Zusammenfassung
Wenn ich nur die kurze Zeitspanne von meinem Medizinstudium bis heute betrachte — es sind gerade 15 Jahre -, so zeigt sich in der wissenschaftlichen Beurteilung der Wirksamkeit und Nützlichkeit von Medizin ein Wandel, der markant ist. In jüngster Zeit wird die geänderte Sicht der Dinge nun am Schlagwort „Evidence-Based Medicine“ festgemacht. Die entsprechenden Methoden der klinischen Epidemiologie sind indessen schon längere Zeit formuliert worden. Die rasche Verbreitung des Begriffs „Evidence-Based Medicine“ scheint aber zu zeigen, daß heute in breiten Medizinerkreisen die Auffassung an Boden gewonnen hat, daß auch die orthodoxe Hochschulmedizin sich in vielen Bereichen auf Glauben und Meinungen statt auf wissenschaftliche Evidenz stützt.
Die Beurteilung der wissenschaftlichen Evidenz medizinischer Behandlungen durchläuft einen markanten historischen Wandel. Galt bisher eine physiologisch günstige Veränderung als Evidenz für Wirksamkeit, so hat sich inzwischen aufgrund wissenschaftlich-methodischer Fortschritte die Erkenntnis fest etabliert, daß Evidenz für einen therapeutischen Nutzen erst dann besteht, wenn die vom Patienten direkt erlittene Mortalität und Morbidität nachweislich verringert werden und die Lebensqualität insgesamt verbessert wird. Praktisch relevant und nützlich ist eine medizinische Intervention zudem erst dann, wenn sie eine klinisch signifikante Wirkgröße aufweist, oft etwa in Form der „number needed to treat“ ausgedrückt.
Eine derart rationale und kritische Beurteilung medizinischer Behandlungen sieht sich vor allem bei der Prävention und Behandlung von Krebserkrankungen, aber auch im Umgang mit „Risiken“ oder „Risikofaktoren“, nicht selten mit dem emotionalen Vorwurf des Nihilismus konfrontiert. Sich methodisch-wissenschaftlich aufgeklärt ärztlicher Machtlosigkeit zu stellen und im gegebenen Fall auf medizinischen Aktivismus zu verzichten, könnte sich indessen als die wichtigste Entwicklung für die Medizin in den nächsten Jahrzehnten herausstellen. Dies wäre nicht Nichts, denn bereits heute wissen wir aus Untersuchungen, daß etwa eine Brustkrebs-Erkrankung trotz körperlicher Beeinträchtigung zu einem Gewinn an Lebensqualität führen kann, indem zum Beispiel spirituelles Wachsen und eine Vertiefung von Beziehungen zu anderen Menschen ausgelöst werden.
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Literatur
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Schmidt, J.G. (1998). Ist Verzicht immer Nihilismus? Über das Handeln aufgrund rationaler Erkenntnisse. In: Köbberling, J. (eds) Zeitfragen der Medizin. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-51117-2_9
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