Zusammenfassung
Wir sind durch die voranstehenden Ausführungen zu einer. Art Definition der Wahrnehmung und damit zugleich der Erfahrung gelangt. Aber unser Absehen war weit weniger auf Gewinnung einer Definition als auf Beschreibung von Tatsachen gerichtet, und hoffentlich ist diese Tendenz nirgends auch nur äußerlich in den Hintergrund getreten. Gleichwohl erwächst uns nun die Aufgabe, ganz ausdrücklich nachzufragen, ob und wo die Wirklich keit der gewonnenen Definition oder Beschreibung entspricht, anders ausgedrückt: wo die im obigen als Wahrnehmungen beschriebenen Erkenntnisbetätigungen in Wirklichkeit anzutreffen sind. Auf den ersten Blick könnte diese Frage ganz überflüssig, wenigstens ihre Beantwortung ohne nennenswerte Cberlegung und Untersuchung möglich scheinen. Unser ganzer Kontakt mit dem, was uns umgibt, beruht ja sichtlich auf Wahrnehmung; das tägliche Leben so gut wie die Arbeit der Wissenschaft ist voll von Wahrnehmungserlebnissen. Die Naturwissenschaft insbesondere ist in Beobachtung und Experiment auf Wahrnehmungen als Grundlage aufgebaut und nimmt eben daher das Recht, sich vorzugsweise als empirische Wissenschaft zu fühlen. Tritt man indes diesen so alltäglichen Erlebnissen näher, so stellt sich ganz erstaunlich oft heraus, daß sie den Anforderungen nicht genügen, die: den oben festgelegten Bestimmungen gemäß an eine Wahrnehmung zu stellen sind. So kommt die obige Frage nicht nur zu ihrem guten Rechte, sondern es empfiehlt sich sogar, zur Erleichterung ihrer Untersuchung derlei wahrnehmungsartige Erlebnisse, an denen erst festzustellen ist, ob sie, Wahrnehmungen sind oder nicht, mit einem eigenen Namen zu belegen. Ich will sie in Ermangelung eines Besseren als Aspekte bezeichnen, wobei der Umstand, daß das;Wort vom Sehen genommen ist, so wenig eine Beschrän-kung auf dieses Sinnesgebiet bedeuten soll, als dies bei Worten wie „Anschaulichkeit“, „Einsicht“ u. dgl. sprachgebräuchlich der Fall ist. Dagegen nimmt man durch die Wahl dieses Wortes allerdings den Übelstand auf sich, daß dasselbe im außerwissenschaftlichen Gebrauche, dem es bisher allein angehört haben dürfte, ebenso leicht manchmal sogar leichter als das Erlebnis den Gegenstand des Erlebnisses bedeutet1); insofern würde etwa der Terminus „Aspekturteil“ deutlicher sein. Ich hoffe die Gefahr von Mißverständnissen indes durch die Erklärung zu beseitigen, daß im Folgenden, wo ja ein Zweifel überhaupt aufkommen könnte, der Ausdruck „Aspekt“ stets im Sinne von „Aspekturteil“ zu verstehen sein wird. Eine strengere Definition des Wortes scheint mir entbehrlich: es soll ja gerade da zur Verständigung dienen, wo ein theoretisch strengeres Erfassen der Erkenntnis oder dessen, was sich einigermaßen dafür gibt, erst angebahnt werden soll. Unsere obige Frage Iäßt sich dann auch so aussprechen: Wann und inwiefern dürfen Aspekte, wie wir deren so unzählig viele erleben, für eigentliche Wahrnehmungen angesehen werden?
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Meinong, A. (1906). Aspekt und Wahrnehmung. In: Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens. Abhandlungen zur Didaktik und Philosophie der Naturwissenschaft, vol 6. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-47618-1_3
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