Zusammenfassung
Das Konzept, an der Wahnerfahrung verstehend teilzunehmen, sie täuschend genau nachzuahmen, die Intention so vieler Künstler, mehr als nur Pasticcios der Krankheitssymptome zustandezubringen, führte die grenzüberschreitende Moderne an einen kritischen Punkt ihrer Entwicklung. Ist ein Dialog zwischen Vernunft und Irrsinn ohne Selbstverlust und Tragik für den Künstler möglichi? Ist die Geistesstörung literarisch und bildkünstlerisch überhaupt einfühlund nachahmbar? Der französische Surrealismus hat die schon gegenüber Hölderlins spärer Dichtung diskutierte „Verstehensgrenze“ angesichts einer immer durchlässiger werdenden Grenze zwischen Kunst und Irrsinn mit dem Ziel ihrer Wertnivellierung erneut thematisiert. André Breton und Paul Eluard haben in ihrem gemeinsam geschriebenen Werk „L’ Immaculée Conception“ (1930) fünf Simulationsversuche psychotischer Sprachstörungen unternommen, für deren Symptomatik sie sich an Emil Kraepelins „Introduction ala psychiatrie“ (1907) orientierten. Die pejorative, psychopathologische Bedeutung der Simulation erfährt eine positive ästhetische Umwertung durch die surrealistische Poesie, die von den Protagonisten als ein überindividuelles, Gegensätze überbriickendes, ganzheitliches, nur vom psychischen Automatismus reguliertes Verstehen programmiert ist. Sie glaubten, ein „gefährliches Buch“ geschrieben zu haben, dass in der Koinzidenz von simulierter und wirklicher Sprachstörung sich jeder Kontrolle und Abänderung der originalen Denk- und Sprachstörung und damit auch jeder Rückversicherung durch Logik und Vernunft begibt. Der surrealistische Simulationsversuch verwickelte sich in Widerspriiche. Einerseits sollen eine Verstandigungsbrticke vom nachahmenden poetischen Subjekt zur beeindruckenden eigenschöpferischen psychotischen Sprachlichkeit geschlagen und die debilen, manisch-depressiven, paralytischen, paranoischen, schizophasischen Textproduktionen zur gleichwertigen, wenn nicht überlegenen Dichtung inauguriert werden, die die traditionellen Literaturgattungen ablöst. Andererseits soll das „geistige Gleichgewicht“ zwischen Nachahmung und Nachgeahmtem in der subjektlosen Koinzidenz mit der psychotischen Sprachlichkeit bewahrt werden können.
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Gorsen, P. (2002). Simulation als Methode. Brückenkonstruktionen zwischen Kunst und Wahn. Das surrealistische Paradigma. In: Fuchs, T., Jádi, I., Brand-Claussen, B., Mundt, C., Kiesel, H. (eds) Wahn Welt Bild. Heidelberger Jahrbücher, vol 46. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-55719-4_6
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