Im Alltag geht es doch so: Man selbst steht mehr oder weniger still in seiner Gegenwart, während um einen herum die Zeit verfließt, rasend schnell oder gähnend langsam, je nachdem, womit sie gefüllt ist. Wenn Sie mal eine Zeitreise machen wollen, durch eine Zeit, die steht, während Sie sich bewegen, dann sollten Sie Anatom werden.

Ich bin Anatom, seit mehr als 20 Jahren schon. Zu meinen Aufgaben gehört es, alle Jahre wieder, die Medizinstudenten des ersten Semesters in Empfang zu nehmen und mit ihnen zusammen einen menschlichen Leichnam nach allen Regeln der Kunst zu zergliedern. Damit sie lernen, die Studenten, woraus der irdisch’ Teil des Menschen, der seine Seele kleidet, gewebt ist.

Alle Jahre wieder. Die Studenten sind stets um die 20 und lebenshungrig. Die Leichen sind stets so um die 80, tot und lebenssatt. Die Studenten sind eine weißbekittelte, wissbegierige, wuselige Meute, vom Anblick der toten Körper ein wenig verängstigt. Aber auch ich trat einst hasenherzig das erste Mal an den Präpariertisch, doch mit der Zeit bin ich immer kaltblütiger geworden. Jahr um Jahr steh ich jetzt mit ihnen rings um den Tisch, auf dem der Leichnam liegt. Nackend, mit kaltem Herzen, so kalt wie der Edelstahl der Tischplatte.

Alle Jahre wieder. Alles steht, alles ist gleich. Nur ich, ich bin auf einer langen Zeitreise. Das Stück Wegs, das ich dabei zurücklegen werde, ist lächerlich kurz, kein halber Meter: von der Seite des Tisches auf ihn.