Zusammenfassung
H Mit Machiavelli (1469-1527) wenden wir uns einem Denker zu, der oft in einer recht schematischen Weise behandelt wird. Er gilt als erster wichtiger Vertreter eines spezifisch neuzeitlichen politischen Denkens. Darunter versteht man ein „realistisches“ Denken, das man einem naturrechtlichen und deshalb „idealistischen“ Nachdenken über Recht und Staat in Antike und Mittelalter gegenüberstellt. Machiavelli sei, so diese Sichtweise, bestrebt gewesen, die Gesetzmäßigkeiten politischer Macht ohne naturrechtlichen Über- oder Unterbau zu analysieren. Genau hierin wird das spezifisch Neuzeitliche an Machiavellis Auffassungen gesehen: Seine Überlegungen markierten einen Epochenwandel im rechts- und staatsphilosophischen Denken. Diesem Bild entspricht die Behauptung, Machiavelli sei der Begründer der neuzeitlichen, realistischen Wissenschaft von der Politik, für die nur wertfreie Empirie zähle, Fragen nach der Gerechtigkeit oder dem Willen Gottes aber keine Rolle spielten.1 Machiavelli zeige die Welt so, wie sie nun mal ist, spekuliere aber nicht darüber, wie sie sein soll. Anstatt zu fragen, was eine gerechte politische Ordnung ist, frage Machiavelli, welche Mittel man anwenden muß, wenn man eine politische Ordnung aufrechterhalten oder Macht gewinnen wolle.
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Notes
Daß Machiavelli der Begründer einer neuen Politikwissenschaft sei, behaupten etwa E. Cassi-rer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (1945), 1985, 172, 180 und H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, 395, 397. Siehe auch H. Freyers Einleitung zur einsprachigen Reclam-Ausgabe des Principe, 1961, 3 ff., hier 9. Daß Machiavellis Lehre „nur noch Erfahrung, Empirie, Realismus“ sei und in ihr „Ideen der Gerechtigkeit und Gottes Willen … keine Rolle“ spielten, meint W. Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 31996, Rn. 101.
Von Machiavelli als dem Entdecker einer „Technik der Macht“ spricht R. Zorn in der Einleitung zu N. Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, 21977, XVII ff, hier L.
Nach Münkler beispielsweise beziehen sich Machiavellis Analysen auf die „pure Faktizität der politischen Wirklichkeit; … normative[n] Anforderungen an die Politik werden von ihm schroff zurückgewiesen.“ (Münkler, Machiavelli, 251).
Machiavellis hier behandeltes Werk II Principe wird nach folgender Ausgabe zitiert: N. Ma-chiavelli, II Principe—Der Fürst (italienisch/deutsch), 1991 (= P). Die wichtigste unter den neueren monographischen Machiavelli-Interpretationen ist die umfassende Studie von H. Münkler, Machiavelli (darin auch weiterführende Literaturangaben); eine textgenaue Interpretation des Principe ist die Arbeit von H. Buchheim, Anmerkungen zu Machiavellis’ II Principe’ in: ders., Beiträge zur Ontologie der Politik, 1993, 121 ff.. Ausgezeichnet als Einführung geeignet ist das Büchlein von Q. Skinner, Machiavelli zur Einführung, Hamburg 21990. Aus der zahlreichen Literatur über Machiavelli seien ferner folgende Monographien empfohlen: A. Buck, Machiavelli, 1985; H. Freyer, Machiavelli, 21986; W. Kersting, Niccolo Machiavelli, 1988; K. Mittermeier, Machiavelli. Moral und Politik zu Beginn der Neuzeit, 1990. Zum Begriff des Machiavellismus’ siehe das einschlägige Stichwort in: Hist. Wb. Phi-los.,Bd. 5, 1980, Sp. 579 ff.
Eine deutsche Ausgabe ist: N. Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übers., eingel. u. erl. v. R. Zorn, 21977.
Die folgende Charakterisierung geht in wichtigen Teilen zurück auf Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, 111988. Dieser zuerst 1860 erschienene, grandiose Entwurf ist nicht nur der klassische Text und bis heute Bezugspunkt aller Renaissanceforschung, sondern entfaltete um die Jahrhundertwende auch als Ausdruck eines damals gängigen Lebensgefühls Breitenwirkung. Hierzu A. Buck, Die Auseinandersetzung mit Jacob Burckhardts Renaissancebegriff, in: ders., Studien zu Humanismus und Renaissance. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1981-1990, 1991, 31 ff. Hervorragend geeignet, um das wissenschaftliche Fragen zu lernen, ist Johan Huizingas zuerst 1920 erschienene Kritik an Burckhardts Individualismus-These: Das Problem der Renaissance, in: ders., Das Problem der Renaissance, Renaissance und Realismus, 1974, 5 ff. Über den heutigen Stand der Renaissanceforschung informiert knapp P. Burke, Die Renaissance, 1996. Die verschiedenen Versuche, eine Epoche der Neuzeit anzusetzen und zu verteidigen, würdigt S. Skalweit, Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff, 1982. Die Geschichte des Epochenbegriffs behandeln H. Diller/F. Schalk, Studien zur Periodisierung und zum Epochenbegriff, 1972. Philosophisches zum Thema Epoche und Neuzeit findet sich in: W. Kamlah, „Zeitalter“ überhaupt, „Neuzeit“ und „Frühneuzeit“, Saeculum 8 (1957), 313 ff.; R. Herzog/R. Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, 1987.
In §3 II 2 und 3.
Zur Fürstenspiegel-Tradition des Principe etwa D. Sternberger, Machiavellis „Principe“ und der Begriff des Politischen, 1974, 29 ff., hier 42 und 74 ff.
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (= Werke, Bd. 20), 1986, 48. In der jüngeren Forschungsliteratur über Machiavelli ist es inzwischen allgemeine Überzeugung, daß Machiavelli kein politischer Theoretiker in einem anspruchsvollen Sinne war. Siehe etwa M. Ramsay, Machiavelli’s political philosophy in The Prince, in: M. Coyle (Hg.), Niccolo Machiavelli’s The Prince. New interdisciplinary essays, 1995, 174 ff.
Cicero, Tusculanae Disputationes, lat.-dt., hg. v. O. Gigon, 61992, insbes. 5. Buch, 316 ff.; eingehend zum Verhältnis Machiavellis zu den Römern Q. Skinner, Machiavelli, 46 ff.
K. P. Rippe/ P. Schaber (Hg.): Tugendethik, 1998.
Den Stoikern zufolge gibt es strenggenommen gar keine tyche: gewisse Abläufe erscheinen uns nur deshalb als zufällig, weil wir deren Ursachen nicht erkennen. Der Weise, der dies weiß und danach lebt, ist in seinem Gutsein daher von tyche vollkommen unabhängig. Die stark fragmentierten Texte der Stoiker und über die Stoiker finden sich gesammelt in: H. v. Arnim (Hg.), Stoikorum Veterum Fragmenta, 1903 ff.; zu tyche und arete v. a.: Bd. 2, Kap. 6, § 9, 280 ff., Bd. 3, Kap. 1, § 5, 13 ff. Zu demselben Ergebnis wie die Stoiker gelangt Epikur auf anderem Wege: Tyche gebe es zwar durchaus, nur sei die arete des Weisen von allen Gütern, die dem Zufall unterliegen, unbeeinflußt (Brief an Menoikeus 134 f., leicht zugänglich in der griech.-dt. Ausgabe bei Reclam: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, 1985, 51). Demgegenüber sieht Aristoteles durchaus gewisse unaufhebbare Abhängigkeiten der arete eines Menschen von dem, was ihm widerfährt (EN I l0f., VII 14 1153b).
J. G. A. Pollock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, 1975, 31 ff.
In diesem Sinne auch E. Voegelin, „Die spielerische Grausamkeit der Humanisten“. Studien zu Niccolo Machiavelli und Thomas Morus, 1995, 91.
R. Zorn schreibt in der Einleitung der von ihm übersetzten und herausgegebenen Ausgabe des Principe (61978, IV ff., hier XXII), Machiavelli habe die Dämonie der Macht entdeckt. Unter dem Titel der Dämonie der Macht legte G. Ritter eine wirkmächtige Machiavelli-Interpretation vor: G. Ritter, Die Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit, 61948.
Etwa in G. B. Volz (Hg.), Die Werke Friedrichs des Großen, Bd. 7, 1913, 1 ff.
Die beiden ersten Aristoteles-Zitate sind Aristoteles, Politik, V 11 1314 a-b, in der von F. F. Schwarz besorgten Reclam-Ausgabe, 1989, 289 f., im zweiten Zitat sind bis auf die erste alle Hervorhebungen hinzugefügt. Das dritte Aristoteles-Zitat ist Politik, V 11 1315b, ebenda, 293 f. Zum Vergleich Aristoteles—Machiavelli siehe Buchheim, Anmerkungen, 138 f.
Von einer gänzlich anderen als der hier vorgeschlagenen Machiavelli-Interpretation ausgehend, bemerkt E. Voegelin zutreffend: „Während Machiavelli gegenüber vielen Faktoren der Politik durchaus nicht blind war, ist sein Bild der politischen Realität dennoch nicht vollständig treffend.“ Voegelin, „Die spielerische Grausamkeit der Humanisten“, 37.
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 51985, 28.
H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 51987, 194.
Zur Macht als Potential und zu ihrer ethischen Qualität ausführlich H. Buchheim, Die Ethik der Macht, in: ders., Beiträge zur Ontologie der Politik, 1993, 61 ff.
Zur Anerkennung siehe das Stichwort Anerkennung in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hg. von J. Sandkühler, 1990, 128 ff.; ferner ausführlich A. Hon-neth, Kampf um Anerkennung. Zur modernen Grammatik sozialer Konflikte, 1992. Honneth diskutiert die Anerkennungsproblematik der Folter im Kapitel über Vergewaltigung, Entrechtung und Entwürdigung, 212 ff. Zum Anerkennungsbegriff bei Hegel H.-G. Gadamer, Dialektik des Selbstbewußtseins, in: ders., Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien, 21980, 49 ff., bes. 55 ff. und L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, 1979.
Zu Machiavellis Tätigkeit als Diplomat siehe Skinner, Machiavelli, 20 ff.
Siehe etwa Voegelin, „Die spielerische Grausamkeit der Humanisten“, 34 f., 42 f., 95 f.
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Gröschner, R., Dierksmeier, C., Henkel, M., Wiehart, A. (2000). Machiavelli und der Begriff der Macht. In: Rechts- und Staatsphilosophie. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-57214-2_6
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