Zusammenfassung
In der allgemeinen Psychopathologie werden einzelne Erscheinungen zunächst für sich behandelt, z. B. Trugwahrnehmungen, Ideenflucht, Wahnideen. Man denkt sich diese Phänomene isoliert und betrachtet das, worin sie übereinstimmen, sei es bei welcher Krankheit sie vorkommen. Tatsächlich aber hat jede Erscheinung bei verschiedenen Kranken mannigfache Nuancen. Diese bestehen nicht nur in der mehr oder weniger vollständigen Entwicklung, sondern bei gleicher Entwicklung haben alle psychischen Vorgänge ihre Modifikationen, die teils aus der verschiedenen Individualität, teils aus verschiedenen allgemeinsten seelischen Veränderungen fließen. Oft können wir diese Nuancen mehr fühlen, als begrifflich formulieren. Wären die Erscheinungen starre, immer identische Gebilde, so läge es nahe, Krankheitsbilder wie mosaikartige Gebilde anzusehen, die aus einzelnen, überall identischen Steinen verschieden zusammengesetzt sind. Man hat nur diese überall identischen Steinchen zu benennen, bei jedem Steinchen zu sehen, bei welcher Krankheit es am häufigsten vertreten zu sein pflegt, und durch Addition der Häufigkeiten zur Diagnose zu kommen. Diese Methode falscher Mosaikbarkeit, oft genug in Ansätzen angewandt, bleibt jedoch an Äußerlichkeiten kleben, macht die psychopathologische Untersuchung und Diagnose mechanisch, versteinert nur das bisher Erworbene. Mancher Anfänger hat für diesen Weg besondere Neigung, da er so leicht faßlich ist, und da man ihn relativ schnell und klar lernen kann. Ganze Lehrbücher, wie das von Ziehen, verdankten ihm ihre Beliebtheit, ihre Leichtverständlichkeit und — ihre Todesstarre. Es kommt darauf an, uns von dieser leichten Faßlichkeit nicht anziehen zu lassen und an die Stelle des Auswendiglernens von Symptomen das Eindenken in die Gesichtspunkte zu setzen.
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© 1973 Springer-Verlag Berlin · Heidelberg
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Jaspers, K. (1973). Die Synthese der Krankheitsbilder (Nosologie). In: Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-62020-1_13
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