Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden

An einem klaren kalten Morgen im Januar 2008 ging eine Gruppe aufgeregter Studenten über den Campus von La Sapienza , der ältesten Universität Roms. Als sie in der Mitte der Anlage ankamen, einer großen Bronzestatue der Minerva, warfen sie einen vorsichtigen Blick über die Schultern und gingen ans Werk. Sie brachten am Sockel unterhalb der Gewänder Minervas ein Transparent an und hielten kurz inne, um ihren Akt der Anarchie zu bewundern. Auf dem Transparent stand: „Das Wissen braucht weder Väter noch Priester. Das Wissen ist weltlich.“

Die Botschaft stellte eine direkte Herausforderung an den Vatikan dar. Später in der Woche wurde der „Heilige Vater“ Papst Benedikt XVI. zu einem Besuch von La Sapienza erwartet, und weder bei den Studenten noch beim Lehrkörper herrschte darüber große Freude. Der Papst, so sagten sie, stehe für „Anti-Wissenschaft“. Überall auf dem Campus wurden auf alle mögliche Weise die papstfeindlichen Gefühle verkündet. Die protestierenden Studenten hatten das Rektorat besetzt. Eine Anzahl Professoren hatte einen Brief unterzeichnet, der in der Tageszeitung La Repubblica abgedruckt wurde und starke Einwände gegen den Besuch zum Ausdruck brachte. Die Anwesenheit des Papstes in der Universität wurde als „fehl am Platz“ bezeichnet.

Die Anarchisten gewannen die Schlacht:Footnote 1 Am Abend des Tages teilte Tarcisio Bertone, der Kardinalstaatssekretär des Vatikans, mit, der Besuch werde abgesagt. Bertone entschuldigte sich beim Rektor: Er befürchte demütigende Szenen und bedauere, dass „die Bedingungen für einen würdevollen und friedfertigen Empfang fehlen“. Die Neuigkeit wurde mit Begeisterungsrufen der Studenten und Professoren begrüßt. Dann, ein paar Stunden später, wurde aus ihrer Freude peinliche Verlegenheit. Es stellte sich heraus, dass sie den Papst völlig falsch verstanden hatten.

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Die Demonstrationen waren durch eine Rede ausgelöst worden, die der Papst 1990 gehalten hatte, als er noch Kardinal Ratzinger war.Footnote 2 Der Ausgangspunkt für den Brief in La Repubblica war eine Transkription der Rede, die von einer Wikipedia-Seite auf Italienisch stammte. Der Brief klagte, der Papst habe die Entscheidung der Kirche verteidigt, Galilei wegen seiner Behauptung vor Gericht zu stellen, die Erde drehe sich um die Sonne. Die Verfasser des Briefes verdammten den Papst, indem sie seine eigenen Worte zitierten: Er habe das Urteil des Gerichts als „rational und gerecht“ bezeichnet und erklärt, die Kirche habe sich seinerzeit viel enger an die Vernunft gehalten als Galilei . Die 67 Unterzeichner machten aus ihren Gefühlen kein Hehl: „Diese Worte beleidigen und demütigen uns.“Footnote 3

Man sollte eigentlich annehmen, dass die Unterzeichner als Wissenschaftler die Fakten geprüft hatten. Hätten sie die Wikipedia-Seite aber selbst geöffnet und wären sie Ratzingers Diskussion des „Falls Galilei“ gefolgt, hätte ihnen klar werden müssen, dass der Kardinal die Wissenschaft gar nicht angegriffen hatte – ganz im Gegenteil. Er griff diejenigen an, die die mittelalterliche Attacke der Kirche auf Galilei unterstützten. Ratzinger berief sich insbesondere auf einen Mann, der besonders scharfe Kritik übte: auf den Philosophen Paul Feyerabend .

Der in Wien geborene Feyerabend hatte in seinem 1975 erschienen Buch Wider den Methodenzwang den Fall „Galilei gegen Papst Urban VIII.“ untersucht und war zu einem für die moderne Zeit ziemlich überraschenden Schluss gekommen: Wenn man das Wesen naturwissenschaftlicher Beweise, die Tragfähigkeit der Argumente und die ethischen und kulturellen Folgerungen in Galileis Behauptungen berücksichtigt, sei die Haft und die Verurteilung Galileis „rational und gerecht“ gewesen. Feyerabend stellte fest: „Die Kirche zur Zeit Galileis hielt sich viel enger an die Vernunft als Galilei selber.“Footnote 4

Die Aussagen, die die Professoren von La Sapienza Ratzinger zugeschrieben hatten, waren in Wirklichkeit von Feyerabend. Und wie jeder, der Ratzingers Rede ganz gelesen hatte, sehen konnte, hatte dieser, nachdem er aus Feyerabends Wider den Methodenzwang zitiert hatte, dessen Äußerung als „aggressiv“ gekennzeichnet, wenn man davon ausgehe, dass der Philosoph natürlich genau wusste, dass Galilei recht hatte. Mehr noch: Ratzinger antwortete auf die Hardliner, die die Meinung vertraten, die Kirche hätte seinerzeit noch strenger mit Galilei umgehen sollen, indem er sagte, der Glaube erwachse „nicht aus dem Ressentiment und aus der Bezweiflung der Rationalität, sondern nur aus einer grundlegenden Bejahung und aus einer weiträumigen Vernünftigkeit“.Footnote 5 Nach Giorgio Israel, einem jüdischen Mathematiker, der das Drama in der Zeitung des Vatikans, dem Osservatore Romano, kommentierte, konnte jeder, der die Rede „mit einem Minimum an Aufmerksamkeit las, sie sehr wohl als eine Verteidigung der Rationalität Galileis betrachten“.Footnote 6

Die Professoren von La Sapienza hatten ihren Widerstand gegen den Papstbesuch auf ungeprüfte und irreführende Argumente gestützt, die ihnen nur dazu dienten, ihre Vorurteile zu bestätigen. Als diese peinliche Wahrheit ans Tageslicht kam, zogen einige der 67 Unterzeichner – beispielsweise Luciano Maiani, ein Physiker, der gerade als Präsident des Consiglio Nazionale delle Ricerche nominiert worden war – ihre Einwände gegen den Papstbesuch verlegen zurück.

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Feyerabend, der 1994 starb, wäre von der Affäre und den Vorgängen an der La Sapienza sicher amüsiert gewesen. Die künstlich angefachte Empörung der Wissenschaftler der Universität illustriert aufs getreueste Feyerabends Lieblingsidee: Wissenschaftler sind Anarchisten, die sich nicht an Regeln und „allgemein anerkannte Praktiken“ halten. Natürlich waren die Professoren von La Sapienza nicht die ersten Wissenschaftler, die mit dem unkritischen Gebrauch der überlieferten Erkenntnisse nur ihre Vorurteile bestätigten. Einstein spielte das gleiche Spiel. Auch andere Nobelpreisträger wie Robert Millikan waren dabei, und auch Ptolemäus , Newton und der heiß geliebte Galilei haben sich schuldig gemacht, weil sie für Fortschritte in der Wissenschaft sorgten, indem sie ihre Beobachtungen „flexibel“ beurteilten. Die Wissenschaftler von heute sind nicht viel anders. 2006 erklärten die Herausgeber der Zeitschrift Nature Cell Biology, dass in einem von fünf angenommenen Artikeln „zweifelhafte Daten“ präsentiert würden – und das, nachdem die Zeitschrift ein Verfahren zur Datenüberprüfung eingeführt hatte.Footnote 7

Wissenschaftler meinen aber ohnehin, Daten müsse man nicht immer glauben. Als Francis Crick und James Watson auf der Jagd nach der Struktur der DNA waren, mussten sie die „Wahrheiten“, die andere gefunden hatten, beiseite wischen. Sie hatten ihren entscheidenden Durchbruch, als ihnen ein Kollege über die Schulter schaute und anmerkte, die Lehrbücher, denen sie sklavisch folgten, enthalten Informationen, die einfach falsch seien. Sie waren von Abschätzungen der Winkel von chemischen Verbindungen irregeleitet worden, die in der Literatur so oft wiederholt worden waren, dass sie den Status von Fakten bekommen hatten. Crick riet daher, „es sei wichtig, sich nicht allzu sehr auf irgendwelche experimentellen Einzelergebnisse zu verlassen“.Footnote 8 Watson sah es ähnlich: „Ein gutes Modell erkläre nie alle Fakten, da einige Daten notwendigerweise irreführend, wenn nicht sogar schlichtweg falsch sein werden.“Footnote 9 Crick und Watson hätten ihre die Welt verändernde Entdeckung nicht ohne diese Haltung machen können. Was Daten betrifft, müssen Wissenschaftler anarchisch vorgehen – und das war schon immer so.

Wissenschaftshistoriker schreiben den ersten wissenschaftlichen Betrug dem ägyptischen Mathematiker und Philosophen Claudius Ptolemäus zu. Er manipulierte im 2. Jahrhundert Daten, um seine astronomischen Modelle zu belegen.Footnote 10 Einige Wissenschaftler verfügten aber nicht über die luxuriöse Gelegenheit, die wichtigen Daten zu manipulieren. Galilei konnte beispielsweise nur hoffen, dass der schiere Ruhm seiner Person ausreichen würde, die Leute davon abzuhalten, seine Taschenspielertricks zu bemerken.

Galileis Neigung zu Verstößen gegen die Ordnung war eigentlich schon die ganze Zeit offenkundig. Obwohl er tief religiös war, zeugte er drei Kinder in fornicazione, wie das Kirchenregister von San Lorenzo besagt, also in „Unzucht“. Die Mutter der drei – zwei Mädchen und ein Junge – war Galileis Geliebte Marina Gamba. Aus Gründen, die nie irgendjemand verstanden hat, heiratete Galilei Marina nie. Diese Verbindung gegen die Regeln der katholischen Kirche deutet schon auf seine direktere und berühmtere Herausforderung von deren Traditionen hin.

Galilei dürfte als freier Denker erfreut gewesen sein, als Maffeo Barberini 1623 Papst Urban VIII. wurde. Caravaggios Porträt zeigt den Papst mit einem offenen, wissbegierigen Ausdruck. Urban war Berichten zufolge so etwas wie das Muster eines Renaissancemenschen. Er unterstützte Galileis wissenschaftliche Anstrengungen und diskutierte gern mit ihm seine Ideen. Einer der Gegenstände dieser Diskussionen war Kopernikus ‘ heliozentrisches Modell des Universums, in dem die Sonne und nicht die Erde im Mittelpunkt stand. Galilei vertrat mit Eifer die Ansicht, Kopernikus habe Recht, und Urban war offen für überzeugende Argumente. Galilei sagte, die Gezeiten seien der Beweis und trug Urban die Idee vor, ein Buch über die Gezeiten zu schreiben. Urban plädierte aber für einen größeren Wurf mit einem Blick auf die ganze Welt und bestand auf dem Titel Dialogo … sopra i due massimi sistemi del mondo, tolemaico e copernicano, also Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische.

Die Theorie der Gezeiten steht nun im 4. Kapitel des Dialogs. Galilei sah in den Gezeiten den überzeugendsten und schlüssigsten Beweis der Bewegung der Erde durchs Weltall. Seine Beweisführung konzentriert sich auf zwei Fakten: Bewegt sich die Erde, wie es Kopernikus behauptete hat, vollzieht sie sowohl eine Drehbewegung (die Drehung um die eigene Achse) als auch eine lineare Bewegung (längs ihrer Bahn durchs All). Jeder Punkt auf der Erdoberfläche bewegt sich daher wie ein Punkt auf dem Kranz eines Wagenrades: auf einer Kreisbahn und längs der Straße. Diese Kombination von Bewegungen führt dazu, dass sich die Geschwindigkeit ständig ändert. Wie jeder allzu gut weiß, der einmal ein Glas Bier in einem von Pferden gezogenen Wagen gehalten hat, verursacht eine solche Bewegung, dass das Glas überschwappt. Galilei meinte nun, dass darin die Ursache für das Hin und Zurück von Ebbe und Flut liegt.

Es ist aber nicht so. Nach der Mathematik von Galileis Theorie würde nur eine Flutwelle pro Tag entstehen, aber wie ihm jeder seiner venezianischen Freunde sagen konnte, sind es zwei. Nach Galileis Rechnungen müsste auch der Höhepunkt der Flut jeden Tag zur gleichen Stunde stattfinden. Wie aber jeder Segler weiß, ist das anders. Galileis abscheulichste Tat war aber, dass er keine Anstrengungen machte, den Mond in die Berechnung der Gezeiten einzubeziehen, obwohl man dessen Einfluss damals schon gut kannte. Johannes Kepler hatte darauf schon drei Jahrzehnte zuvor in seiner Abhandlung Astronomia Nova von 1609 hingewiesen. Galilei wollte sich aber vom Mond seine kostbare Idee nicht zerstören lassen und verlegte sich darauf, sich über Keplers Offenheit gegenüber den „okkulten“ Eigenschaften des Mondes zu mokieren. Er kritisierte, dass die „Naturbeobachter, in Unkenntnis der wahren Ursachen sich auf eitle Chimären der Mondbewegungen und andere Phantasien berufen haben“, statt auch die „Schwerkraft des Wassers“ und Tiefe und Lage des Meeres zu berücksichtigen.Footnote 11

Mit der Behauptung, Galilei sei sich der Differenz zwischen seiner Theorie und dem, was damals alle über die Gezeiten wussten, nicht bewusst gewesen, würde man die Gutgläubigkeit überstrapazieren. Es sieht eher so aus, als habe er einfach unbequeme Fakten ignoriert. Er war – mit Recht – davon überzeugt, dass sich die Erde bewegt, und um andere davon zu überzeugen, war ihm jedes Mittel genehm.

Isaac Newton versuchte etwas Ähnliches. Er ist wohl das größte Genie, das je gelebt hat und war durch eine „Strenge des Denkens“ gekennzeichnet, „die fast göttlich“Footnote 12 war, wie sein Marmorgrabmal in Westminster Abbey besagt. Er war der erste Wissenschaftler, der mit einem Staatsbegräbnis geehrt wurde. Sein Ansehen und seine wissenschaftliche Brillanz waren so groß, dass sie Alexander Pope zu den folgende berühmten Versen anregten:

Die Natur und ihre Gesetze lagen in tiefer Nacht, da sagte Gott: „Es sei Newton“, und es wurde Licht.Footnote 13

Von Newtons dunklen Seiten ist bei Pope keine Rede. Newton war ein Mann mit wenig Freunden und vielen erbitterten Feinden, insbesondere unter denen, die seine wissenschaftlichen Behauptungen anzuzweifeln wagten. Abweichler wurden mit Beleidigungen und bösartigen Attacken auf ihren Charakter und ihr Werk zugedeckt. Newton wurde später „Master“ der Royal Mint, der Königlichen Münzprägeanstalt, nahm es aber auch in dieser Position mit der Wahrheit überhaupt nicht genau. Er war außergewöhnlich rachsüchtig, wenn es darum ging, Fälschungen zu verhindern. Geldfälschen war damals Landesverrat, die Strafe war der Strang, das Ausweiden und die Vierteilung. Newton verurteilte viele zum Tode, auch wenn die Beweise mager waren und oft nicht mehr als Verleumdungen eines bezahlten Informanten.

Man hatte angenommen, Newtons unerfreuliche Charakterzüge, die im Laufe des Lebens immer mehr hervortraten, seien auf eine zunehmende Vergiftung durch Quecksilber während seiner alchemistischen Experimente zurückzuführen gewesen. Es ist aber klar, dass seine dunkle Seite schon immer da war. Teile von Newtons berühmtestem Werk, der Philosophiae naturalis principia mathematica (kurz: der Principia),Footnote 14 sind nach den Worten seines Biographen Richard Westfall „nichts weniger als bewusste Täuschung. … Die Principia haben die quantitative Form der modernen Naturwissenschaft eingeführt, sie deuten aber auch auf eine weniger großartige Wahrheit hin: dass niemand Fälschungen so effektiv ausführen kann wie der Chefmathematiker selbst.“Footnote 15

Newton frisierte theoretische Berechnungen der Schallgeschwindigkeit, der Präzession der Tagundnachtgleiche, der Stärke der Schwerkraft auf dem Mond und der Höhe der Gezeiten, damit sie mit den Experimenten übereinstimmten. Mit jeder Neuausgabe der Principia führte er Änderungen ein, die auf den gleichen Daten beruhten, aber eine anwachsende Präzision beweisen sollten. Westfall nennt das eine „Wolke von fein pulverisierter Täuschung, die in die Augen der wissenschaftlichen Gegner gestreut wird“.Footnote 16

Für die Wissenschaftler scheint das alles in Ordnung zu sein. Ptolemäus wurde vergeben, weil er „ehrenhafte Ziele“ verfolgte.Footnote 17 Glaubt man dem Harvard-Historiker Owen Gingerich, ist es überhaupt nicht ungewöhnlich, nur Daten zu veröffentlichen, die die eigene Theorie unterstützen. Kein Geringerer als Einstein hat Galilei entlastet, diesmal, weil Galilei mit der Annahme recht hatte, dass sich die Erde um die Sonne bewegt. Einstein schrieb im Vorwort zu einer Ausgabe des Dialogs:

Zu seiner unrichtigen Theorie von Ebbe und Flut wurde Galileo verführt durch seine Sehnsucht nach einem mechanischen Beweis für die Erdbewegung . … Seine Bemühungen sind weniger auf das ‚Wissen‘ als auf das ‚Begreifen‘ gerichtet.Footnote 18

An diesem Punkt taucht ein neues Verhalten auf, eines, das die insgeheimen Anarchisten ans Licht holt.

Ein Bericht über das Fehlverhalten von Wissenschaftlern, der 2007 in Nature erschien, kam zu dem Schluss, dass „viele der Risikofaktoren für Fehlverhalten auch zu dem gehören zu scheinen, was eine ‚gute‘ Wissenschaft ausmacht“.Footnote 19 Das scheint wirklich der Fall zu sein. Galilei und Newton waren die Gründerväter der Naturwissenschaft. Besonders Newton machte großes Aufheben von der Rolle der Beobachtungen und der Daten und gab damit die Richtung für die Naturwissenschaft der folgenden Jahrhunderte vor. Daten sind aber, wie wir gesehen haben, nicht immer verlässlich, und insgeheim verlassen sich die Wissenschaftler auf ihre Intuition, um sich bei der Arbeit anleiten zu lassen. Widersprechen sich Intuition und Daten, gewinnt in der Regel die Intuition. Wie Peter Medawar gezeigt hat, sind „Wissenschaftler, die sich in ihre Hypothesen regelrecht verlieben, … dementsprechend unwillig, ein Nein als Antwort aus einem Experiment zu akzeptieren“.Footnote 20

Ist das gerechtfertigt? Ja, wenn das Objekt einer solchen Schwärmerei die Aufmerksamkeit wert ist.

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging Robert Millikan schon auf die vierzig zu.Footnote 21 Die Physik war seinerzeit höchst aufregend: J. J. Thomson hatte gerade das Elektron entdeckt, Max Planck hatte die Quantentheorie mit brillanter wissenschaftlicher Detektivarbeit zur Welt gebracht. Und Einstein überstrahlte alle, indem er die reale Existenz der Atome durch die Brownsche Molekularbewegung nachwies und mit seiner Speziellen Relativitätstheorie zeigte, dass das Universum seltsamer war, als man es sich bisher vorstellen konnte.

Millikan hatte andererseits praktisch noch nichts vollbracht. So beschloss er e zu bestimmen, die „Elementarladung “ oder Ladung des Elektrons. Diese Größe zu bestimmen war wichtig, denn sie war, wie die Existenz des Elektrons überhaupt, Gegenstand heißer, komplexer internationaler Debatten. Wie es aussah, hatte Thomson 1897 das Elektron entdeckt, aber die deutschen Physiker, die damals als die besten der Welt galten, waren nicht überzeugt.

Ihr Zögern hatte mit dem Äther zu tun, jener geisterhaften Flüssigkeit, von der man annahm, dass sie den Raum erfüllte. Der Äther stellte ein Medium dar, durch das sich das Licht bewegen konnte, und auf den Fluren der deutschen Universitäten war man sich einig, dass die Experimente, die vorgaben, Thomsons „negativ geladene Materie“ zu beweisen, nur nachwiesen, dass Elektrizität Ausdruck einer Störung des Äthers war.

Nach den heutigen Erkenntnissen der Wissenschaftshistoriker war diese Annahme am Anfang des 20. Jahrhundert aber eigentlich schon nicht mehr zu halten. 1887 hatten zwei amerikanische Physiker, Abraham Michelson und Edward Morley , ein Experiment durchgeführt, das zeigte, dass es keinen Äther gab. Sie versuchten zu messen, mit welcher Geschwindigkeit sich die Erde durch den Äther bewegte, der den Weltraum erfüllte, indem sie bestimmten, in welcher Richtung sich das Licht am schnellsten bewegte. Ein Punkt, der sich auf der Erdoberfläche bewegt, ändert ständig die Richtung, weil sich die Erde um sich selbst dreht und um die Sonne kreist. Wie man einen Wind spürt, wenn man sich durch die Luft bewegt, sollte es auch einen „Ätherwind“ geben, wenn sich die Erde durch den Äther bewegt. Und weil der Äther das Licht transportiert, sollte es aufgrund der Erdbewegung je nach Richtung eine messbare Differenz der Lichtgeschwindigkeit geben. Zu ihrer Überraschung fanden aber Michelson und Morley diese Differenz nicht. Licht hatte offenbar keine Vorzugsrichtung. Die einzige Erklärung war, dass es keinen Äther gab.

Die Arbeit von Michelson und Morley zählt heute zu den klassischen Experimenten und hat zudem zu einer positiven Richtungsänderung in der Forschung geführt. Da es keinen Äther gab, war der Plan, die Geschwindigkeit der Erde im All zu messen, zum Scheitern verurteilt. In der Wissenschaft wird das Scheitern einer Hypothese nicht immer offengelegt, geschweige denn, dass es herausposaunt wird, und dieses Experiment konnte man sehr leicht ignorieren. Es dauerte Jahrzehnte, bis das negative Ergebnis die Aufmerksamkeit der internationalen Community erregte. Man weiß nicht, ob in den nächsten zehn oder mehr Jahren die deutschen Physiker von Michelsons und Morleys Experiment hörten.

Wohl aber wusste Millikan davon, denn schließlich war Michelson sein Chef. Man braucht nicht sehr viel von der menschlichen Natur zu wissen, um zu vermuten, dass Millikan genau wusste, welchen sofortigen (und dringend benötigten) Sprung seine Karriere machen würde, wenn es ihm gelänge, „e“ zu bestimmen. Würde er die Ladung eines einzelnen Elektrons messen können, würde das einen noch größeren Schatten auf die Äthertheorie werfen und sowohl Michelson als auch Thomson bestätigen. Für einen sich mühsam abstrampelnden Jungwissenschaftler vor den mittleren Jahren seiner Karriere musste eine solche Aussicht unwiderstehlich sein.

Millikans Idee war einfach. Ein Wassertröpfchen mit einer elektrischen Ladung würde von einer Metallplatte mit der entgegengesetzten Ladung angezogen werden. Er wollte eine Apparatur bauen, in der die elektrische Anziehung das Tröpfchen nach oben zog, während es die Schwerkraft herabzog. Das war der Weg zur Bestimmung von e: Zuerst wollte er die Masse des Tröpfchens herausfinden, indem er seine Größe maß. Dann wollte er messen, welche Spannung an die Metallplatte angelegt werden musste, um das Tröpfchen am Herabfallen zu hindern und in der Schwebe zu halten. Mit diesen beiden Informationen würde er die Ladung des Tröpfchens bestimmen können. Millikan vermutete ganz richtig, dass es sich immer um ein ganzes Vielfaches der gleichen Größe handeln musste – welche Gesamtladung das Tröpfchen auch hatte. Diese Größe wäre e, die äußerst wichtige Ladung von Thomsons Elektron.

Das Experiment klang einfach, war aber überhaupt nicht einfach durchzuführen. So stellte Millikan fest, dass die Wassertröpfchen verdunsteten, bevor die erste Messung gemacht werden konnte. Er setzte daher seinen Doktoranden Harvey Fletcher an die Aufgabe, den gleichen Trick mit Öltröpfchen zu versuchen. Und das ist der Punkt, an dem Millikans wahrhaft anarchisches Verhalten zum Zug kam.

Millikan und Fletcher hatten die Technik so weit verfeinert, dass es aussah, als könnte das Experiment gelingen. Millikan drängte nun aber den Studenten aus dem Experiment und versprach ihm, dass eine andere Arbeit ihm ganz zugerechnet werde. Selbst der Verteidiger Millikans, der Caltech -Physikprofessor David Goodstein , gibt zu, dass dies ein Akt gewaltiger Selbstsucht war: „Millikan war klar, dass die Messung von e ihm großen Ruhm einbringen würde, und er wollte den Ruhm für sich allein.“ Fletcher fügte sich seinem Schicksal als Juniorwissenschaftler: „Ich fand das nicht gut, aber ich sah keine Möglichkeit, deshalb stimmte ich zu“, schrieb er in einer Denkschrift, die er aber erst nach Millikans Tod veröffentlichte.Footnote 22

Nachdem Millikan den glücklosen Studenten auf sichere Weise beseitigt hatte, machte er sich daran, mit einem Parfümzerstäuber und einer Dose Uhrenöl die Öltröpfchen zu produzieren. Einige der Tröpfchen hatten Elektronen abgestoßen, als sie aus dem Zerstäuber kamen, wodurch sie positiv geladen waren. Andere würden Elektronen einfangen und dadurch negativ geladen sein. Millikan legte nun an die obere und untere Metallplatte seiner Versuchsanordnung eine Spannung an und beobachtete das Fallen und Aufsteigen der Tröpfchen.

1910 veröffentlichte er im Alter von 42 Jahren schließlich einen Wert der Elementarladung e. Es sollte seine für die Karriere wesentliche Publikation werden. Sie wurde es auch schließlich, aber dank der Wissenschaftler, die in der Deutsch sprechenden Welt arbeiteten, standen Millikan noch Jahre mit schwieriger und schmutziger Arbeit bevor.

Der österreichische Physiker Felix Ehrenhaft , auch er ein sonderbarer Mensch, bestritt sofort Millikans Ergebnisse. Ehrenhaft hatte ähnliche Experimente durchgeführt und war zu einem deutlich kleineren Wert für e gekommen. Im Gegensatz zu Millikans Arbeiten schienen Ehrenhafts Experimente zu zeigen, dass die Elektronenladung unendlich klein sein konnte: Dann hätte es keine Elementarladung und auch kein „Elektron“ gegeben. Nun musste Millikan die Welt überzeugen, dass er und nicht Ehrenhaft recht hatte. Die Reihe von Experimenten, die der verzweifelte Millikan nun durchführte, warf einen bleibenden Schatten auf seine wissenschaftliche Integrität. Um Ehrenhaft zu widerlegen, musste Millikan zeigen, dass die Ladung der Öltröpfchen nie kleiner als e war. Millikan arbeitete inzwischen allein. Fletcher hatte seinen Doktortitel und ging sofort anderswo hin − irgendwo anders. Millikan brauchte drei Jahre, um die Experimente zu seiner Zufriedenheit abzuschließen, und die Notizbücher, die er zum Aufschreiben der Daten benutzte, zeigen jede Menge unordentliche Kritzeleien, begeisterte Ausrufe und wacklige Reihen von Zahlen. Es ist klar, dass Millikan nie vermutet hat, dass sie je näher geprüft werden würden.

Zum Unglück für Millikans Ruf grub der Historiker Gerald Holton die Notizbücher aber 1980 in den Caltech-Archiven aus. Holton wollte untersuchen, wie das saubere öffentliche Bild der Wissenschaft mit dem chaotischen Prozess der Laborarbeit zusammengeht. Er hatte nicht erwartet, eine Kontroverse loszutreten, die noch Jahrzehnte später toben würde.

Inzwischen wurde viel über Millikans Ehrlichkeit geschrieben. Glaubt man dem Harvard-Biologen Richard Lewontin , ist Millikan „vom Weg abgewichen, um die Existenz unpassender Daten zu verbergen“. Goodstein, ein selbst ernannter Verteidiger Millikans, sagt wiederum, sein Held habe „sicherlich keinen wissenschaftlichen Betrug im Rahmen seines bahnbrechenden Werks über die Ladung des Elektrons begangen“. Wo liegt also die Wahrheit?

Die Debatte hängt sich an einer Äußerung in Millikans Arbeit von 1913 auf.Footnote 23 1910 hatte Millikan einen Wert für e angegeben, der nur 0,5 % von dem heute gültigen Wert entfernt war, wobei die Abweichung zum größten Teil auf einem zwar plausiblen, aber doch falschen Wert für die Zähigkeit der Luft zurückzuführen war.Footnote 24 Die Arbeit von 1913 war ein Versuch, Ehrenhaft zu widerlegen und zu zeigen, dass jede Messung der elektrischen Ladung den Wert von e ergibt oder ein ganzzahliges Vielfaches dieses Werts. Laut Millikan enthielt seine Datentabelle „eine vollständige Zusammenfassung der Ergebnisse …, die aus all den 58 verschiedenen Tropfen gewonnen wurden, mit denen vollständige Beobachtungsreihen durchgeführt wurden.“ Die Notizbücher zu der Veröffentlichung von 1913 zeigen aber, dass Millikan in Wirklichkeit Daten von 100 Öltröpfchen hatte. Für alle, die Holtons Analyse begierig aufgriffen, stellte sich die Frage, ob Millikan bestimmte Daten herausgepickt hatte, um seine ursprünglichen Ergebnisse zu untermauern und Ehrenhaft am Boden zu zerstören.

Er hatte auf jeden Fall ein Motiv. In seiner Arbeit von 1910 hatte Millikan den „Fehler“ gemacht, alles offenzulegen. Er traf darin Feststellungen wie „Obwohl all diese Beobachtungen Werte von e ergaben, die innerhalb von 2 % mit dem endgültigen Mittelwert übereinstimmen, waren die Unsicherheiten der Beobachtungen so, … dass ich mich verpflichtet fühlte, sie zu verwerfen.“ Eine andere Bemerkung ist noch belastender: „Ich habe eine unsichere und nicht wiederholte Beobachtung ausgesondert, offensichtlich von einem einfach geladenen Tropfen, die eine Ladung des Tropfens ergab, die 30 % geringer als der endgültige Wert von e war.“ Diese bewundernswerte Ehrlichkeit bei der Auswahl der Daten lieferte Ehrenhaft Munition, die er auch begeistert bei seiner lang andauernden Fehde mit Millikan nutzte. Vielleich wollte Millikan mit der oben zitierten Passage sicherstellen, seinem Feind keine weitere Blöße zu geben.

Das würde sicher etwas erklären, was sonst unerklärlich bleiben würde. Millikan brach bei 25 der Tropfen, die in der Arbeit von 1913 erwähnt sind, das Experiment ab. Laut Goodstein zog es Millikan vor, Tropfen zu benutzen, die während des Experiments einen Ladungswechsel, also eine Zu- oder Abnahme der Ladung aufwiesen (wie er das interpretierte). Goodstein sagt auch, Millikan habe wohl auch Tropfen ausgeschieden, die zu groß oder zu klein waren, um brauchbare Daten zu erhalten. Waren sie zu groß, fielen sie zu schnell, um verlässlich beobachtet zu werden. Waren sie zu klein, wurde ihr Fall (und damit das Ergebnis der Ladungsmessung) durch zufällige Zusammenstöße mit Luftmolekülen verfälscht. Goodstein interpretiert das Statement als Versicherung, dass es nur 58 Datensätze gab, die „vollständig genug“ waren.

Aber diese Rechnung geht nicht auf: Goodstein macht seine Verteidigung zunichte, indem er angibt, man müsse zunächst alle Daten heranziehen, um die Unterscheidung „zu groß“ oder „zu klein“ treffen zu können. Millikan hatte aber komplette Datensätze von 17 Tropfen, die er für die Publikation nicht verwendete. „Ich kann Millikans Statement nur als eine Lüge interpretieren“, sagt Caroline Whitbeck, Professorin für Ethik an der Case Western Reserve University:

Abgesehen von der Kursivierung: Warum sollte man so etwas sagen? Millikans Statement macht nur Sinn als eine Leugnung, Datensätze verworfen zu haben. Millikan log, weil er das Gefühl hatte, die Datenauswahl, die ihm so sehr genützt hat, erklären zu müssen, aber nicht in der Lage war, sein intuitives Verfahren ganz erklären zu können.Footnote 25

Millikan konnte seine Kollegen nicht auf Anhieb überzeugen. Der Streit mit Ehrenhaft zog sich lang genug hin, um seinen Nobelpreis für drei Jahre zu verzögern. Schließlich bekam er ihn 1923. Selbst danach war noch längst nicht alles geklärt. Der bekannte russische Physiker Orest D. Chwolson bemerkte 1927, dass die „delikate Angelegenheit 17 Jahre dauerte und man bis in die Gegenwart nicht sagen kann, dass sie endgültig für die eine oder andere Seite entschieden ist.“Footnote 26

Die Pointe ist aber, dass Millikan mit dem Elektron und seiner Ladung recht hatte. Einige wenige Laboratorien bestätigten Ehrenhafts Ergebnisse, aber heute führen unzählige Schüler auf der ganzen Welt den Millikanversuch im Schullabor erfolgreich durch. Niemand glaubt mehr, dass die Elementarladung etwas anderes ist, als das e, das Millikan bestimmt hat.

Um seinen Nobelpreis zu erhalten, musste Millikan mit harten Bandagen gegen das kämpfen, was man die „anerkannte Praxis“ nennen konnte. Der Wissenschaftsautor George Johnson berichtet in seinem Buch Die zehn schönsten Experimente der Welt auch über den Versuch Millikans, ist sich aber durchaus der dunklen Seite von Millikans Ehrgeiz bewusst und stellt fest: „Hier beruht also die Schönheit auf dem Experiment, nicht auf dem Experimentator.“Footnote 27

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Vielleicht ist eine anarchische Wissenschaft nicht schön, aber mit ihr geht es gut voran. 2005 hat der Ethiker Frederick Grinnell in einem Brief an Nature einen interessanten Punkt hervorgehoben. Danach ist in der Grundlagenforschung die Intuition „eine wichtige und letzten Endes vielleicht die für den Forscher beste Richtschnur, um zwischen Daten und Rauschen zu unterscheiden.“Footnote 28 Mit Intuition meint hier Grinnell das, was Millikan gemacht hat: das Aussondern von Daten aufgrund eines Bauchgefühls, dass sie nicht in Ordnung sind. Das ist nicht hübsch, und es ist nicht ideal und wohl kaum etwas, was Forscher stolz präsentieren. Aber genau so läuft es eben.

Grinnell hat mit seinem Brief auf einen Forschungsbeitrag geantwortet, in dem es um Betrug in der Wissenschaft ging. Brian Martinson , Melissa Anderson und Raymond de Vries verursachten mit ihrem Artikel „Scientists Behaving Badly“, der im Juni 2005 in Nature veröffentlicht wurde, ziemlichen Aufruhr. Während das US Office of Research Integrity auf drei Arten von Betrug achtet – Fälschung, freies Erfinden und Plagiat –, meinten Martinson und seine Ko-Autoren, dass es sich „Forscher nicht länger leisten können, einen breiten Bereich fragwürdigen Verhaltens zu ignorieren, das die Integrität der Wissenschaft bedroht“.Footnote 29 Sie machten daher eine Umfrage unter einigen tausend Wissenschaftlern und baten sie, mitzuteilen, welche „schlimmen Dinge“ sie in den vergangenen drei Jahren begangen hatten.

Ungefähr die Hälfte der Befragten antwortete. Martinson wies noch darauf hin, dass mit Sicherheit Wissenschaftler, die sich falsch verhalten, auf eine derartige Umfrage weniger wahrscheinlich antworten als die anderen, die ihr Verhalten für „normal“ halten. Damit würden die Ergebnisse vermutlich eher auf der konservativen Seite liegen. Trotzdem waren die Antworten überraschend. Ein Drittel der Befragten gab eine oder mehr der schlimmsten zehn Übertretungen zu. Dazu gehörten das Fälschen von Daten, das Verschweigen von Daten, die im Widerspruch zu eigenen, früheren Forschungsergebnissen standen, das Ändern des Aufbaus der Untersuchung, weil die Geldgeber das forderten und das Stehlen der Ideen anderer. Und all das in nur drei Jahren!

Wie sich herausstellte, begehen Wissenschaftler in der Mitte ihrer Karriere (wie Robert Millikan) solche Sünden häufiger. Wer sich bei der Vergabe von Forschungsgeldern benachteiligt fühlt, wird ebenfalls häufiger Fehlverhalten zeigen. Um noch einen Punkt hinzuzufügen: Auch der Status spielt bei wissenschaftlichem Fehlverhalten eine Rolle. „Stars“ der Wissenschaftsszene begehen häufiger wissenschaftliche Sünden, werden aber seltener ertappt als die Durchschnittswissenschaftler.

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Albert Einstein s Name steht für ein Genie.Footnote 30 Er taucht in einigen Kapiteln dieses Buches auf. Am interessantesten ist es aber vielleicht, etwas genauer zu untersuchen, wo er als Wissenschaftler Fehlverhalten zeigte. Wäre Einstein gezwungen, Brian Martinsons Umfrage zum Thema „Scientists Behaving Badly“ ehrlich zu beantworten, müsste er zugeben, fünf der sechzehn Übertretungen begangen zu haben. Wenn wir berücksichtigen, dass drei der sechzehn sein Arbeitsgebiet nicht berühren, bleibt eine Trefferrate von mehr als einem Drittel. Einstein ist das perfekte Beispiel einer Person, die großartige Wissenschaft produziert, aber sich keine Gedanken über die Übertretungen macht, die solche Durchbrüche erfordern.

Heutzutage würde Einsteins Erfolgsgeschichte in den Personalabteilungen der Universitäten die Alarmglocken läuten lassen. Die große Aufmerksamkeit, die ein Genie genießt, hat ihn als Frauenheld bloßgestellt, der in schamloser Weise bei der Tochter seiner Geliebten Annäherungsversuche machte. Als er von beiden Frauen zur Rede gestellt wurde, zuckte er mit den Achseln und fragte sie, welche von beiden er heiraten solle, wenn er von seiner Frau Mileva geschieden sein würde. Bei der Scheidung versprach er Mileva mit einer gewissen Arroganz das Geld des Nobelpreises, den er noch gar nicht erhalten hatte. Als er über das Preisgeld verfügen konnte, gab er Mileva nur die Hälfte. Auch die Alimente zahlte er nur unregelmäßig. Seine Universität ließ er nach seiner Emeritierung das volle Gehalt zahlen und drohte, seinen ganzen Ruhm einzusetzen, wenn sie sich weigerte. Er hinterzog Steuern und sagte sich von seinem schizophrenen Sohn los, der als Patient „dritter Klasse“ in einer Anstalt starb.

Nichts von dem beweist irgendetwas über Einsteins wissenschaftliche Integrität, aber es wäre naiv zu meinen, dass das Verhalten eines Wissenschaftlers säuberlich in Privat- und Berufsleben getrennt ist und die Charaktereigenschaften in der einen Hälfte nicht auch in der anderen Hälfte eine Rolle spielen.

War Einstein grundsätzlich unehrlich und sowohl in der Wissenschaft wie in der Liebe ein Schwindler? Nein. Es gibt aber viele Schatten auf seiner beruflichen Laufbahn. Um diesen Helden der Wissenschaft ins beste Licht zu rücken: Es ist ganz klar, dass er ein begeisterungsfähiger und begabter Denker war, der bei seinem Ziel, das Universum zu verstehen und das auch anderen zu vermitteln, die allgemein anerkannten Praktiken der Wissenschaft als Richtlinien akzeptierte, aber nicht als in Stein gemeißelte Gesetze. Er wusste sehr wohl, dass es die Konventionen erforderten, das Spiel in einer bestimmten Weise zu spielen, aber manchmal kam es ihm auch gelegen, sich über die Konventionen hinwegzusetzen. Er scheute sich beispielsweise nicht, aus den Daten die herauszusuchen, die am besten zu seinen Theorien passten.

Anfang 1915 war ein klein wenig „Datenkosmetik“ offensichtlich ein äußerst unbedeutendes wissenschaftliches Fehlverhalten. Außerhalb Warschaus war die deutsche Wehrmacht dabei, die neuesten Errungenschaften der deutschen Chemiker zu testen. Xylylbromid oder Tränengas war beim ersten Einsatz eine Enttäuschung. Im Januar war es in Polen kalt, und das Gas gefror, statt sich zu verbreiten. Als die Wehrmacht dazu überging, tödliche Gasminen einzusetzen, lief dann alles anders: Bei Ypern tötete Chloringas in nur 10 min 6.000 alliierte Soldaten.

Unterdessen hatte Einstein, der voll Mut seine Einwände gegen den Krieg mit einem erheblichen Risiko für seine Stellung und Sicherheit geäußert hatte, einen Privatkrieg begonnen. Seine Anstrengungen, die Spezielle Relativitätstheorie zu verallgemeinern, um beschreiben zu können, wie das Vorhandensein von Energie und Masse die Struktur des Universums bestimmt, kamen nicht voran. Um seiner Frustration zu begegnen, begann er in Berlin zusammen mit Wander Johannes de Haas , mit Eisenmagneten herumzuexperimentieren.

Die Erklärung der Elektrizität als Störung des Äther s befriedigte Einstein nicht: Er glaubte an Thomson s Elektron. Mehr noch: Er nahm an, dass der Magnetismus durch die kreisende Bewegung der Elektronen im Eisenatom erzeugt wurde. Zum Zeitvertreib beschloss er, diese Vermutung zu testen.

Mit der Hilfe von de Haas hängte er einen entmagnetisierten Eisenstab an einen Glasfiberfaden, um dann seinen Magnetismus mit einem Magneten zu verändern. Wenn seine Vermutung richtig war, würde sich mit der Magnetisierung auch der Drehimpuls des Stabs verändern. Aufgrund des Erhaltungssatzes des Drehimpulses müsste dadurch eine kompensierende Gegenbewegung ausgelöst werden. Der Eisenstab würde gezwungen werden, entgegen der Rotationsrichtung der Elektronen zu rotieren, damit der Drehimpuls erhalten blieb. Nach seiner Theorie erzeugte ein bestimmtes Maß an Magnetismus eine bestimmte Bewegung. Genau das fand Einstein auch heraus.

Das genaue Verhältnis von Magnetismus und Bewegung, das man gyromagnetisches Verhältnis nennt, war nach Einsteins Ansicht 1. Einsteins Experiment ergab den Wert 1,02, was so nahe am Wert 1 war, dass „jeder Zweifel an der Richtigkeit der Theorie verstummen muss“, wie er in einem Brief an Geertruide de Haas schrieb.Footnote 31 „Ein wundervolles Experiment, schade, dass Du’s nicht siehst“, teilte er Michele Besso mit, seinem Freund und Kollegen vom Berner Patentamt.Footnote 32

Als aber nun andere das Experiment wiederholten, waren die Ergebnisse nicht so „wundervoll“. Weitere Versuche zeigten nach sechs Jahren, dass das gyromagnetische Verhältnis 2 beträgt und nicht 1. Einstein, der von seiner eigenen (falschen) Theorie geleitet wurde, weigerte sich trotzdem zu glauben, dass der Wert 1 falsch war. Jahre später hat de Haas, Einsteins Mitarbeiter an dem Experiment, eingeräumt, dass sie das Experiment zweimal durchgeführt hatten und einmal den Wert 1,02, das andere Mal aber 1,45 erhielten. Einstein hat den Wert ausgewählt und veröffentlicht, der zu seiner Theorie passte.

Das kann man kaum als großes Verbrechen bezeichnen. Aber Einsteins kleines Fehlverhalten zeigt uns zwei Dinge. Erstens: Das Herauspicken der Rosinen aus dem Datenhaufen wird selten bestraft. Es gehört einfach zur Wissenschaft dazu. Manchmal, wie im Fall Millikan s, funktioniert es, und die Geschichte macht aus dem Forscher einen Helden. Manchmal, wie im Fall Einsteins und seines gyromagne tischen Faktors, funktioniert es nicht, und die Geschichte zuckt mit den Achseln – entweder, weil es keine Rolle mehr spielt, oder weil der Irrtum nur entdeckt wurde, nachdem andere die richtige Antwort fanden. Die möglichen Buhrufe werden von dem Applaus übertönt, der denen gilt, die Erfolg haben.

Die zweite Erkenntnis aus dieser Episode ist die vielleicht interessantere. Einstein ging mit den „heiligen“ Prozessen der Wissenschaft ganz lässig um. Und in irgendeiner Weise tun das alle Wissenschaftler. Einstein hat einmal geraten, man solle zu allerletzt einen Theoretiker fragen, wenn man wissen will, wie die theoretische Physik betrieben wird: „Wenn Ihr von den theoretischen Physikern etwas lernen wollt über die von ihnen benutzten Methoden, so schlage ich Euch vor: Höret nicht auf ihre Worte, sondern haltet Euch an ihre Taten.“Footnote 33

Er war sich darüber im Klaren, dass man die Wissenschaft nicht mit einer solchen Haltung präsentieren durfte und war stolz auf Statements wie „Keine noch so große Zahl von Experimenten kann beweisen, dass ich recht habe; ein einziges Experiment kann beweisen, dass ich unrecht habe“. Solch große Worte sind gut und schön, es bleibt aber die Tatsache, dass sich Einstein weigerte, zur Kenntnis zu nehmen, dass der gyromagnetische Faktor nicht den Wert hatte, den seine Theorie vorhersagte. Er dachte ähnlich, als es um die Relativitätstheorie ging. In seinen Augen war sie immer richtig, auch wenn Experimente sie widerlegt hätten. „Da könnt‘ mir halt der liebe Gott leid tun. Die Theorie stimmt doch“,Footnote 34 sagte er zu Ilse Rosenthal-Schneider. Für Theoretiker ist das ein Standpunkt, den sie ganz selbstverständlich vertreten. Auch Paul Dirac ging das Problem „Theorie vs. Experiment“ so ähnlich an: „Gibt es keine völlige Übereinstimmung zwischen dem Resultat aus einer Arbeit und einem Experiment, sollte man sich nicht entmutigen lassen“, sagte er einmal.Footnote 35 Eine Ausnahme ist nur, wenn ein Theoretiker bewusst seine Theorie frisiert. Eine solche Haltung ist nicht zu billigen. Zum Glück war Gott wirklich „lieb“, als Einstein diese Sünde beging.

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Im Allgemeinen denkt man, dass Theoretiker gegenüber der schlimmsten Form des wissenschaftlichen Fehlverhaltens immun sind, die Martinsons Tabelle anführt. Das Fälschen oder Frisieren von Forschungsergebnissen (Fälschen der „Münze Wissenschaft“, wie es David Goodstein genannt hat)Footnote 36 hält man eigentlich bei allen, die nur mit Ideen umgehen, für unmöglich. Das stimmt aber nicht. Eine mathematische Theorie zu konstruieren ist nicht viel anders, als ein Experiment durchzuführen. Bei jedem Schritt muss man die Einzelheiten im Auge behalten, und schon ein Flüchtigkeitsfehler macht die ganze Anstrengung zunichte. Man muss sorgfältig auf ungerechtfertigte Annahmen achten. Ein Beispiel: Mathematische Modelle werden entwickelt, um bestimmte Situationen zu beschreiben, aber was für das eine Szenario angemessen ist, muss nicht unbedingt für das andere taugen. Wenn eine Formel in einem bestimmten Kontext geeignet ist (beispielsweise bei einer Bewegung mit der Geschwindigkeit eines Eisenbahnzugs), heißt das nicht, dass sie in einem anderen Kontext funktioniert (wenn sich z. B. etwas mit nahezu Lichtgeschwindigkeit bewegt). Einstein, immer ein Anarchist, weigerte sich, mit solchen unbequemen Details einer guten Idee den Weg zu versperren.

Einstein hielt seine Eingebung von 1905 für „lustig und bestechend“:Footnote 37 Die Masse eines Körpers ändert sich, wenn er Licht aussendet. Das kristallisierte sich in seinem Kopf zu der berühmten Gleichung E = mc 2 : Die Energie des Lichtpulses ist gleich der Massenänderung multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit. Es gelang ihm aber nie, das zu beweisen.

Sein erster Ansatz, der 1905 in den Annalen der Physik veröffentlicht wurde, enthielt einen Fehler.Footnote 38 Einstein verwendete eine Formel, die nur für Massen gilt, die sich langsam bewegen. Die Beschreibung schnell beweglicher Emittenten von Licht hätte einen völlig anderen Ansatz erfordert. Nach Ansicht des Physikers Hans Ohanian war dieser Fehler „eine Sache, von der jeder Amateurmathematiker weiß, dass er darauf achten muss“. Einstein kümmerte das wenig. Ohanian nimmt großzügigerweise an, Einstein sei noch von seiner Arbeit über die Spezielle Relativitätstheorie erschöpft gewesen, die nur ein paar Monate zuvor fertig geworden war. Aber in den folgenden 41 Jahren machte Einstein etliche Versuche, seine berühmte Gleichung zu beweisen – keiner von ihnen war ohne Fehler.Footnote 39

Nehmen wir beispielsweise Einsteins „Beweis“ von 1912. Der Ansatz, den er verwendete, war aus einer Arbeit des Physikers Max von Laue übernommen, ohne dass er das angab. Bei dem Versuch, den Ansatz in seinen eigenen zu verwandeln, musste Einstein eine unsinnige Annahme machen. In einer Fußnote heißt es: „Dies ist allerdings nicht streng, da additive Konstante vorhanden sein könnten, denen der Vektorcharakter abgeht.“ Er schwächte also seine Behauptungen selbst ab und nahm damit einer möglichen Kritik den Wind aus den Segeln. Die Vermutung, seine Annahme würde nicht in seinem Sinne funktionieren, erscheine aber „so künstlich, dass wir uns mit dieser Möglichkeit gar nicht weiter beschäftigen.“Footnote 40 Das ist kein Versuch zu täuschen oder unbequeme Wahrheiten schön zu färben. Es ist eher ein Gedankentrick – wie wenn ein Zauberer auf die Kraft der Suggestion setzt. Wenn es Newtons Stil war, den Einstein kopierte, als er in der Mathematik schummelte, so borgte er sich hier Galileis Taktik aus, um andere zu veranlassen, keine Fragen zu stellen.

Einen der letzten Versuche, E = mc² zu beweisen, machte Einstein 1934, als er einen „verbesserten“ Beweis der Gleichung einer Versammlung von Wissenschaftlern vortrug. Unter den Zuhörern war ein Reporter der New York Times, der daraus eine Schlagzeile auf der ersten Seite machte. Er war des Lobes voll und berichtete: „Es war wie wenn man Beethoven zuhörte, als er die Neunte Sinfonie ein letztes Mal überarbeitete.“ 400 amerikanische Wissenschaftler hatten das „Vergnügen, ihn zu beobachten, wie er das Universum neu modellierte. Ein Stück Kreide war sein einziges Werkzeug.“Footnote 41 Der Beweis stimmte aber immer noch nicht – aus dem gleichen Grund wie beim ersten Versuch. Auf den Fehler hatte schon Jahre zuvor kein Geringerer als Max Planck hingewiesen, aber Einstein war das entweder nicht bekannt oder er ignorierte Plancks Hinweis.

Es war ohnehin nicht das große Ding, als das es die New York Times hinstellte. Niemand, der sich auf diesem Gebiet auskannte, war von der Gleichung überrascht, auch nicht 1905. Die Gleichung existierte bereits für elektrische Energie und damit für Licht. Und 1934 hatten bereits einige Mathematiker unangreifbare Beweise geliefert, die in starkem Gegensatz zu Einsteins etwas schludrigen Annahmen standen. Bis dahin hatte aber Einstein die Gleichung längst als seine vereinnahmt. Er wies Forderungen, die Sache richtigzustellen, voll Verachtung oder mit aggressiven Beteuerungen seiner „Priorität“ zurück. Erst in seiner schon erwähnten Autobiographie, die Einstein 1946 schrieb und die 1949 veröffentlicht wurde,Footnote 42 deutet sich an, dass er möglicherweise einen Rückzieher vorhatte. Während er in dem Text all seine vielen authentischen Beiträge zur Physik aufführt, ist E = mc 2 nirgends zu finden.

Gehen wir nun zum neunten Merkmal in Martinsons Liste, finden wir ein weiteres Fehlverhalten Einsteins. Er machte sich schuldig, indem er die „Verwendung von falschen Daten durch andere oder deren fragwürdige Interpretation“ übersah. Aber überrascht uns das wirklich? Schließlich unterstützten Arthur Eddington s Daten Einsteins Theorie, und wir haben schon gesehen, wie sehr sich Einstein über so etwas freuen musste.

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Fragen wegen Eddingtons Umgang mit Daten tauchten oft auf.Footnote 43 Was weniger Aufmerksamkeit erregte, war sein wichtigstes Motiv: Er wollte in erster Linie nicht Einsteins wunderschöne Theorie bestätigen, sondern Friede zwischen den Nationen stiften.

Eddington war Quäker . Während heute Quäker oft als Mitglieder einer freundlich gestimmten Sekte angesehen werden, die jeden willkommen heißt und auf nichts beharrt, war das gegen Ende des 19. Jahrhunderts sicher anders. Eddingtons Wertvorstellungen hatten sich gebildet, als die Quäker zu den Radikalen zählten. Sie lehnten die traditionellen christlichen Ansichten ab und waren glücklich darüber, die Richtschnur für ihr Handeln in ihren Köpfen zu formen, statt sie der Heiligen Schrift zu entnehmen. Vor allem sahen sie das Gute in allen Menschen, unabhängig von Hautfarbe und Glauben. Die Quäker hatten im 17. Jahrhundert die Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei begonnen, Jahrzehnte bevor William Wilberforce dieser Bewegung sein Gewicht verlieh.

Als der Erste Weltkrieg begann, war Eddington bereit zu kämpfen – aber nur für die Sache des Pazifismus. Sein aktives, radikales Quäkertum spornte ihn an, nach Wegen zu suchen, wie er der Spaltung der Nationen den Krieg erklären könnte. Für ihn war klar, dass der Krieg keinesfalls die Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftlern auf beiden Seiten beeinträchtigen durfte. Als er im April 1918 zum Dienst in der britischen Armee einberufen wurde, bot sich eine Gelegenheit, um mit seinem Anliegen weiter voranzukommen.

Eddington widersetzte sich der Einberufung und wurde zum bewussten Kriegsgegner. Das hatte eine lange Reihe von Verhandlungen zur Folge, bei denen viele einflussreiche Kollegen forderten, er solle wegen seiner Stellung als Direktor des Cambridge Observatory vom Militärdienst befreit werden. Eddington, der sich der völligen Verzweiflung seiner einflussreichen Kollegen bewusst war, ließ aber diese Einwände nicht gelten, weil er keine Ausnahme aufgrund seiner wissenschaftlichen Bedeutung wollte: „Mein Widerstand gegen den Krieg hat religiöse Gründe. Ich kann nicht glauben, dass mich Gott ruft, damit ich Menschen abschlachte“, sagte er dem Tribunal in Cambridge, das seinen Fall behandelte.

Das war eine gefährliche Taktik. Die erschöpfte britische Armee suchte verzweifelt nach neuen Rekruten. Eine Verweigerung aus Gewissensgründen konnte nicht länger herhalten, um sich vom Dienst befreien zu lassen. Auch Kollegen unter den Quäkern wie Ebenezer Cunningham, ein Mathematiker vom St. John’s College, hatten gerade ihren Widerstand aufgegeben. Die Verweigerer, die für die britischen Soldaten und auch in der Öffentlichkeit Objekte der Verachtung und der Verfolgung waren, wurden trotz aller Proteste einberufen und zum Minenräumen und ähnlich gefährlichen Aufgaben abgeordnet.

Eddington wurde dieses Schicksal nur erspart, weil ihm der „Astronomer Royal“ Frank Dyson , der vielleicht Eddington besser als alle anderen verstand, einen ehrenhaften Ausweg öffnete. Dyson war von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie seit ihrer Veröffentlichung 1915 fasziniert. Er war aber skeptisch, was ihre Behauptungen betraf, und suchte nach Wegen, sie zu beweisen oder zu widerlegen. Die einzige Möglichkeit, um das zu erreichen, schien ein Test zu sein, ob die Anwesenheit von Materie den Raum krümmt. Diese Raumkrümmung hatte nach Einstein zur Folge, dass sich das Licht nicht immer geradlinig bewegt. Hatte Einstein recht, würde das Licht von einem fernen Stern einem gekrümmten Weg folgen, wenn es beispielsweise nah an der Sonne vorbei käme. Aufgrund dieser Kurve würde die Position des Sterns am Himmel ein klein wenig verschoben sein.

Es scheint, als könne man das leicht testen, aber es gibt dabei zwei Komplikationen. Die Erste ist, dass auch die Theorie Newtons besagt, dass der Lichtweg in einem starken Gravitationsfeld gekrümmt ist. Der Newtonsche Effekt ist aber nur halb so groß wie der von der Relativitätstheorie vorhergesagte. Die zweite Komplikation ist, dass es naturgemäß sehr schwer ist, Sterne zu beobachten, die am Himmel nahe der Sonne stehen. In jedem Teleskop wäre das Sternenlicht vom Licht der Sonne überstrahlt, das den Beobachter blind machen würde. Die einzige Möglichkeit, um solche Beobachtungen durchzuführen, ist eine totale Sonnenfinsternis.

Dyson hatte schon Fotoplatten durchgesehen, die während früherer Sonnenfinsternisse gemacht worden waren, hatte aber nichts gefunden, was Einsteins Theorie bestätigen oder widerlegen konnte. Seiner Meinung nach konnte aber eine totale Sonnenfinsternis im Jahre 1919 die gewünschten Daten liefern, sofern sich die Astronomen darauf vorbereiteten. Eine Sonnenfinsternis ist nur in einem schmalen Streifen auf der Erdoberfläche total. Daher gibt es nur wenige Beobachtungsplätze, die die nötige völlige Finsternis bieten. Um die Beobachtungen zu machen, musste sich auf Dysons Entschluss hin ein Team von Astronomen auf die lange und beschwerliche Expedition nach Principe machen, einer Insel vor der Küste Westafrikas.

Dyson teilte dem Militärtribunal, das über Eddington entscheiden sollte, mit, Eddingtons Arbeit komme der Darwins gleich und erinnerte auch daran, dass die Vormachtstellung der britischen Wissenschaft infrage stand. Wie er sagte, gab es „einen weitverbreiteten, aber irrigen Glauben, dass die wichtigsten Forschungen in Deutschland betrieben würden.“ Gäbe man den britischen Astronomen genügend Zeit, um sich auf die Expedition vorzubereiten und sie dann durchzuführen, würden die Beobachtungen in Principe Ruhe in diese Angelegenheit bringen und den Ruf Großbritanniens wiederherstellen. “Professor Eddington ist ganz besonders qualifiziert, um diese Beobachtungen durchzuführen, und ich hoffe, das Tribunal wird erlauben, dass diese wertvolle Arbeit fortgesetzt wird.“

Die Kriegslist hatte Erfolg – für beide Seiten. Das Tribunal erlaubte Eddington, mit seiner Forschung weiterzumachen, und Eddington nahm zu aller Erleichterung die Ausnahmeregelung an. Matthew Stanley, einer der Biographen Eddingtons, hat es so ausgedrückt: „Es war eine Gelegenheit für ihn, einen friedliebenden, einsichtsvollen Deutschen sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft berühmt zu machen.“Footnote 44

Mit anderen Worten: Eddington glaubte bereits, dass Einstein recht hatte, und er war schon gut darauf vorbereitet, eine von Gott gegebene Gelegenheit zu nutzen, um den Beweis zu führen. Die Expedition nach Principe war eine Chance, der Erde Frieden zu bringen. In einem Statement, das Eddington Jahre später abgab, wies er darauf hin, dass seine Bestätigung der Theorie Einsteins „nicht ohne internationale Bedeutung“ war, denn wenn „unser National Observatory beim Test und schließlich der Bestätigung der ‚feindlichen‘ Theorie führend ist, hält es die besten Traditionen der Wissenschaft lebendig. Und diese Lektion wird vielleicht immer noch in der heutigen Welt gebraucht.“

Nachdem nun klar ist, dass Eddington ein Motiv hatte, vielleicht das beste aller Motive, nämlich sicherzustellen, dass Einsteins Theorie bestätigt wurde, können wir ein Auge auf das werfen, was er tat, um dieses Ziel zu erreichen.

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Die Hand Gottes mag ja Eddington nach Principe geschickt haben, aber bei den Beobachtungen half sie nicht. Die Expedition war mit einem Trommelfeuer von Gewittern konfrontiert, und die Teilnehmer mussten für die Ausrüstung wasserdichte Schutzbauten errichten. Dank der Lebendigkeit der Insektenpopulation auf der Insel mussten sich alle mit Chinin vollstopfen und unter Moskitonetzen Schutz suchen. Nachts kamen die Affen, die von den Teleskopen fasziniert waren, aus dem Dschungel, kletterten über die Geräte und störten die Einstellungen. Voller Wut taten sich die Wissenschaftler mit den Ingenieuren zusammen und jagten und töteten die Eindringlinge.

Und dann, am Morgen der Sonnenfinsternis, öffnete der Himmel wieder seine Schleusen. Der Regen hörte zwar zwei Stunden vor Eintritt der Totalität auf, aber immer noch bedeckte eine graue Wolkenschicht den ganzen Himmel. Gerade rechtzeitig klarte es dann ein wenig auf, und Eddington konnte durch das Teleskop einige Aufnahmen der verdeckten Sonne und ihrer Umgebung machen. Die Wolken „beeinträchtigten die Bilder der Sterne aber erheblich“. Es ist wenig überraschend, dass die Fotos eine Enttäuschung waren. Eddington gelang es, während der Finsternis 16 Bilder auf fotografische Glasplatten zu bannen. Nach einer Woche hatte er 12 von ihnen entwickelt, aber nur zwei waren brauchbar: Die Mehrzahl „zeigte praktisch keine Sterne“, sagte er, „es ist sehr enttäuschend“.

Es war wirklich so enttäuschend, dass Eddington von seiner ursprünglichen Methode abrückte, mit der er die Sternpositionen aus den Platten bestimmen wollte. Er formulierte eine neue Methode, die unter anderem auch Einsteins eigene Zahlen für die Größe der Abweichung mit einbezog. Es war daher nicht allzu überraschend, dass Eddington nun ziemlich erfreuliche Ergebnisse erzielte: „Die eine gute Platte, die ich vermaß, zeigte gute Übereinstimmungen mit Einstein, und ich denke, dass auch die zweite eine kleine Bestätigung brachte.“

Das Ergebnis war eine Abweichung von 1,61 Bogensekunden. Wie Eddington wusste, sagte Einsteins Theorie 1,75 Bogensekunden voraus. Nach Newtons Theorie wiederum, die der Stand der Dinge war, sollte die Abweichung nur 0,8 Bogensekunden betragen. Das sind winzige Abweichungen, die ungefähr dem Durchmesser der kleinsten Münze im Geldbeutel entsprechen, wenn man sie in einer Meile Entfernung sieht. Eddington war aber glücklich, Einstein zum Sieger erklären zu können. Im folgenden Jahr schrieb er: „Obwohl das Material verglichen mit dem was man erhofft hatte, sehr mager war, glaubte der Schreiber (der zugeben muss, nicht ganz unbeeinflusst gewesen zu sein), dass es überzeugend ist.“

Eddingtons Expedition war aber nicht die einzige, die bei der Sonnenfinsternis von 1919 die Allgemeine Relativitätstheorie testen sollte. Der Astronomer Royal hatte auch eine Expedition nach Sobral in Nordostbrasilien geschickt. Sie war, wie die Eddingtons, mit einem AstrographenFootnote 45 ausgestattet und hatte schönes klares Wetter, was viele Fotografien erlaubte. Wie sich herausstellte, hatte das schöne Wetter aber einen großen Nachteil: Die Hitze in Brasilien deformierte einen Spiegel, der das Sternenlicht in das Hauptteleskop fokussieren sollte. Das Ergebnis war, dass die erhaltenen Bilder leicht unscharf waren. Eine Notiz vom 30. Mai, die geschrieben wurde, nachdem vier der Platten entwickelt waren, gab zu, es erscheine „zweifelhaft, dass man viel von den Platten ablesen können wird“.

Trotzdem wurde aber ein Wert errechnet: eine Abweichung von 0,9 Bogensekunden. Das war aber viel zu wenig, um Einsteins Theorie zu bestätigen und lag sehr nahe am klassischen Newtonschen Wert für die Abweichung eines Lichtstrahls auf seinem Weg durchs All. Zum Glück für Eddington hatte die brasilianische Expedition noch ein anderes, kleineres Teleskop mitgenommen. Als die Bilder dieses Teleskops analysiert wurden, erhielt man 1,98 Bogensekunden Abweichung.

In ihrem Buch Der Golem der Forschung über die Wissenschaft und ihre Methoden demonstrieren die Autoren Harry Collins und Trevor Pinch, dass man mit einer modernen Analyse, die alle Ergebnisse mit einbezieht, aus den Daten während der Sonnenfinsternis von 1919 keinen Schluss ziehen kann. Die acht „guten“ Platten von Sobral zeigen eine Abweichung von knapp über 1,7 Bogensekunden, die zwei „schwachen“ Platten von Principe geben Werte zwischen 0,9 und 2,3 Bogensekunden. Das Mittel der „schwachen“ Platten von Sobral ergibt eine Obergrenze von 1,6 Bogensekunden.

Im November hatte Eddington aber entschieden, welche der Daten die wertvollsten waren: die von seinen eigenen zwei Platten. Sie waren die unschärfsten von allen, und die Werte wurden aus ihnen mit einer Formel berechnet, die Einsteins eigenes Resultat schon mit einbezog. Trotzdem erklärte der neue Präsident der Royal Society, J. J. Thomson, den Beweis für geglückt.

Vielleicht war Thomson besonders empfindlich, was Anklagen wegen fraglicher Daten betraf. Die Debatte zwischen Millikan und Ehrenhaft über Thomsons Elektron war noch immer nicht ausgestanden. Und er war wohl mit dem Gefühl der Wissenschaftler vertraut, zu „wissen“, ob etwas richtig ist, selbst wenn ein wirklich befriedigender Beweis nicht zu erreichen war. Deshalb beschloss er trotz des Murrens, das man hören konnte, Einsteins Vorhersage sei bewiesen: „Für das Publikum ist es schwierig, die Bedeutung der vorgelegten Zahlen abzuwägen, aber der Astronomer Royal und Professor Eddington haben das Material sorgfältig studiert, und sie betrachten die Belege als entscheidende Stütze des größeren [d. i. Einsteins] Wertes für die Verschiebung.“Footnote 46

Thomsons Bekanntmachung hatte offensichtlich nicht die erwarteten Folgen. Das Nobelpreis-Komitee bezog die Relativitätstheorie nicht in Einsteins Nobelpreis von 1921 ein (der aus verschiedenen Gründen erst 1922 verliehen wurde): Der letzte Satz in dem Brief, der an Einstein ging, gibt an, dass er mit dem Preis „in Berücksichtigung Ihrer Arbeiten für die Theoretische Physik und insbesondere für Ihre Entdeckung des Gesetzes des photoelektrischen Effekts“ bedacht werde, dass aber der Wert, „der Ihren Theorien der Relativität und der Gravitation zugerechnet werden wird, nicht berücksichtigt werden könne, nachdem sie erst in der Zukunft bestätigt werden müssen.“

Diese sorgfältig ausgewogene Wortwahl muss Eddington wie ein Stoß in den Rücken vorgekommen sein, aber sie erscheint fair. Selbst 1962, als ein Team von Astronomen versuchte, Eddingtons Ergebnisse während der Sonnenfinsternis zu reproduzieren, kamen sie zu keinem Resultat, obwohl sie besser ausgerüstet waren. Sie schlossen, dass es einfach nicht gefunden werden kann. Kein Wunder also, dass viele von Eddingtons Zeitgenossen wegen des „Beweises“ von Einsteins Theorie skeptisch blieben. 1923 fasste der amerikanische Kritiker William Wallace Campbell die Lage zusammen:

Professor Eddington war geneigt, dem afrikanischen Ergebnis erhebliches Gewicht beizumessen; da jedoch die wenigen Bilder auf seiner kleinen Anzahl von astrographischen Platten nicht so gut waren wie die in Brasilien gewonnenen astrographischen Platten und den Resultaten aus letzteren ein fast zu vernachlässigendes Gewicht beigelegt wurde, ist die Logik der Situation irgendwie nicht ganz klar.Footnote 47

Was machte nun Einstein mit Eddingtons Ergebnissen? Schlug er vor, weniger kontroverse Bestätigungen der Relativitätstheorie abzuwarten? Natürlich nicht. Einstein war der oberste aller Anarchisten.

Einstein „wusste“, dass er recht hatte – auch wenn es noch keine Bestätigung gab. Sein Freund Heinrich Zangger, Professor für Pathologie in Zürich, hörte von Eddingtons Ergebnissen und schrieb Einstein: „Ihre Zuversicht die Denkzuversicht dass das Licht krumm gehen müsse um die Sonne, z. B. in der Zeit, als Sie bei uns waren, ist für mich ein gewaltiges psychologisches Erlebnis.“Footnote 48

Es mag sein, dass sich Einstein nie darum kümmerte, genau herauszufinden, was Eddington gesehen hatte. Er ging gewiss mit den Fakten in Eddingtons Arbeit locker um und erklärte Max Planck , dass die „genaue Vermessung der Platten exakt den theoretischen Wert für die Lichtablenkung ergeben hat“.Footnote 49 Das war aber, wie wir gesehen haben, nicht wahr. Es ist aber nicht klar, ob Einstein Planck absichtlich täuschen wollte. Einstein war einfach nicht besonders an den Daten interessiert.

Für ein Genie wie ihn war diese Haltung sehr dienlich. 1905 war es beispielsweise so, dass seine Vorstellungen der Speziellen Relativitätstheorie nicht mit den vorhandenen Daten übereinstimmten, die beschreiben, wie elektrische und magnetische Felder einen Strahl geladener Teilchen ablenken. Die Daten bestätigten vielmehr konkurrierende Theorien. Einstein kehrte sich darum nicht und erklärte, die Konkurrenztheorie sei angesichts anderer experimenteller Ergebnisse inadäquat: „Jenen Theorien kommt aber nach meiner Meinung eine ziemlich geringe Wahrscheinlichkeit zu.“Footnote 50 Er hatte damit vollkommen recht: Kurz darauf zeigten genauere Messungen, dass die Spezielle Relativitätstheorie die bessere Theorie war.

Einstein äußerte einmal in einem Gespräch mit Werner Heisenberg zum Thema Theorie/Experiment: „Aber vom prinzipiellen Standpunkt aus ist es ganz falsch, eine Theorie nur auf beobachtbare Größen gründen zu wollen. Denn es ist ja in Wirklichkeit genau umgekehrt. Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.“Footnote 51 Diese Art zu denken, scheint auch hinter dem folgenden Statement Eddingtons zu stehen:

Beobachtung und Theorie fahren immer am besten, wenn sie vereint auftreten, indem sie sich gegenseitig bei der Erforschung der Wahrheit unterstützen. Es ist ein gesunder Grundsatz, dass man kein übergroßes Vertrauen auf eine Theorie setzen soll, solange sie nicht durch die Erfahrung bestätigt ist. Ich hoffe, dass ich bei den Experimentalphysikern kein allzu großes Ärgernis errege, wenn ich hinzufüge, dass es auch ein gesunder Grundsatz ist, dass man kein übergroßes Vertrauen auf Beobachtungsergebnisse setzen soll, solange sie nicht durch die Theorie bestätigt worden sind.Footnote 52

In der Wissenschaft gilt wirklich „anything goes“. Wirklich? Vielleicht habe ich mich selbst schuldig gemacht, Rosinen herauszupicken, wenn ich mich auf ein paar berühmte Wissenschaftler konzentriert habe? Allein aus diesen Fällen darauf zu schließen, dass die Wissenschaft anarchisch ist und dass sie sich nicht sklavisch an die Ergebnisse von Experimenten hält, ist ganz in Ordnung. Aber gilt der Schluss auch, wenn man ihn auf die alltägliche Wissenschaft anwendet? Ja, er gilt.

Der vielleicht überzeugendste Beweis der modernen, alltäglichen wissenschaftlichen Anarchie wurde 2006 erbracht, als das Team von Forschern, das für die Umfrage „Scientist Behaving Badly“ von 2005 verantwortlich war, die am Anfang des Kapitels zitiert wurde, eine Basiserhebung machte. Die Ergebnisse waren so eindeutig, dass Raymond de Vries und seine Mitarbeiter ihrer Arbeit von 2006 den Titel „Normal Misbehaviour“ gaben.Footnote 53 Mehr noch: Sie erkannten, dass das übliche Fehlverhalten „eine nützliche und unersetzbare Rolle“ in der Wissenschaft spielt.

Die Gespräche, die zu diesem verblüffenden Schluss führten, wurden mit 51 Wissenschaftlern geführt, die schon zur Hälfte oder zu einem Drittel die Karriereleiter hochgeklettert waren. Es handelte sich um Assistenzprofessoren und Postdoc-Forscher an öffentlichen und privaten „bedeutenden Forschungsuniversitäten“. Die Statements der Befragten bieten eine unterhaltende und erhellende Lektüre. Hier ist eines davon:

Okay, Du bekommst in der ersten Woche die erwarteten Resultate dreimal mit dem gleichen Präparat, und dann sagst Du, oh, prima. Du gehst daran, das zu veröffentlichen, aber der Gutachter sagt, er wolle „ein klareres Bild“. Dann gehst Du und machst den Versuch noch einmal – und rate was passiert? Du kannst Deine eigenen Ergebnisse nicht reproduzieren. … Versuchst Du dann, Deine Ergebnisse bei einer anderen Zeitschrift unterzubringen oder stoppst Du die Veröffentlichung, weil Du Deine Ergebnisse kein zweites Mal erzielst? … Waren sie falsch? Nein, in einer ganzen Woche waren sie richtig, aber Du kannst sie nicht reproduzieren. … Es gibt eine Menge Möglichkeiten, die „halblegal“ sind. … Das sind aber keine richtigen Verfälschungen.

Und ein anderer:

Es gibt einen wirklich berühmten Vorfall in unsrem Arbeitsgebiet, wo es klar war, dass einige der Ergebnisse rausgeworfen wurden. Als man die Forscher fragte, sagten sie, „Okay, wir machen das schon 20 Jahre, wir wissen, wenn wir einen Ausreißer haben“.

Es gibt noch einen weiteren überzeugenden Hinweis, dass solche Haltungen weit verbreitet sind. Man kann sie weder durch Erziehung noch durch Kontrolle verhindern. Ich habe schon erwähnt, dass der Anteil der „fragwürdigen Daten“, die in Nature Cell Biology veröffentlicht wurden, von der Einführung eines Daten-Screenings unbeeinflusst blieb. Ethik-Vorlesungen für Forscher an der University of Texas hatten ähnlich vernachlässigbare Auswirkungen.Footnote 54 In einer bizarren Wendung stellte dagegen 1996 eine Studie über die Wirkung ethischer Erziehung fest, dass die Studenten danach nicht etwa mit einer geringeren, sondern mit einer größeren Wahrscheinlichkeit bestimmte Arten von Fehlverhalten pflegen.

Um nun noch den letzten Nagel in den Sarg der Idee zu schlagen, dass Wissenschaftler Fehlverhalten verabscheuen und vermeiden, noch die klar bestätigte Tatsache, dass auch die schlimmsten Verbrecher wieder in den Schoß der Gemeinde zurückkehren können.

2008 haben Barbara Redman und Jon F. Merz , Forscher an der University of Pennsylvania, eine bemerkenswerte Arbeit veröffentlicht.Footnote 55 Sie untersuchten 43 angesehene, äußerst erfolgreiche Forscher, die für schuldig erklärt worden waren, schwerwiegende Fehlleistungen begangen zu haben wie beispielsweise die Fälschung von Ergebnissen. Über Literaturrecherchen, Telefongespräche und verbissene Detektivarbeit fanden die beiden Autoren heraus, dass viele der Delinquenten schon ein paar Jahre nach ihren Vergehen wieder vor Ort waren, mit Kollegen zusammenarbeiteten und wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichten.

Liest man den Artikel, hat man den Eindruck, dass Redman und Merz von ihren Ergebnissen irgendwie schockiert waren. Sie berichten, dass „das Bild der Konsequenzen, wie es unsere Interviews zeichnen, und das sowohl die Härte der Strafe als auch die Chance des Wiedereinstiegs zeigt, vielleicht positiver ausfällt, als es sein sollte.“

Wenn sie schockiert waren, dann nur, weil sie nicht realisiert hatten, dass die Wissenschaft in großem Maße Fehlverhalten beschönigt. Richard Smith, der frühere Herausgeber des British Medical Journal hat sich so zu dem Problem geäußert:

Die meisten Fälle werden wahrscheinlich nicht publiziert. Sie werden schlicht und einfach nicht bemerkt oder zugedeckt. Oder der schuldige Forscher ist gezwungen, einen anderen Job zu ergreifen, die Institution zu wechseln oder die Forschung aufzugeben. Ich habe vielleicht ein Dutzend Mal in allen möglichen Ländern über Fehlverhalten in der Wissenschaft gesprochen, oft auch vor Zuhörern, die aus verschiedenen Ländern kamen. Ich frage gewöhnlich die Zuhörer, wie viele Fälle von Fehlverhalten sie kennen. (Ganz bewusst gebe ich keine Definition.) Gewöhnlich hebt die Hälfte oder Zweidrittel der Zuhörer die Hand. Ich frage dann, ob all die Fälle untersucht wurden, ob Leute, wenn nötig, bestraft wurden, ob sie ihre Lektion gelernt haben und ob gefälschte Berichte korrigiert wurden. Kaum ein paar Hände gehen hoch.Footnote 56

Laut de Vries kommt es zu solchen Statistiken, weil die Wissenschaftler das „Uneindeutige an der wissenschaftlichen Forschung kennen und von den täglichen Anforderungen“ wissen, die sie stellt. Mit anderen Worten: Jeder weiß, dass das der einzige Weg ist, seinen Job zu machen.

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Wissenschaft ist der Versuch, sich selbst und andere von etwas zu überzeugen, von dem man nur vermutet, dass es wahr ist. Das ist eine schwere Aufgabe, die Hartnäckigkeit und Einfallsreichtum erfordert – und gelegentlich fragwürdige Taktiken. Größerer Betrug wie das freie Erfinden oder Kopieren von Ergebnissen wird höchstwahrscheinlich aufgedeckt, aber die Wissenschaftler wissen auch, dass die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse ihr inneres Verlangen, von dem sie angetrieben werden, kaum stillen. Daher begeht auch nur einer von dreihundert solche Taten. Die kleineren Akte von Fehlverhalten wie das Eliminieren unpassender Daten oder die Verwendung fragwürdiger Analysemethoden sind dagegen Instrumente, mit denen man irritierenden, aber unvermeidlichen Uneindeutigkeiten begegnen kann, ohne seine Ehre zu verlieren oder Selbstzweifel zu bekommen.

So lange sich alles als richtig erweist, wird denen, die auf diese Weise die Regeln umgehen, fast immer vergeben. Der Wissenschaftsautor Simon Singh, der die Vorwürfe diskutiert, Eddington habe Daten ausgesondert, gesteht Eddington zu, er habe möglicherweise „unbewusst die Fehler kleiner angegeben, als sie waren, um zu dem richtigen Ergebnis zu kommen“.Footnote 57 Singh wischt diesen Fehltritt dann aber beiseite: „Gleichgültig ob das der Fall war oder nicht: Eddingtons Ergebnis wurde als ein wunderbares Forschungsergebnis gerühmt.“ Goodstein s Verteidigung Millikan s enthält ein ähnliches Plädoyer: „Es sollte daran erinnert werden, dass die Geschichte Millikan verteidigt hat, insofern sein Ergebnis immer noch als richtig eingeschätzt wird“.Footnote 58 Die Daten des Pioniers der Vererbungslehre Gregor Mendel sind verdächtig „sauber“, worüber man aber weitgehend hinwegsah, weil sich seine Hypothesen als richtig herausgestellt haben.Footnote 59

Die Grundregeln der Wissenschaft sagen, dass es für einen Naturwissenschaftler unmöglich ist, seine Theorie ohne Experimente zu beweisen. Unglücklicherweise erweist es sich aber oft als unmöglich, brauchbare Experimente nach den anerkannten wissenschaftlichen Methoden durchzuführen. Deshalb wird bei den Ergebnissen geschummelt. Jahre, Jahrzehnte, ja Jahrhunderte später sehen wir dann ganz mit Recht in all diesen Forschern geniale Wissenschaftler, so unklar seinerzeit ihre experimentellen Methoden waren.

Wären ihre Überzeugungen und Intuitionen falsch gewesen, wären sie aus der Geschichte verschwunden. Das intuitive Verstehen und ein gutes Gefühl dafür, wie die Antwort ausfallen sollte, machen einen großen Wissenschaftler aus. Ob er seine Daten frisiert oder nicht, ist in Wirklichkeit ohne Bedeutung. Simon Westfall s Arbeit über Newton führte ihn zu der Überzeugung, dass er bewusst geschummelt hat, aber am Ende blieb Westfall doch voller Ehrfurcht: „Er wurde für mich zu einem ganz anderen, zu einem dieser Handvoll Genies, die die Kategorien des menschlichen Denkens geformt haben.“Footnote 60

Angesichts all dessen ist der Wissenschaftshistoriker Stephen J. Brush so weit gegangen zu fragen, ob seine Objekte wirklich mit Röntgenstrahlen durchleuchtet werden sollten. Der Mythos des Wissenschaftlers als rationaler, nach allen Seiten offener und methodisch vorgehender Forscher gründet sich auf die Ergebnisse kontrollierter Experimente und objektive Belege für die Wahrheit. Dieser Mythos ist sehr nützlich, denn wenn junge Wissenschaftler wirklich herausfinden, was in der Geschichte ihres Faches alles passiert ist, könnte das „den Berufsidealen und dem öffentlichen Ansehen der Wissenschaftler Schaden zufügen.“Footnote 61

Aber nein! Natürlich muss die Wahrheit gefeiert werden! Sie zu finden, ist die wahre Wissenschaft, wie sie von uns Menschen betrieben wird. Und, wie wir gesehen haben, ist es eine gute Wissenschaft. Im Verlauf der Zeit werden weitere Experimente, die auf neueren Ideen gründen und über bessere Techniken verfügen, diejenigen rechtfertigen, die ohne die volle Unterstützung durch Daten mutig genug waren, darauf zu beharren, die Wahrheit gefunden zu haben. Auf diese Weise ist der Fortschritt vorangegangen. Vielleicht ist es der einzige Weg, wie er vorangehen kann, wenn etablierte, aber falsche Theorien sich weigern, durch neue Ideen ersetzt zu werden. Indem man die zweite Flutwelle am Tag vergisst, indem man eine problematische Fotoplatte aussondert oder indem man ein stures Öltröpfchen einfach übersieht, schlägt man den Pfad zur Wahrheit schneller durch den Dschungel. Die Zukunft muss mit allen nötigen Mitteln verwirklicht werden. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, schließt das auch die Suche nach einem guten Umgang mit Situationen ein, in denen es überhaupt keine schlüssigen Beweise gibt.