Zusammenfassung
Das erste Kapitel vergegenwärtigt zunächst die verschiedenartigen Erscheinungsformen leiblichen Existierens, das sich vom rein innerleiblichen Spüren nach außen hin entfaltet. Sodann wird die besondere, absolut und “meinhaftig” erlebte Räumlichkeit des Leibes beschrieben. Zu den grundlegenden Charakteristika des coenästhetischen Leibraums gehört der Antagonismus restriktiver und expansiver Tendenzen; letztere leiten sich aus dem Antrieb als der Quelle leiblicher Dynamik ab. Dies führt weiter zu den primären Beziehungen zwischen Leib- und Umraum: Die Erfahrung des Widerstandes im Tastsinn grenzt sie voneinander ab, in Einverleibung, Ausscheidung und Atmung gehen sie ineinander über. Schließlich wird die Polarität von Leib und Körper unter verschiedenen Aspekten thematisiert. — Der Leib erscheint in dieser Darstellung nicht mehr als das statische Gebilde, das die vom Körper abgeleitete objektivierende Betrachtung in ihm zu sehen meint. Vielmehr wird die Leiblichkeit als ein fluides, dynamisches Geschehen, als ein Prozess aufgefasst, der von vornherein in einer dialogischen Beziehung zur Umgebung steht.
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Literatur
Vgl. zur Kritik dieser sogenannten Phänomenologie Blankenburg 1991b.
Einen bemerkenswerten Versuch, diese Einseitigkeit zu korrigieren, stellt der Band „Subjektive Anatomie“ von Uexküll et al. (1994) dar.
Die Abneigung und der Ekel, die den Medizinstudenten zu Beginn des Anatomiekurses oft erfassen, sind ein Beleg dafür, dass die vergegenständlichende, distanzierende Einstellung zum Leib erst gelernt werden muss.
„Rien d’humain n’est tout à fait incorporel.“ — M. Merleau-Ponty: Résumé du Cours: Collège de France, 1952–1960, Gallimard, Paris 1968, S.178.
Vgl. zur Geschichte dieser Begriffe Fuchs 1995a.
Merleau-Ponty 1965, 234; vgl. dazu auch Plügges hervorragende Analysen der Leiblichkeit aus der internistischer Sicht (Plügge 1962, 1967, bes. S.66f.).
Der Begriff der Richtung wird hier und im Folgenden nicht im geometrischen, sondern im dynamisch-vektoriellen Sinn verstanden, als ein „Sich-richten“ auf etwas hin, sei es als spürbare Tendenz oder als tatsächliche Bewegung.
Hier sei auf Heideggers Passagen zur Räumlichkeit des In-der-Welt-Seins in „Sein und Zeit“ verwiesen (Heidegger 1925, 104ff.), ebenso auf Sartres Analyse des Leibes als des „stillschweigend überschrittenen“ (dépassé sous silence) in „Das Sein und das Nichts“ (Sartre 1962, 424f.).
Zur Geschichte des Coenästhesiebegriffs vgl. Fuchs 1995a.
Mit „Meinhaftigkeit“ bezeichnet Kurt Schneider (1992, 59f.) die Subjektivität oder Ich-Zugehörigkeit von Leibempfindungen, Gefühlen, Trieben und Willenserlebnissen. Die womöglich anklingende Konnotation einer Eigentumsbeziehung zum Leib sollte allerdings ausgeschlossen werden: Die „Meinhafligkeit“ der Leibempfindungen, wie sie etwa in ihrem Lust- oder Unlustcharakter erscheint, ist präreflexiver Natur und liegt vor der Distanzierung des Leibes zum eigenen Körper.
Der Rahmen der Untersuchung lässt es nicht zu, näher auf die Leib-Seele-Problematik einzugehen, die sich freilich aus phänomenologischer Sicht wesentlich anders darstellen würde, nämlich als Leib-Körper-Problematik. Wie verhalten sich absoluter leiblicher Raum und ana- tomischer Körperraum zueinander? — Der Organismus wird als Grundkategorie der physiologischen Biologie von außen erfasst, während der Leib als Grundkategorie der phänomenologischen Psychologie den inneren Erlebnisraum des verkörperten Subjekts bezeichnet. Die absolut gegebene Räumlichkeit des Leibes ist nicht die Projektion eines selbst unleiblichen Bewusstseins. Vielmehr ist dieses Bewusstsein selbst ein leibliches: Unabgrenzbar gehen automatisch ablaufende Bewegungen, subliminale Wahrnehmungen und vorbewusste Leibempfindungen in bewusstes Erleben über, und im Rückblick stellen wir fest, dass das bewusst Gewordene uns selbst doch schon zugehörte, sich gewissermaßen im Schatten des Aufmerksamkeitsstrahls befand. Diese leibliche Ursubjektivität kann aber erst in einem Organismus entstehen, der als ein unteilbares, lebendiges Ganzes (als “organisches Feld”) die äquivalente Basis für den Leib darstellt. Die Einheit des Leibes setzt die Einheit des Körpers als eines Organismus voraus. Der erlebte Raum des Leibes stünde dann in Korrespondenz zum Feld des Körpers; die Strukturen und Richtungen des Leibes hätten ihre systematischen Entsprechungen in den gleichsinnig ausgerichteten physiologischen Prozessen. Offensichtlich würde die Lösung des Leib-Körper-Problems zunächst einen anderen Begriff des Lebendigen bzw. des Organismus erfordern, als er derzeit von der Physiologie gebildet werden kann. Diesem Problem nachzugehen liegt jedoch nicht mehr in der Intention der Arbeit (vgl. ausführlicher Fuchs 2000a, 135ff).
Vgl. lat. angere = zusammendrücken, angustus = eng.
Vgl. v.a. Schilder 1924, Thomae 1944, Lersch 1964, Klages 1967.
Vgl. zum Begriff der Richtung Anm.l 1.
Der Meinung von Klages, dass „der Antrieb als solcher nicht fassbar, sondern nur an seinen Wirkungen abzulesen“ und dass in den motorischen, sensorischen und Denkabläufen nur die sekundären Erscheinungsformen des Antriebs gegeben seien (Klages 1967, 11), kann ich daher nicht zustimmen. Ein elementares Drangerleben ist als leibliche, nach Ausgleich strebende Spannung oder als spezifischer gerichtete Triebregung durchaus spürbar.
Schmitz unterscheidet dabei zweckmäßig zwischen perzeptivem und motorischem Körperschema (Schmitz 1967, 243ff.): Das perzeptive Körperschema bezeichnet die örtliche Übereinstimmung von gespürten Leibinseln und gesehenem Körper, die uns etwa ermöglicht, dem Arzt die Stelle zu zeigen, an der es weh tut. Das motorische Körperschema dagegen leitet die auf gesehene Orte gerichtete leibliche Bewegung.
„Wirklich ist, was uns Widerstand leistet. Widerstand ist, was die Bewegung unseres Leibes hemmt, und Widerstand ist alles, was die unmittelbare Verwirklichung unseres Strebens und Wünschens verhindert“ (Jaspers 1973, 79; vgl. auch Dilthey 1924, 98; Scheler 1983, 55).
Ein anschauliches Beispiel gibt auch die Augenmotorik: Die Efferenzkopien der Augenmuskelbewegungen an das optische System im Gehirn verhindern, dass die resultierende Veränderung des Netzhautbildes als ein plötzliches Kreisen der Umgebung wahrgenommen wird. Drückt man jedoch von außen auf die Augapfel, so scheint die Umgebung zu schwanken, weil die Bewegung nicht von den Augenmuskeln selbst durchgeführt und ihre Folgen daher nicht „vorausberechnet“ werden.
Vgl. hierzu die ausgezeichnete phänomenologisch-entwicklungspsychologische Darstellung von Seewald (1992).
Griech. psýche = Atem, Hauch, Seele; pneúma = Hauch, Wehen, Geist, ebenso lat. spiritus von spiro = hauchen, atmen, anima = Atem, Seele; hebr. nœfœs; indisch atman (“Atem”) = Selbst; japan. ki = Luft, Atem, Gefühlsregungen.
Vgl. das Beispiel von Stern, s.o. S.13.
Vgl. hierzu auch Piagets Darstellung der „Zirkulärreaktionen“ (Piaget 1969, insbes. 57ff., 159ff.).
Bereits Wundt sah in den Gemein- und Organempfindungen die fundierende Rolle des Leibes für das Ichbewusstsein (Wundt 1892, 262ff.). Auf die Beobachtung, dass “der eigene Körper und vor allem die Oberfläche desselben ... ein Ort (ist), von dem gleichzeitig äußere und innere Wahrnehmungen ausgehen können” und der “dem Getast zweierlei Empfindungen” ergebe, gründete dann auch Freud seine Auffassung, dass das Ich sei “vor allem ein körperliches” sei (Freud 1940, 253).
Dieser Begriff wurde von Schilder (1923, 1950) geprägt; zu seiner späteren, vielfältigen und widersprüchlichen Verwendung vgl. Fuchs 1995a, bzw. Fuchs 2000a, 38ff .
“We elaborate our body-image according to the experiences we acquire by the actions and attitudes of others” (Schilder 1950, 199).
Auf diese Dialektik hat vor allem Plügge aufmerksam gemacht: “Mit dem Auftreten einer Parästhesie ... taucht der Arm plötzlich aus der Verborgenheit seiner vermittelnden Rolle auf ... Er ist aus etwas Unbestimmtem zu etwas Bestimmtem geworden, aus etwas unnennbar Transparentem zu etwas Massigem geronnen ... Massig-werden und Sich-Entfremden ist Eins ... (Aber) paradoxerweise durch das Sich-Entfremden wird der taube Arm nur noch mehr mein eigener” (Plügge 1967, 51f.). Oder: “Liegt mir mein Herz wie ein Stein in der Brust, erlebe ich gleichzeitig mehr als je, dass dieses Schwere mein Herz ist, obgleich es sich wie etwas Eigenständiges, Autonomes benimmt” (l.c. 64).
Vgl. zum Raumproblem in der Psychopathologie auch Binswanger 1933 und Fischer 1933.
Ebenso ist nach Heidegger der Leib kein “Ding”, sondern eine Weise des Daseins. Grenze des Leibes ist daher “...der Seinshorizont, in dem ich mich aufhalte” (Heidegger 1987, 113); sie wandelt sich fortwährend mit meinem Spielraum, meiner Reichweite, meinem Weltverhältnis. “Beim Zeigen mit dem Finger auf das Fensterkreuz dort drüben höre ich nicht bei den Fingerspitzen auf” (ebd.). Dasein ist somit “...keineswegs nur in einem Raumstück vorhanden, den der Leibkörper ausfüllt” (Heidegger 1925, 368), sondern reicht bis an die Grenzen seiner Welt.
Lat. intendere = sich anspannen, sich hinstrecken
Straus unterschied ein gnostisches (“erkennendes”) und ein pathisches (“erleidendes”) Moment, das jeder Wahrnehmung in unterschiedlichem Maß zueigen sei (Straus 1930, 1960). Das eine hebt das Was des Gegenstandes hervor, das andere das Wie seines Gegebenseins; das eine ist eher gegenständliches Wahrnehmen, das andere eher zuständliches Empfinden (Straus 1960, 151). — Dieser Polarität entspricht auch die Unterscheidung eines “repräsentativen” und eines “impressiven” Wahrnehmungsmodus, die Janzarik in Anlehnung an die strukturdynamische Psychologie Kruegers und Welleks getroffen hat: “Dem impressiven Wahrnehmungsmodus erschließen sich dynamisch relevante Gehalte, etwa Physiognomien, unmittelbar und unabhängig von ihrem sachlichen Stellenwert. Das repräsentative Wahrnehmen richtet sich erkennend auf den gegenständlichen Aspekt und distanziert sich von dem die seelische Dynamik unmittelbar bewegenden Anmutungsgehalt des Wahrgenommenen” (Janzarik 1959, 20f.).
Auch die ursprüngliche Wahrnehmung ist eine gesamtleibliche: Die neuere Säuglingsforschung hat gezeigt, dass in den Einzelsinnen von Anfang an synästhetische Charaktere mitempfunden werden. “Säuglinge verfügen über die angeborene Fähigkeit, einen Informationstransfer von einem Modus in einen anderen vorzunehmen, der es ihnen erlaubt, eine Entsprechung zwischen haptischem und visuellem Eindruck zu erkennen” (Stern 1998, 227). Der Säugling vermag z.B. optisch einen Schnuller mit Noppen von einem glatten unterscheiden, obwohl er ihn nicht gesehen, sondern nur an ihm gesaugt hat. Es gibt für ihn nicht zwei Schnuller, einen zum Saugen und einen zum Sehen, sondern nur einen. Ebenso scheint ein gemeinsamer intermodaler Raum von Anfang an gegeben zu sein. Neugeborene wenden spontan Kopf oder Augen in Richtung einer Schallquelle, und bereits nach einem Monat reagieren sie deutlich irritiert, wenn eine Stimme nicht aus dem sichtbar bewegten Mund des Gegenübers kommt, sondern experimentell von der Seite her erzeugt wird (Dornes 1993, 44f.). Wahrnehmung beginnt also mit Ganzheiten, die dann in separate Empfindungen differenziert werden, und nicht umgekehrt. Es gibt nicht einen Seh-, einen Hör- und einen Fühlraum, die allmählich zu einer einheitlichen Welt verschmolzen werden, sondern der einheitliche leibliche Raum steht am Anfang der Entwicklung.
Was psychopathologisch unter Synästhesien verstanden wird, sind insofern Extremformen des gewöhnlichen synästhetischen Wahrnehmens: Im Mescalinrausch können Flötentöne zu blaugrüner Farbe werden, deren Helligkeit mit der Tonhöhe schwankt; ein Metronomschlag ruft z.B. die Wahrnehmung grauer Flecken hervor, deren Größe der Tonintensität und deren Abstand voneinander dem Schlagtempo entspricht. “Im Mescalinrausch sehen wir die im Lauf der Entwicklung (zwischen den Sinnen) errichteten Schranken zeitweise wieder fallen” (Mayer-Gross u. Stein 1926, 385); vgl. auch Beringer 1927, 61 ff.
Vgl. dazu Stern 1998, 209. Diese Ähnlichkeitsstrukturen — typische Intensitätskonturen sind etwa steigend” fallend” anschwellend” verblassend” zart” heftig” abgehackt” usw. — sind offenbar für die Wahrnehmung grundlegender als die ausdifferenzierten Modalitäten der Einzelsinne. So erkennen Säuglinge ohne weiteres, dass Bilder und Töne mit demselben rhythmischen oder Intensitätsverlauf zu einer Entität gehören, die durch ihre individuelle zeitliche Organisation charakterisiert ist. Sie ordnen ein anschwellendes Geräusch einem sich nähernden Fahrzeug zu, das ihnen in einem Film gezeigt wird, nicht einem sich entfernenden; sie unterschieden mühelos, ob eine gesehene Mimik und eine gleichzeitig gehörte Stimme zusammengehören oder nicht, usw. (1.c. 131).
Kürzlich wurde die Existenz von sog. “Spiegelneuronen” (mirror neurons) in der prämotorischen Großhirnrinde von Halbaffen nachgewiesen, die nicht nur feuern, wenn der Affe mit seiner Hand nach einer Rosine greift, sondern auch dann, wenn das Tier nur beobachtet, wie ein anderer Affe oder ein Mensch genau dieselbe Handlung ausführt (Gallese et al. 1996). Diese Neuronen spiegeln also die Bewegung des Gegenübers wider; sie könnten die Basis für die leibliche Mitempfindung von wahrgenommenen Gestaltverläufen oder Bewegungen darstellen.
In verwandter Terminologie unterschied Kafka (1950) vier Uraffekte, denen er vier Urbewegungen zuordnete: Ingestion (“Her mit dir zu mir!”), Ejektion (“Fort mit dir von mir!”), Profusion (“Hin mit mir zu dir!”), Rezession (“Fort mit mir von dir!”). Darin wird das dialogische Moment in allen primären leiblichen Richtungen deutlich: Sie sind immer auch ursprüngliche Formen der Beziehungsstiftung; Richtungsraum und Beziehung zu den Anderen sind in der kindlichen Entwicklung eng miteinander verflochten.
Hastings (1952) ließ Versuchspersonen Entfernungen schätzen, wobei sich eine eindeutige Korrelation zwischen der Tendenz zur Unterschätzung der Entfernungen und persönlichkeitsspezifischer Selbstunsicherheit zeigte.
In der ersten Beschreibung der Agoraphobie hatte Benedikt (1870) noch vom “Platzschwindel” gesprochen und ihn auf eine Labyrinthstörung des Innenohrs zurückgeführt (Allgemeine Wiener Medizinische Zeitung 15/1870, 488).
Vgl. dazu Grünbaum (1930) sowie die Analysen Merleau-Pontys (1965, 169ff.).
“Wo beginnt das Selbst des Blinden? An der Spitze des Stockes? Am Griff des Stockes? Oder irgendwo in der Mitte des Stockes? Diese Fragen sind unsinnig, weil der Stock der Weg ist, auf dem Unterschiede übermittelt werden und dabei eine Transformation durchmachen, so dass eine Grenzlinie durch diesen Weg zu ziehen bedeutet, einen Teil des systemischen Kreislaufs abzuschneiden, der die Fortbewegung des Blinden bestimmt” (Bateson 1981, 411).
Cassirer hat in seiner “Philosophie der symbolischen Formen” den Ausdruck als Ursymbol aufgefasst, in dem Inneres und Äußeres, Meinendes und Gemeintes noch nicht voneinander geschieden sind. Er unterscheidet Ausdruck als unmittelbares Sich-Zeigen von der hinweisenden, repräsentierenden “Darstellung” und schließlich von der „reinen Bedeutung“ des Zeichens. Diese beiden phylo- wie ontogenetisch späteren Symbolkategorien implizieren bereits ein zunehmendes Auseinandertreten von Bedeutendem und Bedeutetem. Hingegen besteht der Ausdruck darin, dass “... ein Wahrnehmungserlebnis, als ‘sinnliches’ Erlebnis, zugleich einen bestimmten ‘Sinn’ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt” (Cassirer 1929, 234). Ausdruck ist demnach ein dem Sinnlichen unmittelbar innewohnender Sinn.
Auch “Psychopharmaka” wirken auf den Leib als Resonanzboden der Gefühle und nicht auf diese selbst; als intentional gerichtete Regungen (s.u.) können Gefühle nur gedämpft, nicht pharmakologisch hervorgerufen oder verändert werden.
Ich wähle diesen Begriff, um eine Vielzahl verwandter Bezeichnungen zusammenzufassen: die “vitalen Bedeutungen” der biologischen Umweltlehre (Kunz 1966); die “Aufforderungscharaktere”, “Anmutungen” oder “Valenzen” der Feldpsychologie (Lewin 1926), die “Wesenseigenschaften” der Gestaltpsychologie (Metzger 1954a); die “synästhetischen Charaktere” und “Gestaltverläufe” der Wahrnehmungsphänomenologie von Schmitz (1978, 37ff., 47ff.) und die “Vitalitätsaffekte” und “Intensitätskonturen” der Säuglingsforschung Sterns (1998). Die Entdeckung der Ausdrucks- oder Wesenseigenschaften ist die Leistung von Ludwig Klages, der sie allerdings nur Lebewesen zuschrieb (Klages 1964, 392ff.).
Die leiblich-existenziale Grundstruktur der Sprache hat auch Binswanger in seinem Aufsatz “Traum und Existenz” am Beispiel des Hohen und Niedrigen, des Steigens und Fallens betont: Wenn wir z.B. gleichermaßen von einem hohen Turm, einem hohen Ton, einer hohen Moral sprechen, ,,... so handelt es sich hier keineswegs um sprachliche Übertragungen aus irgendeiner dieser Seinssphären auf die andere, vielmehr um eine allgemeine Bedeutungsrichtung, die sich gleichermaßen auf die einzelnen regionalen Sphären ‘verteilt’.” Die Sprache bezeichnet hier die Vertikale, das Gerichtetsein nach oben als einen “in der ontologischen Struktur des Menschseins angelegten speziellen Wesenszug” (Binswanger 1947, 75f.). Ich bezeichne eine solche in der Grundstruktur des Leibes verankerte, allgemeine Erlebnisform als “leibliches Existenzial” (Fuchs 2000a, 202f.). Weitere Beispiele solcher Existenzialien sind etwa die “Wärme “, die gleichermaßen physisch (an der Haut), synästhetisch (als warme Farbe) und atmosphärisch (als warmer Empfang) empfunden werden kann, schließlich aus dem Bereich der Oralsinne der “ Geschmack “, der in der ästhetischen Wertsphäre wiederkehrt, oder das “Anrüchige”, das auch ein dubioser Sachverhalt haben kann.
Über gesteigertes Bedeutungserleben berichten auch Versuchspersonen im Haschischrausch: “Eine Hand wird ‘handlicher’, ein Kragen ‘kragenhafter’. Ein metallener Behälter muss weggeräumt werden, da seine überaus eindringliche Form nicht mehr ertragen werden kann” (Fränkel u. Joel 1927, 92). — Huxley (1970, 46ff.) beschreibt seine Erfahrungen mit Mescalin: “In grünen Parabeln von der Decke hängend, strahlte das Efeulaub ein jadeartig glasiges Leuchten aus. ... Auf einmal sah ich ... eine Stuckmauer mit einem schräg auf sie fallenden Schatten, eine kahle, aber unvergesslich schöne Mauer, leer, aber von der ganzen Bedeutsamkeit, dem ganzen Geheimnis des Daseins erfüllt.”
Dies galt bis in die europäische Neuzeit. Noch Johann Christian Reil beschreibt in seinem Lehrbuch der Seelenheilkunde, einem der ersten der neuen Psychiatrie, ausführlich verschiedene Zoometamorphosen, Lykanthropien etc. (Reil 1805, 295ff.).Vereinzelt finden sich solche Phänomene auch bei Psychotikern in neuerer Zeit (Lukianowicz 1967).
Als “Einleibung” bezeichnet H. Schmitz die Bildung übergreifender quasi-leiblicher Einheiten in bestimmten Situationen (Schmitz 1965, 341–349; 1989, 55–58). Anschauliche Beispiele sind etwa die Verschmelzung von Reiter und Pferd, von zwei Tanzenden, zwei Liebenden, aber auch von Handwerker und Werkzeug, Fahrer und Fahrzeug, Schütze und Bogen etc. Einleibung kann sich aber auch ohne Tätigkeit schon in der Wahrnehmung vollziehen, wenn man von einem Gegenstand “fasziniert”, von einem Anblick “gefesselt” ist, “an den Lippen eines Redners hängt” o.ä.
Portmann (1944, 61) spricht von einer “stetigen, dauernden Sexualisierung aller menschlichen Antriebssysteme” .
Eine neuere Arbeit dazu findet sich bei Thompson 1982.
Die Entdeckung der Intentionalität der Gefühle ist ein wesentliches Ergebnis der phänomenologischen Psychologie; vgl. u.a. Krueger 1928, Bollnow 1941, Lersch 1964.
Die Säuglingsbeobachtungen deuten zudem darauf hin, dass die Konkordanz von mimisch-gestischem Ausdruck und Gefühl angeboren ist, und nicht etwa die Verbindung, sondern eher die zunehmende Trennung von Gefühl und Ausdruck gelernt wird (Izard 1977, Dornes 1993).
“Die Ich-Grenze zieht sich von den Objekten zurück, wann immer das Kind durch sie Enttäuschungen erlebt, wann immer es findet, dass sie seinen Wünschen nicht gehorchen und wann immer es von ihnen Schmerz, Kummer, Angst oder gar Schrecken erfährt” (Federn 1956, 299).
Diesen Gedanken hat Freud mehrfach formuliert, u.a. in dem Aufsatz “Die Verneinung” (Freud 1948a).
Vergleiche zu diesen Begriffen Janzarik 1965. 58 Vgl. zum leiblichen, impliziten im Unterschied zum expliziten Gedächtnis ausführlicher Fuchs 2000a, 316ff.
Im Traum ist diese Objektivität der Perspektive aufgehoben: Der Träumende erlebt abrupte Wechsel beliebiger Perspektiven (er sieht z.B. ein Haus von außen und im nächsten Moment oder zugleich von innen), mit denen er doch immer jeweils eins ist, in die er gleichsam “hineinstürzt”.
Janzarik (1959) hat diese intentionale Leistung unter dem Begriff der “Desaktualisierung” beschrieben, als die Fähigkeit, andrängende Sinneseindrücke ebenso wie innere Assoziationen auszublenden, wenn sie sich nicht in das aktuelle Feld des Wahrnehmens oder auch Denkens sinnvoll integrieren lassen.
Diese Wahrnehmung macht den Hunger zu “meinem”; man könnte daher denken, dass die “Meinhaftigkeit” des Leibes (2.1.2) erst durch das reflexive Bewusstsein konstituiert wird. Tatsächlich ist aber diese Selbstzuschreibung nur möglich, weil der Leiblichkeit bereits eine elementare Subjektivität, eine vorgängige Meinhaftigkeit eignet, die in der Wahrnehmung durch das selbstbewusste Subjekt nur wiederaufgenommen wird.
Diese Formulierung stammt von Bin Kimura (Reflexion und Selbst beim Schizophrenen, Vortrag Nagoya 1986); zit. n. Blankenburg 1988.
Husserl bezeichnete intentionale Akte als solche, in denen “ein Ich lebt und engagiert ist” (Husserl 1950, 111).
Wir werden in Abschnitt 3.2 sehen, dass die Schizophrenie wesentlich durch eine Störung dieses intentionalen “Inneseins” charakterisiert ist.
Hier ist neben dem Werk Piagets auf die reiche psychoanalytische Literatur (Erikson 1950, Mahler et al. 1975, Spitz 1960, 1967, Winnicott 1973, 1984) und auf die neuere Säuglingsforschung (Stern 1991, 1998, Dornes 1993) zu verweisen. Aus leibphänomenologischer und psychoanalytischer Sicht liegt inzwischen eine umfangreiche Darstellung der Leibentwicklung von Seewald (1992) vor.
Nach Spitz ist die frühkindliche Beziehung zur Mutter geprägt von einer “coenästhetischen”, vorwiegend körpersprachlichen Kommunikation, die “innerhalb der Dyade selbst einen zirkulären Resonanzprozess” darstellt (Spitz 1957, 39).
Die Untersuchungen von Condon u. Sander (1974) belegten zudem eine fein abgestimmte Synchronie zwischen den Modulationen der mütterlichen Stimme und den kindlichen Bewegungen: So führt die ruhige Stimme der Mutter zu weichen, runden, die aggressive Stimme zu ekkigen, fahrigen Bewegungen des Säuglings.
Wir treffen hier auf den wichtigen Übergang vom Ausdruck zur Darstellung (Cassirer, s.o. Anm. 44), der sich im Übergang von der Mimik zur Gestik spiegelt: Mimischer Ausdruck, der sich vorwiegend im Gesicht zeigt, ist unmittelbar, unwillkürlich und entzieht sich weitgehend der Kontrolle. Gefühle artikulieren sich vorwiegend im mimischen Ausdruck (Freude, Ärger, Lachen, Weinen etc.). — Gesten hingegen enthalten eine “deiktische”, symbolische Bedeutung; sie werden darstellend oder intentional gebraucht. Form und Inhalt, im Ausdruck noch ungeschieden, treten auseinander. An den Gesten ist nicht nur das Gesicht, sondern der ganze Körper beteiligt; ihre Sprache ist nicht mehr universell, sondern wird kultur- und zeitspezifisch erlernt.
Vgl. zu dieser Entwicklung vom “reach-for-real” zum “reach-for-signal” auch Bruner 1977.
R.Spitz hat die zentrale entwicklungspsychologische Rolle der Verneinung in seinem Buch “Nein und Ja. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation” dargestellt. Die Geste des verneinenden Kopfschüttelns, die das Kind etwa mit 1 1/2 Jahren erlernt, ist für Spitz “der sichtbare Indikator für die Tatsache, dass es zur Abstraktion der Ablehnung oder Verneinung vorgedrungen ist” (Spitz 1970, 83).
Schmitz spricht von Scham als “Rückschlag der Initiative” (Schmitz 1973, 35).
Zu einem ähnlichen Ergebnis führte bereits Sartres Deutung der Scham (1962, 348ff., 381 ff.). Neuerdings hat auch Seidler in einer ausgezeichneten, phänomenologischen wie tiefenpsychologischen Analyse die Scham mit dem “Blick des Anderen” verknüpft (Seidler 1995).
Scham und Schuldgefühl gehören damit — neben Verlegenheit, Reue oder Stolz — zu den reflexiven oder selbstbezüglichen Affekten, die die Übernahme der Außenperspektive voraussetzen (vgl. Fuchs 1999a).
Bilz führt die Schuldangst auf die phylogenetisch frühere “Disgregationsangst” des vom Stamm verlassenen oder verstoßenen und damit einem tödlichen Schicksal überlieferten Individuums zurück (Bilz 1971, 356).
Vgl. auch “Schuldenberg”, “Schuldenlast”, “Belastungszeuge”, ein Haus ist mit Hypotheken “belastet” bzw. sie “liegen auf” dem Haus, usw.
Bereits bei Quintilian findet sich der in der späteren Moraltradition häufige Satz, das Gewissen sei wie “tausend Zeugen” (conscientia mille testes); vgl. Reiner 1974.
Es handelt sich um den Bericht einer Patientin im Verlauf einer Analyse, den Leon Wurmser zitiert (Vorwort zu Seidler 1995).
Sprachlich lässt sich dies nur sehr umständlich nachvollziehen, etwa in der Form: “Ich weiß, dass du weißt, dass ich das weiß”, oder: “Ich fühle, dass du fühlst, dass ich dies fühle.”
“The paranoid person can be understood as having suffered from humiliation and also developing defenses in response to fears of, and oversensitivity to, humiliation” (Morrison 1987).
Vgl. zur Lebenswelt u.a. Brand 1971.
Auch hier handelt es sich natürlich wie beim “Reiz” um eine Rückübersetzung, denn der physikalische Feldbegriff (z.B. Gravitations-, Magnetfeld) ist selbst aus dem seelischen Erleben im Raum abgeleitet, nicht umgekehrt.
Argyle (1979), 285ff. — Im Allgemeinen benötigen psychisch Kranke einen größeren persönlichen Raum als andere Menschen (l.c. 300). Besonders bei Schizophrenen ließ sich ein stärkeres Bedürfnis nach Distanz nachweisen, was als höhere Verletzbarkeit der Ich-Grenzen zu interpretieren ist (Horowitz et al. 1969).
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Fuchs, T. (2000). Phänomenologie von Leib und Raum. In: Psychopathologie von Leib und Raum. Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie, vol 102. Steinkopff, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-52489-9_2
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