Zusammenfassung
„Dafür fühle ich mich am schuldigsten,“sagt eine als Fürsorgerin tätige Frau in ihren Vierzigern, die von mehreren Psychotherapeuten sexuell mißbraucht worden ist und mich wegen ihrer chronischen Depression und ihrer abgrundtiefen Selbstverachtung aufgesucht hat,
„daß ich mich von meinem Freund Raymond dazu bestimmen ließ, meine alte Freundschaft mit Thekla abzubrechen. Sie war die Krankenschwester, die meinen Vater bei seiner letzten Krankheit betreut hatte, und wir wurden danach sehr gute Freundinnen. Sie hatte ein schreckliches Leben — verstoßen von ihren Eltern verbrachte sie ihre Jugend in Heimen. Sie vertraute mir alles über ihre unglückliche Ehe an, und schließlich riet ich ihr dazu, bei Raymond in Therapie zu gehen, was mein größter Fehler war. Doch hatte ich unermeßliches Vertrauen zu ihm, obwohl er die Therapie in ein Sexualverhältnis umgewandelt und doch noch während eines halben Jahres Zahlungen von mir empfangen hatte. Thekla sprach mit mir oft über ihre Behandlung mit Raymond. Er fand das unprofessionell von mir, daß ich mich dazu herbeiließ und es ihr gestattete. Er war auf mich erzürnt, er fühlte sich bedroht. Dann sagte er mir, daß Thekla homosexuelle Träume über mich habe, und daß es weder gut für mich noch für Thekla sei und auch unserem Verhältnis schade, wenn ich weiterhin mit ihr befreundet bliebe; ich müsse es abbrechen. Ich führte das auch aus, aber ich wußte, es war die schrecklichste Sache, die ich je getan hatte, daß ich es verdiente, dafür erschossen zu werden. Ich schrieb ihr später, aber sie antwortete mir nie darauf. Sie war eine gute Person, und sie hatte mir sehr geholfen, und ich wollte auch ihr helfen. Tapfer war sie, und sie hatte es trotz aller Hindernisse so weit gebracht. Sie schrieb ihm später einen Brief, nachdem sie die Therapie mit ihm abgebrochen hatte und beklagte sich darüber, daß ich mich in ihre Therapie eingemischt [interfered] hätte. Auch heute kann ich nicht davon loskommen, und ich schäme mich so schrecklich darüber. So etwas ist überhaupt nicht wieder gutzumachen.“
̓Απόλλων τάδ’ ἦν, ̓Απόλλων, φίλοι ὁ κακὰ κακὰ τελῶν ἐμὰ τάδ’ ἐμὰ πάϑεα. ἔπαισε δ’ αὐτόχειρ, νιν οὔτις, ἀλλ’ ἐγὼ τλάμων. τί γὰρ ἔδει μ̓ ὁρᾶν, ὅτῳ γ’ ὁρῶντι μηδὲν ἦν ἰδεῖν γλυκύ;
(Apollon, war es, Apollon, meine Freunde, der meine schrecklichen Übel, meine Leiden zustande brachte. Doch zugeschlagen hat niemand anderer mit eigener Hand als ich selbst, ich Unseliger. Was sollte ich noch sehen, wenn meinem Sehen nichts Süsses mehr zu erblicken war?) (Sophokles, Oedipus Rex, 1329–1335)
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Wurmser, L. (1993). Das Tragische und dessen Veruntreuung. In: Die zerbrochene Wirklichkeit. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-77934-3_2
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