution“ ansah. Die wissenschaftliche Neuorientierung der Medizin hat Magendie im Alleingang bewerkstelligt. Er war fasziniert von der Tatsache, daß Physiker und Chemiker in aller Welt durch Experimente zu klaren und v.a. übereinstimmenden Aussagen kamen. Verächtlich schaute er auf seine ärztlichen Kollegen, von denen selbst „zwanzig derselben medizinischen Fakultät bei demselben Patienten zu zwanzig verschiedenen Ergebnissen“ kämen. Magendie stellte das Primat des Experiments auf. Für ihn hatte nichts Bestand, was sich nicht reproduzierbar überprüfen ließ. Nur Fakten galten bei ihm etwas, und er forderte von den Medizinern, diese Fakten als alleiniges Fundament einer medizinischen Wissenschaft zu suchen und durch das Experiment zu bestätigen. Lichtenthaeler weist zu Recht daraufhin, wie aufschreckend diese Forderungen zu Magendies Zeiten gewesen waren. So selbstverständlich wie heute diagnostische und therapeutische Technik, Labormedizin und unzählige Arzneimittel zum medizinischen Alltag gehören, so fest waren die Ärzte zu Magendies Lebzeiten in ihrem Denken und Handeln dem zeitgenössischen medizinischen System und dem Empirismus verhaftet. In Untersuchung, Diagnose und Therapie hatte jeder Arzt seine eigenen Methoden und Vorstellungen. Es ist nicht verwunderlich, daß Magendie mit seinen neuen Ideen weniger in der Ärzteschaft selbst als bei denjenigen Gehör fand, die sich in ihrem Denken auf seiner Linie befanden: den Mathematikern und Naturwissenschaftlern der „Académie des Sciences“. Es ist in diesem Zusammenhang kennzeichnend, daß Magendie seine Thesen nicht in der eigenen medizinischen Fakultät vertrat, sondern sie den Medizinern in seiner Eigenschaft als Mitglied der Akademie entgegenhielt.
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Diehm, C., Schäfer, M. (1993). Die wissenschaftliche Medizin des 19. Jahrhunderts. In: Das Buerger-Syndrom (Thrombangiitis obliterans). Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-78004-2_1
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