Skip to main content

„Frieden mit der Natur“

  • Chapter
  • 62 Accesses

Part of the book series: Edition Alcatel-SEL-Stiftung ((SEL STIFTUNG))

Zusammenfassung

Die Neigung, die Zivilisationskrise in erster Linie für eine moralische Krise zu halten, verändert auch das Verhältnis zur Herkunft und Vergangenheit unserer Zivilisation, und diese Veränderung wirkt auf ihre Zukunftsfähigkeit zurück. Man kann die hier gemeinte Veränderung im Vergangenheitsverhältnis unserer Zivilisation an einer sehr populär gewordenen, sogar als Wahlkampfparole aufgetretenen Formel sichtbar machen, die zum „Frieden mit der Natur“163 aufruft. Gegen den naturund umweltschützerischen Impuls, der in dieser Formel steckt, ist selbstverständlich nichts einzuwenden. Aber mit ihrer Verwendung im Kontext moralisierender Zivilisationskritik ist nachweislich die Insinuation verbunden, erst die Zivilisation der Industriegesellschaft habe jenen nunmehr wiederherzustellenden Frieden mit der Natur aufgekündigt, der bis in die Anfänge unserer Zivilisation das kulturelle Naturverhältnis der Menschen geprägt und getragen habe. Die Industriegesellschaft als Zivilisation auf der Grundlage eines gegen die Natur geführten Ausbeutungskrieges — härter kann die moralische Selbstanklage dieser Zivilisation nicht lauten. Aber sie verzerrt den Blick auf die Kulturgeschichte durch romantisierende Verklärung der Naturmoral vorindustrieller Geschichtsepochen164. Es ist wahr: Das menschliche Naturverhältnis unterliegt in seiner jeweiligen kulturellen Ausprägung dramatischen historischen Wandlungen, und es unterscheidet sich auch gegenwärtig zwischen Ländern durchaus analogen Industrialisierungsgrades in Abhängigkeit von regionalen und nationalen Herkunftsprägungen erheblieh. Der Wald hat nun einmal in Germanien eine andere naturale und kulturelle Präsenz als in Italien. Der auch dem nur mäßig geschulten Touristenauge in den Südalpen auffällige Unterschied zwischen zimmermannsgeprägter Dorfarchitektur einerseits und architektonisch vorherrschender Steinwerkerkunst andererseits hängt damit zusammen, und wo man die Verwandlung des Urwalds in Kulturboden durch Brandrodung schon seit Jahrhunderten hinter sich hat, ist die Anmutungsqualität des kulturell verbliebenen Restwalds eine andere als im wilden Nordwesten, dessen Eroberung erst im vorigen Jahrhundert abgeschlossen wurde. Es ist unsinnig, solche Differenzen als Unterschiede von intakter und beschädigter Naturmoral beschreiben zu wollen. Die Schäden des Hochwaldes in den Kammlagen des Schwarzwaldes greifen ans Herz, sobald wir sie, forstkundlich einschlägig unterrichtet, zu sehen gelernt haben, und es bedarf keiner Erläuterung, daß die Schwierigkeiten, die uns das noch bereiten wird, durchaus andere, härtere als die Schwierigkeiten der Betroffenheit von Waldesfreunden sind, deren Großeltern Wandervögel waren und die selber in einem skandinavischen Naturholzambiente wohnen. Gleichwohl ist der Schwarzwald, dessen Zustand uns weh tut und auch darüber hinaus uns noch zu schaffen machen wird, in seiner nunmehr bedrohten ernsten hochstämmigen Schönheit alles andere als eine naturale Hinterlassenschaft vorindustrieller Zeit, mit der der Geist der modernen Zivilisation nicht koexistieren könne. Die Sache verhält sich, wie man in jeder soliden Forsthistoriographie nachlesen kann, grundsätzlich anders. Bis tief ins 18. Jahrhundert hinein war der Schwarzwald ein verelendeter, nämlich holzknappheitsbedingt ausgebeuteter Wald mit tiefen Erosionsschäden an den Hängen und verschotterten Talböden — eine in nicht unerheblichem Umfang kulturverwüstete Gegend165. Der schöne Wald hingegen, dessen Anblick uns der verklärende Schwenk der Fernsehkamera heute ins Haus bringt, ist nicht zuletzt ein Produkt moderner Verwaltung. Es ist der aus seiner vorindustriellen Verwüstung nach Vorschriften der Administration des Badischen Musterländle wiedererstandene, rekonstruierte und rationellerer Nutzung, die ja Reproduktionsgesichtspunkte stets einschließt, unterworfene Wald. Das alles hätte sich natürlich gar nicht machen lassen, wenn die erwähnte Holzknappheit166, der der Wald fast zum Opfer gefallen wäre, nicht durch den Übergang zur industriellen Kohleförderung kompensiert worden wäre. Kurz: Die Technik moderner Montanindustrie hat den Wald gerettet. Vor diesem Hintergrund erkennt man, daß es nichts als Zivilisationskritik in der destruktiven Gestalt moralisierender Selbstanklage wäre, wenn man demgegenüber die Kulturgeschichte unseres Naturverhältnisses von einer progressiven Dekadenz unserer Naturgesinnung beherrscht sähe.

This is a preview of subscription content, log in via an institution.

Buying options

Chapter
USD   29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD   39.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD   39.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info
Hardcover Book
USD   39.99
Price excludes VAT (USA)
  • Durable hardcover edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Learn about institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 1994 Springer-Verlag Berlin Heidelberg

About this chapter

Cite this chapter

Lübbe, H. (1994). „Frieden mit der Natur“. In: Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Edition Alcatel-SEL-Stiftung. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-57937-0_17

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-642-57937-0_17

  • Publisher Name: Springer, Berlin, Heidelberg

  • Print ISBN: 978-3-642-63408-6

  • Online ISBN: 978-3-642-57937-0

  • eBook Packages: Springer Book Archive

Publish with us

Policies and ethics