Zusammenfassung
Nicht nur im Bereich der transkulturellen Psychiatrie bereitet das dritte Jasperssche Wahnkriterium Schwierigkeiten.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Notes
Für Übersichten zur Auffassung von Wahn in der anthropologischen Psychiatrie vgl. Blankenbueg 1967, 1987.
Mit “Dependenzgrammatik” bezeichnet man eine Methode der formalen Darstellung der Syntax einer Sprache. Als strukturelles Zentrum eines Satzes wird dabei das Verb aufgefaßt, dessen Valenzen (der Ausdruck ist bewußt der Chemie entlehnt) die Struktur des Satzes bestimmen. Die Valenzen von Verben eröffnen eine bestimmte Zahl von Leerstellen, die obligatorisch oder fakultativ zu besetzen sind. Die Anzahl der Valenzen (“Stellen”) eines Verbums stellt mithin ein einfaches, wenn auch grobes Beschreibungsmerkmal für dieses Verbum dar (vgl. Bussmann 1983, S. 87f, 567f).
“…die Bedeutung [ist] im sinnlich Wahrnehmbaren, Vorgestellten, Erinnerten unmittelbar mit da…” (Jaspers 1973, S. 83).
Gemäß dem heutigen Begriffsverständnis sind die von Kurt Schneider SO bezeichneten Symptome ersten Ranges eigentlich “Kriterien ersten Ranges” (vgl. hierzu Spitzer 1987b).
Koehler und Sauer (1983) fanden Wahnwahrnehmungen bei 142 Schizophrenen in 15,5% der Fälle. Marneros (1984) gibt in seiner Untersuchung von 1208 Krankengeschichten schizophrener Patienten die Häufigkeit von Symptomen ersten Ranges mit 47% an. Wahnwahrnehmungen waren bei 19% der Patienten vorhanden.
Daß die Wendung “ohne Anlaß” (mit explizitem Ausschluß u.a. der Affektlage) der (psychologischen) Forschung — d.h. der Erforschung der “Anlässe” — Schwierigkeiten bereiten kann, liegt auf der Hand, wird aber oft nicht bemerkt: Müller und Wytek (1975) sprechen bei der “deskriptiven Abgrenzung des Phänomens” u.a. davon, daß “einer wirklichen Wahrnehmung ohne rationalen oder emotional verständlichen Anlaß eine abnorme Bedeutung … beigelegt wird” (Müller und Wytek 1975, S. 66). Wenn sie jedoch danach ihr “Denkmodell” der Genese entwickeln, sprechen sie von einem “Kontinuum mit gleitenden Übergängen von der Normalwahrnehmung zur Wahnwahrnehmung …, wobei das Ausmaß der … Affektivität bzw. … der Angst… die Wahrnehmung bzw. die Wahrscheinlichkeit zu Fehlwahrnehmungen bestimmt” (S. 68). Damit wird aber ein Ausschlußkriterium zu einer genetischen Bedingung des gleichen Sachverhaltes! — Es ist sehr deutlich, daß nur eine schärfere Begrifflichkeit die empirische Forschung hier vor Widersprüchen und Unklarheiten bewahren kann.
Um Verwirrungen und Unklarheiten vorzubeugen, sei kurz auf Unterschiede in der von Jaspers und Schneider verwendeten Terminologie eingegangen: Unableitbare Wahnideen bezeichnet Schneider als “wahnhaft”, ableitbare als “wahnähnlich”, wohingegen Jaspers von “echten Wahnideen” (unableitbar) und “wahnhaften” Ideen (ableitbar) sprach. Der Ausdruck “wahnhaft” wird somit von beiden Autoren — trotz ansonsten häufig identischer Aussagen zum Wahnproblem — in entgegengesetzter Bedeutung gebraucht!
So zumindest ergeht es den meisten Menschen (vgl. Jaynes 1976).
Schneider führt das Beispiel eines schizophrenen Mädchens an, daß sagte, “’nachher’ habe es’ dann wieder gedacht’, der besuchende Herr wäre nur der verkleidete Sohn von der Herrschaft gewesen, der es ausprobieren oder zur Frau haben wollte” (Schneider 1949, S. 29). Das Mädchen erinnerte sich somit sehr wohl auch an sich selbst und nicht nur an den Herrn.
Matussek bestreitet damit das, was heute unter dem Titel “Unverständlichkeitstheorem” nach wie vor kontrovers diskutiert wird.
“So erfaßt man z.B. den Stimmungswechsel im Gesichtsausdruck eines anderen, auch wenn die entsprechenden physiognomischen Strukturveränderungen nicht gleich anschaulich wahrgenommen werden” (Matussek 1952, S. 294). Matussek fuhrt noch eine Reihe weiterer Beispiele aus der Gestaltpsychologie an.
Daran ändern auch die Ergebnisse der Gestaltpsychologie oder neuerdings der kognitiven Psychologie (mit Untersuchungen zur subliminalen Wahrnehmung) nichts: Auch wenn experimentell als erwiesen gelten kann, daß z.B. Trauer auch dann noch wahrgenommen werden könnte, wenn der Betreffende nicht einmal sagen könnte, ob er überhaupt etwas sieht, muß zuvor bereits geklärt sein, wann von Wahrnehmung gesprochen werden soll (vgl. Spitzer 1988a).
Eine knappe Darstellung findet man z.B. in Zurr 1953.
Burkhardt (1964) begreift die Wahnstimmung als pathologisches Kommunikationsphänomen, und Glatzel (1976, 1978) entwirft eine ganze “interaktionale Psychopathologie”.
Auch Berner (1969) hebt beispielsweise hervor, daß die Faßbarkeit (d.h. die Einfachheit der Diagnose) und die psychologische Bedeutung von Wahn keine Frage nach der Wahrnehmung ist, an die er sich knüpft.
Man betrachte seine Definition, die deutlicher ist als die von Schneider: “Bei der Wahnwahrnehmung wird ein beliebiger sinnlicher Gegenstand der Außenwelt als das wahrgenommen, wofür es andere gesunde Menschen übereinstimmend halten; es wird ihm aber ebenso unvermittelt wie im Falle der Wahnidee eine wahnhafte Bedeutung beigelegt” (Bash 1955, S. 130).
Author information
Authors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 1989 Springer-Verlag Berlin Heidelberg
About this chapter
Cite this chapter
Spitzer, M. (1989). Kurt Schneiders Versuch der Umgehung des dritten Wahnkriteriums. In: Was ist Wahn?. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-74722-9_3
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-642-74722-9_3
Publisher Name: Springer, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-540-51072-7
Online ISBN: 978-3-642-74722-9
eBook Packages: Springer Book Archive