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Benötigen wir eine Ethik der Medizin? Der Freiraum des Arztes zwischen Markt, Politik und Recht

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Medizin und Gesellschaft

Zusammenfassung

Gestern waren wir noch mitten in einer öffentlichen Debatte um Wirtschaftlichkeit und Kostenentwicklung, um Verrechtlichung und Steuerungsdefizite der Medizin im Sozialstaats, heute geht eine Welle der Veröffentlichungen und der Verlautbarungen zur medizinischen Ethik durch das Land. Die Massenmedien arrangieren Gespräche von bildschirmgewandten Experten, — es sind immer die gleichen Gesichter und Hände, die sich geschmeidig in den wechselnden Winden der öffentlichen Meinung drehen. Publizisten und Politiker steilen das neue Thema hoch und mischen alle Reizthemen des bundesdeutschen „Angstbürgers“ durcheinander: Genforschung und Herztransplantationen, Abtreibung und Retortenbaby, Intensivmedizin und Gehirnforschung, Einkommen von Medizinerstars und Korruption von Kassenärzten2.Sogar der Bundeskanzler wird endlich konkret in der zerzogenen und zerredeten „geistig-moralischen Wende“. In seiner Eröffnungsrede auf der internationalen Konferenz „Neurowissenschaften und Ethik“ in Bonn im Frühjahr 1986 sagt Helmut Kohl mit der Gravität des Staatsmannes:

„In unserer Zeit eröffnet die Wissenschaft den Menschen im Umgang mit der Natur scheinbar grenzenlose Möglichkeiten. Wir wollen die Chancen nutzen, die sich daraus ergeben. Aber wir wissen auch um die große Verantwortung, die hier auf uns lastet.

Die Frage nach den Grenzen des Machbaren darf niemand leichtfertig übergehen. Neben der Freiheit der Forschung steht hier die ethische Verantwortung für die Anwendung.

Der Mensch als Geschöpf Gottes muß dabei das Maß aller Dinge bleiben. Machbarkeit darf nicht zu einer Droge werden, die ethischen Maßstäben die Kraft nimmt.

Andererseits gilt auch: Ethische Maßstäbe bei der Einführung neuer Technologien, bei der Umsetzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, kann nur entwickeln und durchsetzen, wer an der Spitze des Fortschritts steht und so vorausschauend mitgestalten kann“3.

Diese Verknüpfung von „Folgen und Zukunft der wissenschaftlichen, der technischen und auch der medizinischen Entwicklung“, wie es weiter heißt, mit den vorgeblichen Verantwortlichkeiten und ethischen Verpflichtungen des Medizinforschers, des Medizinlehrers, aber auch des Medizinpraktikers, also des Arztes in seinen vielfältigen Funktionen ist der Grundtenor solcher öffentlichen Rede über eine neue Medizinethik.

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Literatur

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Baier, H. (1987). Benötigen wir eine Ethik der Medizin? Der Freiraum des Arztes zwischen Markt, Politik und Recht. In: Bress, L. (eds) Medizin und Gesellschaft. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-71663-8_10

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