FormalPara Lernziele
  • Entwicklungsstufen des moralischen Urteilens kennen.

  • Die Rolle der sozialen Perspektivübernahme für das moralische Urteilen verstehen.

  • Gerechtigkeits- und Fürsorgemoral differenzieren können.

  • Moralische Emotionen und Empathiefähigkeit beschreiben können.

  • Moralisches Handeln: Verbotsübertritte und prosoziales Verhalten gegenüberstellen können.

FormalPara Beispiel

Die 16-jährige Melanie wartet gerade vor der Umkleidekabine, in der ihre gleichaltrige Freundin Daniela ein recht teures Top anprobiert. Sie wundert sich, dass ihre Freundin beim Verlassen der Umkleidekabine bereits wieder Ihre Lederjacke trägt. Daniela lächelt sie an und öffnet dann kurz die Jacke, unter der sie das Top trägt, das sie anprobieren wollte. Und noch ehe Melanie etwas sagen kann, legt Daniela ihren Finger auf den Mund und verlässt schnellen Schrittes die Damenabteilung Richtung Ausgang. Dort hält ein Mann Melanie zurück, der sich als Kaufhausdetektiv ausweist und von ihr den Namen der jungen Frau verlangt, die soeben das Gebäude verlassen hat. »Sie wurde soeben bei einem Diebstahl beobachtet«, sagt der Mann. »Wenn Sie mir ihren Namen nicht sagen, machen Sie sich der Mittäterschaft schuldig.« Trotz der Warnung entschließt sich Melanie zu behaupten, dass sie die Frau nicht kennt und damit ihre Freundin zu decken (◘ Abb. 16.1).

◘ Abb. 16.1
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Diebstahl in der Umkleidekabine

Würden Sie sagen, dass Melanie in dieser Situation richtig gehandelt hat? Und wenn ja, wie würden Sie Ihre Entscheidung für oder gegen ihr Handeln begründen?

Anhand der Reaktionen auf diese und ähnliche – mitunter auch brisantere – Geschichten versuchen Psychologen zu ergründen, welche Kriterien Menschen bei der Beurteilung des Verhaltens zugrunde legen und damit, welches Verständnis Menschen von moralischen Prinzipien haben. Das Kernstück von moralischen Dilemmata besteht in dem Konflikt mehrerer Bedürfnisse oder Verpflichtungen, die miteinander in Konkurrenz treten, vorausgesetzt, sie werden vom Urteiler wahrgenommen.

In dem obigen Beispiel mögen Sie als Urteiler durchaus das Bedürfnis Melanies nachvollziehen, nicht für ein fremd verschuldetes Vergehen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Demgegenüber mag aber auch die Loyalität zu der guten Freundin eine wichtige Rolle spielen, mit der Melanie vielleicht »ein ernstes Wörtchen reden« wird, die sie aber nicht an den Kaufhausdetektiv verraten möchte. Sie könnten aber auch eine gesellschaftliche Perspektive einnehmen und argumentieren, dass ein Zusammenleben vieler Menschen nur dann funktioniert, wenn gewisse Rechte und Pflichten eines jeden geachtet werden. Beispielsweise könnten Sie in Ihr Urteil mit einbeziehen, dass Angestellte des Kaufhauses in Folge von gehäuften Diebstählen und damit schlechten Umsätzen ihre Stelle verlieren könnten.

1 Moralische Kognitionen

Die eben beschriebene Methode entstammt einer Forschungsrichtung, die die Rolle moralischer Kognitionen in den Vordergrund stellt. Einer ihrer wichtigsten, gleichzeitig aber auch umstrittensten Vertreter ist Lawrence Kohlberg (1927–1987). Man mag seinen Kritikern durchaus zustimmen und bezweifeln, dass sich Moral in dieser Form abbilden lässt oder dass andere Faktoren als die Kognitionen eine weitaus bedeutsamere Rolle spielen. Weiterhin kann man begründete Zweifel daran hegen, dass individuelle Unterschiede im moralischen Urteil mit Unterschieden im moralischen Handeln in Verbindung stehen (was Kohlberg von Beginn an zu belegen beabsichtigte). Obwohl einige Grundannahmen seines Stufenmodells des moralischen Urteils bis heute einer empirischen Prüfung nicht oder kaum standgehalten haben, muss das Modell als ein fundamentales Kernstück der Entwicklungspsychologieangesehen werden. Dies gilt nicht zuletzt auch deshalb, weil es den wissenschaftlichen Streit entfachte und eine Vielzahl von Forschern nach ihm dazu veranlasste, Alternativmodelle zu entwickeln und diese empirisch abzusichern.

1.1 Moralisches Denken des Kindes aus Sicht Jean Piagets

Die Konzeption Kohlbergs zur Entwicklung des moralischen Urteils kann als eine Erweiterung der Arbeiten von Jean Piaget (1990/1932) angesehen werden. Dieser hatte sich bereits zuvor mit der Entwicklung des moralischen Denkens auseinandergesetzt. Aufgrund der Beobachtung von Kindern beim Murmelspiel entdeckte er, dass die Frage der Gerechtigkeit und der Beachtung und Bewusstheit von Regeln einen deutlichen Bezug zum Lebensalter der Kinder aufweist.

Er stellte in seinen Beobachtungen fest, dass jüngere Kinder in hohem Maße die Einhaltung von Regeln und damit ein gerechtes Spielen an Kriterien festmachten, die durch Autoritäten vorgegebenwaren. Vor allem das Handeln anderer Kinder müsse sich aus Sicht der Kinder an den Vorgaben von Eltern oder Erziehern orientieren. Die aufgestellten Regeln seien in den Augen der Kinder heilig und unantastbar und die Nichteinhaltung dieser Regeln müsse Konsequenzen nach sich ziehen. Dieses Stadium, welches Kinder aus Piagets Beobachtungen heraus erst mit etwa 7–8 Jahren allmählich überwinden, nannte er das Stadium der heteronomen Moral .

Aus seiner Sicht begünstigen nun zwei entscheidende Faktoren den Übergang des kindlichen Denkens in eine Zwischenphase (zwischen dem 7. und 12. Lebensjahr): Die kognitive Reifung und die Veränderung des sozialen Umfeldes des Kindes. In zunehmendem Maße wird nämlich der Alltag des Kindes durch das Zusammensein mit Gleichaltrigen beeinflusst. Dieses Zusammensein wird nun vor allem durch Regeln organisiert, die nicht mehr als unumstößlich angesehen werden, sondern in Übereinkunft mit anderen, gleichberechtigten Gleichaltrigen entstehen und daher auch modifiziert werden können.

Den Erfahrungen, die die Kinder in dieser Zeit machen, schreibt Piaget eine bedeutsame Rolle beim Übergang in das Stadium der autonomen Moral zu, in welchem sich die angesprochene Wandlung des Verständnisses von Regeln und Gerechtigkeit mit etwa 11–12 Jahren weitgehend gefestigt hat. Nachfolgende Studien lieferten jedoch Hinweise darauf, dass der Umgang mit Gleichaltrigen nicht den Stellenwert hat, den Piaget ihm einräumte. Beispielsweise zeigte sich, dass sich ein geringer Altersabstand zwischen Geschwisterkindern eher nachteilig auf die kognitive und sozialmoralische Entwicklung eines Kindes auswirkt (Schmid & Keller, 1998). Ältere Geschwister mit einem größeren Altersabstand könnten demgegenüber besser in der Lage sein, die Interaktionen mit den jüngeren Kindern zu strukturieren und den Transfer von sozialen Fähigkeiten zu leisten (Vygotsky, 1978) als Gleichaltrige.

Neben den Beobachtungen des kindlichen Spiels nutzte Piaget eine Methode, die Kohlberg sich in seinen Arbeiten in veränderter Form ebenfalls zunutze machte. Piaget konfrontierte in seinen Interviews Kinder verschiedenen Alters mit Geschichten, in denen die handelnde Person einen Schaden anrichtet, und fragte sie anschließend nach der Schwere des Vergehens. Er variierte in diesen Geschichten zwei Aspekte, von denen angenommen wird, dass sie in Abhängigkeit vom Alter bzw. vom Entwicklungsstand betrachtet werden müssen: Die Absicht der handelnden Person und das Ausmaß des entstandenen Schadens.

Beispielsweise betritt John einen Raum, in dem sich gerade hinter der Tür eine große Menge Gläser befindet. Durch das Öffnen der Tür stößt John diese Gläser um und richtet so ohne Absicht einen größeren Schaden an. In einer weiteren Geschichte steigt Henry auf einen Stuhl, mit der Absicht, verbotenerweise an eine Schale mit Süßigkeiten zu gelangen, die die Mutter bewusst an diesem Ort verwahrt. Dabei rutscht dem Kind nun die Schale aus den Fingern, fällt zu Boden und zerbricht. Der offensichtliche Unterschied zwischen beiden Geschichten (hoher versus geringer Schaden bzw. fehlende versus vorhandene Intention) führt aus Sicht Piagets dazu, dass Kinder im Stadium der heteronomen Moraldie beiden Aspekte anders gewichten als ältere Kinder: Jüngere Kinder argumentieren, dass das Ausmaß des Schadens das Handeln von John schlimmer (also unmoralisch) macht, während Kinder im Stadium der autonomen Moral eher Henrys negativ zu bewertende Absicht als Kriterium heranziehen und dem von John angerichteten größeren Schaden weniger Bedeutung beimessen.

Aus späteren Studien gibt es jedoch Hinweise auf ein methodisches Problem, welches zumindest teilweise für die Unterschiede zwischen den Kinderurteilen ursächlich sein kann: Jüngere Kinder mögen sich in ihrem Urteil deshalb nicht an der Absicht der handelnden Personen orientieren, weil dieser Aspekt in den verbalen Situationsbeschreibungen nicht offensichtlich genug ist. Chandler, Greenspan und Barenboim (1973) nutzten in ihrer Studie dagegen Filme, in denen die Akteure zu sehen waren, und konnten auf diese Weise den durch Piaget aufgezeigten Unterschied zwischen den Urteilen von Kindern verschiedenen Alters aufheben.

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1.2 Erweiterung des Ansatzes Piagets durch Lawrence Kohlberg

Während im Modell von Piaget mit dem Erreichen des Stadiums der autonomen Moral der Endpunkt der Entwicklung des moralischen Denkens erreicht ist, konzipiert Kohlberg (1969) die Entwicklung als ein lebenslanges Geschehen. Damit eröffnet er einen Blick auf das moralische Denken des Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg.

Zur Erfassung des moralischen Urteils entwickelte er, wie bereits erwähnt, Dilemmata , also Geschichten, in denen die Akteure in einen inneren Konflikt unterschiedlicher Interessen und Verpflichtungen geraten und sich für eine von mehreren Handlungsmöglichkeiten entscheiden müssen. Die Urteiler, also die Personen, deren moralischer Entwicklungsstand ermittelt werden soll, werden gebeten, über das Handeln zu urteilen und dieses zu begründen. Grundlage für die Ermittlung des individuellen Entwicklungsstandes stellen nun nicht die Urteile selbst, sondern die Begründungen dar.

Es wird sicherlich deutlich, dass sich Kohlbergs Methodik (▶ Video »Interviews zum ‚Heinz-Dilemma‘«) an der Methode Piagets anlehnt, dass aber in den Geschichten vor allem die Komplexität der möglichen Perspektiven erhöht ist, die eine Person für ihr Urteil berücksichtigen kann. Das Konzept und die Idee der Entwicklung der sozialen Perspektivübernahme (▶ Kap. 15) integrierte Kohlberg in Anlehnung an Selman (beispielsweise Selman, 1980) als zentrale Entwicklungsdeterminante in sein Stufenmodell des moralischen Urteils (◘ Tab. 16.1). Das Modell unterscheidet auf der ersten Ebene 3 Stadien des moralischen Urteils, die sich auf der zweiten Ebene jeweils aus 2 aufeinander aufbauenden Stufen zusammensetzen. Mit zunehmender Höhe der Stufen ist die Perspektive immer weniger egozentrisch und das Individuum sieht sich immer mehr in der Lage, andere Perspektiven einzunehmen, die eigene als eine unter vielen zu berücksichtigen und die einzelnen Perspektiven mit einer kollektiven Perspektive zu vergleichen.

◘ Tab. 16.1 Stufenmodell des moralischen Urteils nach Lawrence Kohlberg
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Im präkonventionellen Stadium ist das Denken selbstbezogen, die Perspektive egozentrisch und das Kind konzentriert sich darauf, Belohnung zu bekommen, eigene Bedürfnisse zu befriedigen und Strafe zu vermeiden oder den eigenen Nutzen zu maximieren. Im mittleren, dem konventionellen Stadium, orientiert sich das Kind bei seinem Urteil an gesellschaftlichen Konventionen, die sich im Wesentlichen auf geltende Erwartungen an das Zusammenleben in sozialen Systemen beziehen und somit das funktionierende Zusammenleben in Gruppen ermöglichen. Das Denken ist also an sozialen Beziehungen orientiert und das Kind ist zunehmend in der Lage eine Gruppenperspektive einzunehmen. Am anderen Ende des Spektrums, im postkonventionellen Stadium , berücksichtigt das Individuum zwar die gesellschaftlichen Konventionen für eine Entscheidungsfindung, orientiert sich aber nicht mehr an diesen. Vielmehr haben Personen in diesem Stadium (eigene) Prinzipien im Sinne von eigenen Idealen oder universellen, ethischen Prinzipien entwickelt, denen sie die bestehenden gesellschaftlichen Konventionen unterordnen (können).

Innerhalb der einzelnen Stadien findet – wie bereits erwähnt – eine Differenzierung von jeweils 2 Stufen der moralischen Entwicklung statt. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Stufen (vor allem innerhalb eines Stadiums) lassen sich besonders gut an beispielhaften Antworten auf das Heinz-Dilemma verdeutlichen.

Beispiel

  • Claudia: »Wenn Heinz das Medikament stiehlt, muss er ins Gefängnis.« (Garz, 1989, S. 157)

  • Andreas: »Ich fände es besser, wenn er das Medikament stiehlt. Wenn er es nicht tut, hat er niemanden mehr, der ihm das Essen kochen kann.« (Garz, 1989, S. 157)

Die Argumente beider Kinder lassen sich dem präkonventionellen Stadium zuordnen. Gemeinsam ist beiden, dass sie das moralische Dilemma aus einer selbstbezogenen und egozentrischen Perspektive betrachten. Dennoch bezieht Claudia (Stufe 1) in ihre Überlegung nur die Ordnung und Strafe durch Autoritäten als unmittelbare Konsequenz für die eigene Person ein. Andreas (Stufe 2) hingegen sieht vorrangig das eigene Bedürfnis und den eigenen Nutzen. Er sieht Heinz’ Bedürfnis, durch die Frau versorgt zu werden, und argumentiert so nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip.

Beispiel

  • Uta: »Wenn man sich in einer Partnerschaft gegenseitig hilft, dann wird es irgendwie besser auf der Welt. Seine Frau ist ihm nicht egal …« (Garz, 1989, S. 158)

  • Dennis: »Alles sollte getan werden, um dem Gesetz zu folgen. Er hätte es nicht tun sollen. Man kann das Gesetz nicht für bestimmte Menschen brechen, egal, was anliegt.« (Garz, 1989, S. 159)

In diesen Antworten spiegelt sich der Argumentationsstil des konventionellen Stadiums wider. Gemeinsam ist beiden, dass Erwartungen an ein Zusammenleben in Gruppen wahrgenommen und für die eigene Entscheidung berücksichtigt werden. Die Überlegungen von Uta (Stufe 3) beziehen die wahrgenommenen Erwartungen und Bedürfnisse der beteiligten Personen ein, wobei das unmittelbare soziale Umfeld – also die Familie oder die Freunde – den Bezugspunkt bildet. Sie orientiert sich vor allem an den in Beziehungen zu berücksichtigenden Konventionen, wie Vertrauen, Respekt und Dankbarkeit. Dennis löst sich dagegen von der Paarbeziehung als Bezugspunkt und bezieht seine Begründung auf ein umfassendes, soziales System. Es geht ihm um den Erhalt des sozialen Systems und damit um die gesellschaftlichen Konventionen.

Beispiel

  • Willi: »Es gibt Ausnahmen. Es geht hier um ein existenzielles Problem. Man versucht, von außen beide Rollen noch mal zu überschauen und daraus zu einer gültigen Antwort zu kommen.« (Garz, 1989, S.160)

  • Jim: »Ein Menschenleben hat Vorrang vor jedem anderen moralischen oder rechtlichen Wert. Ein Menschenleben ist ein Wert an sich.« (Kohlberg, 1995, S. 56)

Das postkonventionelle Stadium , welchem beide Antworten zuzurechnen sind, ist dadurch gekennzeichnet, dass Konventionen, also rechtlich-soziale Verpflichtungen durchaus anerkannt, gleichzeitig aber auch in Frage gestellt werden können. Willi (Stufe 5) sieht, dass auch der Apotheker ein individuelles Recht auf Eigentum besitzt und Heinz die rechtliche Verpflichtung hat, dieses zu respektieren. Gleichzeitig jedoch hat Heinz eben auch die moralische Verpflichtung, das Leben seiner Frau zu retten. Gesetz und Moral liegen dabei auf der gleichen Ebene. Der entscheidende Unterschied zu der Argumentation von Jim (Stufe 6) ist in der Orientierung an universellen ethischen Prinzipien zu sehen, die den moralischen und rechtlichen Verpflichtungen vorgelagert sind.

1.3 Kritische Stimmen und Alternativmodelle

Als klassisches Stufenmodell geht Kohlbergs Modell davon aus, dass bei der Entwicklung keine der Stufen übersprungen werden kann und dass nach dem Erreichen einer Stufe kein Rückschritt auf eine frühere Stufe erfolgt, was unter dem Begriff der Stufeninvarianz zusammengefasst werden kann. Darüber hinaus nimmt Kohlberg an, dass das Gesamtmodell eine kulturübergreifende, universale Gültigkeit besitzt. Allein diese Annahmen riefen die Kritiker des Modells auf den Plan.

Eine fundamentale Kritik ergibt sich aus den Befunden der kulturvergleichenden Moralforschung (Eckensberger & Zimba, 1997; Keller, 2007). Diese weisen konsistent darauf hin, dass Personen aus asiatischen gegenüber westlichen Kulturen in ihren Urteilen stärker die Interessen anderer berücksichtigen und von daher eine stärkere Orientierung an dem Prinzip der Fürsorge (s. unten) aufweisen. Darüber hinaus betont das normativ geprägte Verständnis von Beziehung in asiatischen Kulturen auch eine lebenslange hierarchische Struktur der Eltern-Kind-Beziehung , die demgegenüber in westlichen Kulturen spätestens ab der Adoleszenz durch Symmetrie gekennzeichnet ist. Diese Kontextabhängigkeit führt dazu, dass Probanden asiatischer gegenüber westlicher Kulturen häufig die Stufe 3 des konventionellen Stadiums nicht überwinden. Das Moralitätskonzept von Kohlberg ist offenbar wesentlich von westlichen Normen geprägt, womit die Universalitätshypothese in Frage zu stellen ist. Abweichende moralische Vorstellungen werden in dem Auswertungssystem von Kohlberg dementsprechend nicht adäquat berücksichtigt.

Die Arbeitsgruppe um Kohlberg begann, das Modell wiederholt zu modifizieren. So wurde in späteren, revidierten Fassungen die 6. Stufe aufgegeben (da sie selten bis nie erreicht wurde) und eine Stufe zwischen den beiden letzten Stadien hinzugefügt. Diese Stufe 4,5 sollte das Problem eines immer wieder beobachteten, scheinbaren Rückschritts im Übergang zwischen dem konventionellen und postkonventionellen Stadium abfangen.

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Eine »andere Stimme« gehörte Carol Gilligan (1982, mit einem Buch gleichen Titels). Sie war Mitarbeiterin Kohlbergs in seiner Zeit als Professor der Erziehungswissenschaften in Harvard und begann Mitte der 1970er Jahre ihre Einwände gegen Kohlbergs Modell zu formulieren. Ihr Hauptkritikpunkt war, dass in dem Modell nur eine, nämlich eine maskuline Form des moralischen Denkens konzipiert sei und eine weibliche Form der Moralität gänzlich unberücksichtigt geblieben sei. Auch die empirischen Befunde zur Untermauerung der theoretischen Ausführungen, beispielsweise auch die bereits erwähnte Längsschnittstudie, basieren nahezu vollständig auf Stichproben, die ausschließlich männliche Probanden enthielten. Das weibliche moralische Denken sei dementsprechend, so Gilligan, nicht anhand von Kohlbergs Gerechtigkeitsmoral, den entwickelten Dilemmata und dem Auswertungssystem zu erfassen.

Definition

Ein auf Gerechtigkeitsmoral basierendes Urteil greift auf die Prinzipien von Recht, Vernunft und Pflicht zurück und versteht als höchste Entwicklungsstufe die Autonomie des Urteils, d. h. die Unabhängigkeit der Entscheidung von gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen.

Konsequenterweise begann Gilligan nicht nur die Entwicklung von eigenen moralischen Dilemmata, sondern konzipierte ein alternatives Stufenmodell der Entwicklung einer weiblichen Fürsorgemoral.

Definition

Ein Urteil, welches sich an den Prinzipien von Mitmenschlichkeit, Kontextsensibilität und Verantwortung orientiert, folgt einer Fürsorgemoral . Als deren höchste Entwicklungsstufe gilt es, für sich selbst und andere Verantwortung zu übernehmen und dementsprechend zu handeln, um Schaden abzuwenden.

Ihr Entwicklungsmodell unterscheidet ebenso wie das Modell Kohlbergs 3 Stadien. Ausgehend von einer Orientierung am individuellen Überleben und einer Sorge um die Selbsterhaltung werden zunehmend soziale Werte und gemeinsame Normen übernommen, um letztlich zu einer Moral der Gewaltlosigkeit zu gelangen, in der Probanden Rücksichtnahme als Grundprinzip beschreiben. Die zentrale Annahme Gilligans besteht darin, dass Männer und Frauen aufgrund ihrer unterschiedlichen Sozialisation eher dazu neigen, sich von Recht und Gerechtigkeit bzw. von Fürsorge als grundlegende Prinzipien leiten zu lassen.

In Metaanalysen (z. B. Walker, 1984, 1995) wurden inzwischen mehr als 130 Studien mit insgesamt mehr als 20.000 Untersuchungsteilnehmern gesichtet und analysiert. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in den meisten Studien keine Geschlechtsunterschiede erkennbar waren oder die Geschlechtsunterschiede verschwanden, wenn andere Einflussgrößen (wie beispielsweise das Bildungsniveau) berücksichtigt wurden. Demgegenüber existiert eine Reihe von Befunden, die nahelegen, dass die Unterschiede in der moralischen Orientierung von Frauen ( aber auch von Männern ) in bedeutsamem Maße von der Konfliktsituation (also auch dem moralischen Dilemma) abhängen, mit dem sie sich konfrontiert sehen (Jaffee & Hyde, 2000; Teo, Becker & Edelstein, 1995). Ganz offensichtlich gibt es also Faktoren, die eher in der Lage sind, moralische Orientierungen zu erklären, als das biologische Geschlecht.

Diese Kontextabhängigkeit des Urteils lässt sich auch auf die Frage übertragen, ob bestimmte Situationen von Personen gar nicht als ein moralischer Konflikt wahrgenommen werden, sondern eher auf Konventionen oder gar persönliche Bereiche bezogen sind. Elliot Turiel (1998) geht davon aus, dass Kinder recht früh lernen, zwischen moralischen Verfehlungen und Verstößen gegen gesellschaftliche Normen (Konventionen) zu unterscheiden. Dementsprechend erachten bereits Kinder im Kindergartenalter in der Regel das Beschädigen eines fremden Spielzeugs oder das Schlagen eines Kindes auch dann als falsch, wenn dies nicht explizit durch eine Autorität verboten worden ist. Jedoch legen sie bei der Beurteilung einer Situation, in der sich ein Junge beispielsweise nicht für ein Geschenk bedankt, keine moralischen Kriterien an, sondern greifen auf soziale Konventionen zurück. Sozial-konventionelle Urteile dienen, im Gegensatz zu moralischen Urteilen, der Regulation sozialer Interaktionen. Sie haben aber dennoch einen stärker verpflichtenden Charakter als persönliche Urteile, die eher individuelle Präferenzen zum Ausdruck bringen. Turiel unterscheidet also zwischen moralischen, sozial-konventionellen und persönlichen Urteilen. Auf der Grundlage der Theorie von Turiel kann man somit zumindest davon ausgehen, dass Kinder bereits früh die Geltung von Normen und Regeln kennen, sich also grundlegendes moralisches Wissen aneignen, welches – im Gegensatz zu den Annahmen Piagets und Kohlbergs – autoritäts- und strafunabhängig ist.

Jüngere Arbeiten (Horn, 2003; Killen, Lee-Kim, McGlothin & Stangor, 2002), die Kinder und Jugendliche mit Situationen konfrontieren, die Aspekte aller drei Urteilsbereiche (moralisch, sozial-konventionell und persönlich) vereinen (beispielsweise Situationen, in denen der Ausschluss eines Kindes aus der Peer-Gruppe thematisiert wird), legen die Vermutung nahe, dass die resultierenden Urteile interessante Zusammenhänge zu anderen Variablen (wie Aggressivität ) zeigen. Arsenio und Lemerise (2004) gehen beispielsweise davon aus, dass aggressiv agierende Kinder, die einem feindseligen Attributionsfehler (▶ Kap. 15) unterliegen, dazu tendieren, den Ausschluss aus einer Peer-Gruppe als eine persönliche Abneigung (z. B. »Sie mögen mich nicht!«) und nicht auf der Ebene sozialer Konventionen zu betrachten (z. B. »Möglicherweise ist nicht genug Platz für alle und sie lassen mich später mitmachen.«).

Kohlberg hatte schon früh begonnen, den Zusammenhang zwischen seiner theoretischen Konzeption und dem moralischen Handeln zu beleuchten. Ihm ging es dabei vor allem darum, sein Modell für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen fruchtbar zu machen und es nicht als theoretische Arbeit ohne praktischen Nutzen bestehen zu lassen. Hierzu arbeitete er gemeinsam mit Moshee Blatt an dem Konzept der »gerechten Gemeinschaft« (»just community«). Das Ziel war nicht geringer als der Aufbau bzw. die Umstrukturierung von Schulgemeinschaften, die sich in sämtlichen Belangen an einem demokratischen Verständnis des Zusammenlebens orientieren. Als ein wesentliches Kernstück wurden in der Arbeitsgruppe Dilemmatadiskussionen entworfen und in den Klassen durchgeführt, um die Entwicklung des moralischen Denkens und Handelns der Schüler zu fördern. Die Grundidee war dabei, die Teilnehmer mit Argumenten zu konfrontieren, die in etwa eine Stufe über der eigenen Stufe des moralischen Urteils anzusiedeln sind. Durch die Reflexion dieser Argumente sollten die Teilnehmer dazu gebracht werden, ihr eigenes moralisches Urteilen weiterzuentwickeln. Die Ergebnisse dieser Projekte konnten in der Tat belegen, dass eine Förderung des moralischen Urteils gelingen kann.

Ernüchternder erwiesen sich jedoch die Befunde bezüglich des Zusammenhangs zum moralischen Handeln der Teilnehmer. Blasi (1980) berichtet, dass sich allenfalls mäßig hohe Zusammenhänge aufzeigen lassen. Möglicherweise bedarf es mehr als einer Änderung des moralischen Denkens und Wissens, um das menschliche Handeln in bedeutsamer Weise zu modifizieren. Einen wichtigen Hinweis auf Aspekte, denen diesbezüglich eine große Bedeutung zukommen könnte und die in der kognitivistischen Tradition vernachlässigt worden sind, geben die Arbeiten zu moralischen Emotionen.

2 Moralische Emotionen

Beispiel

Karsten hilft Daniela bei ihren Hausaufgaben, woraufhin Daniela verspricht, ihn dafür ins Kino einzuladen. Als die beiden dann vor dem Kino stehen, bemerkt Daniela, dass sie nicht genügend Geld für zwei Kinokarten dabei hat und deswegen ihr Versprechen nicht einhalten kann. Was meinen Sie, wie sich die beiden nun fühlen? Ist Karsten wütend auf Daniela, ist er enttäuscht oder ist es ihm egal? Und welche Gefühle entstehen bei Daniela? Ist es ihr peinlich, findet sie es nicht so schlimm oder ist sie am Ende sogar froh, dass sie sich dadurch Geld gespart hat?

Die Situationsbeschreibung (◘ Abb. 16.2) stammt aus einem Fragebogen , der die Empathiefähigkeit von Kindern und Jugendlichen erfassen soll (Diermeier & Grübl, 2004), die besonders ausgeprägt sein soll, wenn Kinder angeben, dass Karsten enttäuscht und es Daniela peinlich ist. Mit diesen Angaben zeigen Kinder, dass sie in der Lage sind, eine ähnliche Gefühlslage herzustellen, wie sie Karsten bzw. Daniela erleben, und somit eine stellvertretende emotionale Reaktion (Hoffman, 1991) zu zeigen. Martin Hoffman betont in seiner 1975 erstmals veröffentlichten Empathietheorie die Rolle emotionaler Prozesse für die Moralentwicklung und explizit für die Motivierung prosozialen Handelns. Damit verdrängt er das von Kohlberg fokussierte moralische Urteil als wesentliche Grundlage für moralisches Handeln und ersetzt es durch einen moralischen Motivationsbegriff.

◘ Abb. 16.2
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Vor dem Kino

Definition

Empathie ist die Fähigkeit, eine eigene emotionale Reaktion herzustellen, die der Gefühlslage einer anderen Person ähnelt.

2.1 Affektive Ansätze vor der kognitiven Wende

Obwohl der Einstieg in das Kapitel »Moral« mit den kognitivistischen Modellen Piagets und Kohlbergs erfolgte, entsprechen diese – historisch gesehen – Entwürfen einer radikalen Gegenposition: Bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein standen Emotionen (und nicht Kognitionen) im Zentrum der theoretischen Konzeptionen zur Moralentwicklung. Die beiden Theorien, die sich ursprünglich mit Affekten im Zusammenhang mit Moral befassten, waren die Psychoanalyse und die Lerntheorie (▶ Kap. 2). An dieser Stelle soll die Position dieser beiden Theorien bezüglich der Moralentwicklung erläutert werden.

2.1.1 Die Position der psychoanalytischen Theorie Freuds

Freud geht bei der Entwicklung einer Moralität oder eines Gewissens von einem kindlichen Wesen aus, das ganz durch die Orientierung an den eigenen Bedürfnissen getrieben ist. Den Eltern kommt nun nach Freud nicht nur die Aufgabe zu, für eine entsprechende Triebreduktion durch Befriedigung von Schlaf-, Nahrungs- oder Zuwendungsbedürfnissen zu sorgen, sondern gleichzeitig durch Bestrafung die kindliche Sozialisation im Sinne einer Beherrschung der Bedürfnisse zu übernehmen. Es ist nicht schwer vorstellbar, dass dies zu Ärger und Frustration beim Kind führt und dass dies wiederum mit der bis dato uneingeschränkten Liebe zur Mutter in Konflikt gerät. Aus diesem Konflikt resultiert die Angst des Kindes vor dem Verlust der elterlichen Liebe, welche es durch die Übernahme der elterlichen Normen und Werte abwehrt (wobei dieser Prozess im Ödipus- bzw. Elektra-Konflikt seinen Höhepunkt erreicht). Durch die Übernahme der elterlichen Normen und Werte verlagert sich die elterliche Sozialisationsinstanz nach innen, um fortan als »Über-Ich « immer dann mit dem Erleben von Schuld und Scham zu reagieren, wenn das Kind die elterlichen Normen übertreten will oder übertreten hat. Die Verletzung von Normen wird also fortan mit negativen Emotionen verknüpft.

2.1.2 Die Position der Lerntheorie

Die fundamentale Bedeutung von Emotionen für die Moralentwicklung, wie sie die psychoanalytische Position beschreibt, findet sich auch in der lerntheoretischen Moralforschung wieder. Auch aus lerntheoretischer Sicht beginnt der Gewissensaufbau dadurch, dass Kinder für das Übertreten von Verboten bestraft werden. Bei wiederholter Bestrafung resultiert eine konditionierte Angstreaktion. Eine Internalisierung von Normen und Werten basiert also aus Sicht der Lerntheoretiker auf der Vermeidung der unerwünschten Verhaltensweisen und der als aversiv erlebten emotionalen Zustände. Schuld und Scham sind in dieser Konzeption das Ergebnis von Sanktionen.

Bei Kenntnis der eingangs behandelten kognitivistischen Modelle zeigt sich, dass die psychoanalytische wie auch die lerntheoretische Position keinen Raum für ein aktives Selbst lässt und weder Denken noch Vernunft eine entscheidende Rolle spielen. Emotionen wird zwar in beiden Konzepten eine prominente Rolle zugewiesen, jedoch beschränkt sich ihre Funktion auf die Unterstützung der Internalisierung von externen (durch die Bezugspersonen gesetzten) moralischen Werten.

2.2 Affektive Ansätze nach der kognitiven Wende

Die Empathietheorie (Hoffman, 1991) stellt zwar explizit die affektive als die zentrale moralische Komponente heraus. Aber sie betont ebenso, dass erst das Zusammenspiel zwischen der Entwicklung empathischer Affekte und der Fähigkeit zur Perspektivübernahme , wie sie von Selman (1980) beschrieben worden und für Kohlbergs kognitives Modell zentral geworden ist, zu einer moralischen, d. h. zu einer Empathieentwicklung führt. Die Empathietheorie versucht dementsprechend eine Integration von affektiven und kognitiven Komponenten der Moral.

Die Entwicklung, die sich in dem Stufenmodell (◘ Tab. 16.3) widerspiegelt, ist also das Ergebnis einer Interaktion zwischen empathischen Erregungen und kognitiven Leistungen. Manche der empathischen Erregungen setzen nur geringe kognitive Leistungen voraus, wie z. B. Mimikry, also das rudimentäre Imitieren der Mimik des Leidenden, um ähnliche innere Schlüsselreize zu generieren. Hoffman betont, dass die kognitiven Fähigkeiten zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für ein moralisches Handeln sind. Die Klärung der Frage nach der moralischen Motivation ist nämlich der Kerngedanke des Modells. Für Hoffman führt erst die affektive Komponente dazu, dass das Wohlergehen anderer bedeutsam und handlungsleitend wird. Dies geschieht erstmals und in Ansätzen bei dem Übergang von der globalen zur egozentrischen Empathie. Die psychologische Trennung zwischen sich selbst und anderen ermöglicht dem Kind nun über das Einfühlen in das Leid des anderen hinaus zu erkennen, dass das Leiden durch eigenes Handeln beendet oder gemildert werden kann. Die entscheidende Veränderung zwischen den beiden Stufen ist somit im Verhaltensanreiz zu sehen: Während jüngere Kinder die Beendigung des eigenen Leidens (empathisches Stresserleben) zum Handeln motiviert, geht Hoffman davon aus, dass Kinder zunehmend handeln, um das nachempfundene Leiden eines anderen (sympathisches Stresserleben ) zu beenden.

◘ Tab. 16.3 Entwicklung der Empathie nach Martin Hoffman

Auch den in den psychoanalytischen und lerntheoretischen Konzeptionen zentralen Emotionen Schuld und Scham gesteht Hoffman in seiner Empathietheorie eine zentrale Bedeutung zu. Beide sind auf das Selbst gerichtete Gefühle, die dann entstehen, wenn sich die Person zumindest in einem gewissen Maße selbst für das Leiden eines anderen verantwortlich fühlt. Darüber hinaus betont er aber auch die Rolle von positiven Emotionen , wie Stolz oder Zufriedenheit, die den Akteur in seinem (moralischen) Handeln bestärken sollen.

Hoffmans Empathietheorie stellt keinen expliziten Gegenentwurf zu Kohlbergs kognitiver Theorie dar. Vielmehr erweitert sie den Blick auf die moralische Entwicklung um emotionale Prozesse, die von den Vertretern der kognitiven Seite vernachlässigt worden sind. Eine Vielzahl von Studien konnte zeigen, dass empathisches Erleben einen beachtlichen Zusammenhang zu prosozialem Verhalten aufweist (Batson, Ahmad, Lishner & Tsang, 2005).

3 Moralisches Handeln

Die Erforschung prosozialen Verhaltens im Sinne des Helfens oder Teilens ist erst zu Beginn der 1970er Jahre in den Fokus gerückt. Diese Ansätze, wie die soeben beschriebene Empathietheorie, betonen die aktive Rolle eines mit sozialen Kompetenzen ausgestatteten Individuums bei der Erarbeitung von und der freiwilligen Selbstbindung an moralische Prinzipien. Vor diesem Zeitpunkt konzentrierte sich die vorwiegend lerntheoretisch orientierte Forschung auf den Aspekt der Unterdrückung verbotenen Verhaltens. Grundsätzlich aber wird moralisches Handeln definiert als ein Verhalten, das an die Normen und Gesetze angepasst ist, die von der Gesellschaft (bzw. deren Vertretern wie Eltern, Erzieher, Lehrer) als moralisch klassifiziert werden.

3.1 Die negative Perspektive: Das Unterdrücken verbotenen Verhaltens

Aus lerntheoretischer Sicht sind die Rollen moralischer Kognitionen oder empathischen Erlebens zweitrangig. Für den Erhalt eines sozialen Systems, so argumentieren Vertreter dieser Perspektive, ist es weniger von Bedeutung, dass ein Individuum die Normen und Werte einer Gesellschaft kennt (und dementsprechend urteilt), sondern inwieweit das eigene Handeln an diesen ausgerichtet wird. Dem Auftreten von Schuld- und Schamgefühlen wird in diesem Rahmen zwar eine wichtige Rolle bei der Einhaltung von Verboten eingeräumt. Sie sind jedoch lediglich das Produkt eines Lernprozesses, der durch Belohnung und Bestrafung , durch Lob und Tadel sowie durch Nachahmung bedeutsamer Modelle gekennzeichnet ist. Diese Internalisierung von Normen äußert sich und wird damit beobachtbar in Situationen, in denen Individuen Verbote einhalten, ohne dass ein Außenstehender die Einhaltung überwacht, und in denen die Gefahr einer Entdeckung und Bestrafung gering ist.

Man mag vermuten, dass sich anhand von experimentellen Designs wie dem »Ray-Gun-Paradigma« eine gewisse Konsistenz von Regelverstößen zeigen lässt und damit der Hinweis auf ein Gewissen im Sinne eines Aspekts der Persönlichkeit erbracht werden kann. Jedoch kann man wohl als das wichtigste Ergebnis der zahlreichen Studien festhalten, dass eine Reihe von situativen Variablen (wie z. B. die subjektive Bedeutsamkeit der Situation, die Verführung durch andere oder das Ausmaß des Konformitätsdrucks) eine weitaus bedeutsamere Rolle spielt als das Gewissen im Sinne eines stabilen Persönlichkeitsmerkmals.

Darüber hinaus stellte sich die zentrale Frage nach der Bedeutsamkeit von Bestrafung, da dieser als zentral postulierte Lernmechanismus (Angstvermeidung) das Auftreten von Regelverstößen verringern sollte. Auf der Grundlage bisheriger Studien kann man diesbezüglich festhalten, dass sich milde Bestrafungen als effektiver erwiesen als intensive Bestrafungen und dass sich in Kombination mit einer milden Bestrafung insbesondere die Angabe von Gründen für eine Bestrafung als bedeutsamste Einflussgröße zeigte.

3.2 Die positive Perspektive: Das Äußern prosozialen Verhaltens

Prosoziales Verhalten ist definiert als ein Verhalten, welches für Mitmenschen gezeigt wird oder sich an dem Wohlergehen der Mitmenschen orientiert. Es ist inzwischen vielfach belegt, dass Kinder bereits mit 24 Monaten tröstendes Verhalten zeigen, Süßigkeiten oder Spielsachen mit anderen Kindern teilen oder diese ablenken oder zu schützen versuchen (Zahn-Waxler, Radke-Yarrow, Wagner & Chapman, 1992). Die Ergebnisse sind dabei unabhängig davon, ob das Kind das Leiden einer anderen Person beobachtet oder verursacht hat und ob diese Person die eigene Mutter oder eine fremde Person ist. Jüngere Arbeiten (z. B. Warneken & Tomasello, 2007) gehen sogar einen Schritt weiter und unterstützen die Annahme, dass vor allem Hilfeverhalten, aber auch Kooperation bereits deutlich früher als mit 24 Monaten festzustellen sind. Eine markante Entwicklung scheint sich im 2. Lebensjahr zu vollziehen, wobei offenbar ein Hilfeverhalten einem kooperativen Verhalten ontogenetisch vorausgeht. Dies lässt sich dadurch erklären, dass Hilfeverhalten lediglich bedeutet, die Intention einer anderen Person zu erkennen, während kooperatives Verhalten die Repräsentation eines gemeinsamen Ziels (»we-intentions«) voraussetzt. Insgesamt nehmen die Häufigkeit und Vielfältigkeit prosozialen Verhaltens über die Kindheit zu.

Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass das elterliche Verhalten bei der Entwicklung des prosozialen Verhaltens eine entscheidende Rolle spielt (Volland, Ulich & Kienbaum, 1999). Begünstigt wird es nicht allein durch elterliche Wärme, sondern insbesondere durch das Vorliegen eines induktiven Erziehungsstils . Eltern mit einem induktiven Erziehungsstil sind dadurch charakterisiert, dass sie versuchen, dem Kind das eigene Fehlverhalten einsichtig zu machen, indem sie ihm die Folgen seines Verhaltens für andere erklären, antisoziales Verhalten unterbinden und zu prosozialem Verhalten auffordern. Im Gegensatz zu den lerntheoretischen Annahmen führt der Einsatz von Bestrafung für das Unterlassen bzw. die Belohnung des Zeigens prosozialen Verhaltens alleingenommen allenfalls kurzfristig zu einem positiven Effekt.

4 Motivation moralischen Handelns

Die vorgestellten Ansätze beschäftigen sich mit unterschiedlichen Aspekten der moralischen Entwicklung, legen dabei ganz verschiedene Schwerpunkte auf Entwicklungsfaktoren und Einflussgrößen. Es stellt sich abschließend die Frage: Was motiviert zu moralischem Handeln?

Die kognitivistische Forschungstradition, zu der Lawrence Kohlberg, Jean Piaget und Elliot Turiel zu zählen sind, betont, dass die Motivation moralisch zu handeln, unmittelbar von moralischen Kognitionen, vom moralischen Urteil abhängt.

Beispiel

Martin mag beispielsweise dem Schutz menschlichen Lebens den Vorrang vor allen anderen Prinzipien geben. Die momentanen Lebensumstände motivieren ihn jedoch dazu, seiner Freundin einen Schwangerschaftsabbruch nahezulegen. Auf der anderen Seite verbringt Christiane einen Großteil ihrer freien Zeit mit der Pflege ihrer kranken Mutter und sie ist sich auch der moralischen Verpflichtung zwischen Familienmitgliedern bewusst. Aber eigentlich benötigt sie vor allem das Geld, das sie für diese Arbeit bekommt (Beispiele in Anlehnung an Billmann-Mahecha & Horster, 2007). In beiden Fällen stellt das moralische Wissen der Personen offenbar keine Motivation des Handelns dar.

Dementsprechend heben Vertreter der affektiven Forschungstradition, wie beispielsweise Martin Hoffman, explizit die Rolle moralischer Emotionen hervor und gestehen der kognitiven Entwicklung eine notwendige, aber keinesfalls eine hinreichende Funktion bei der Auslösung moralischen Verhaltens zu. Aber selbst wenn man beide Ansätze vereinigt, gibt es theoretische und empirische Hinweise darauf, dass kein bedeutsamer Zusammenhang zu einer Motivation moralischen Handelns besteht (Hardy & Carlo, 2005). Ganz offensichtlich bedarf es mehr als ein Wissen um das, was richtig und falsch ist, und mehr als ein empathisches Erleben, um ein moralisches Handeln zu motivieren.

Ein mögliches Modell hat Blasi (1983) entworfen: Er betont, dass erst dann, wenn Moral ein wichtiger und zentraler Bestandteil des Selbstkonzeptes ist, und damit eine moralische Identität existiert, ein substanzieller Zusammenhang zwischen dem Denken und Erleben auf der einen und dem Verhalten auf der anderen Seite besteht. Um es kurz zu sagen, muss es dem Individuum etwas bedeuten, moralisch zu handeln. Empirische Studien konnten belegen, dass das Selbstkonzept in der Tat eine bedeutsame Rolle spielt (Hardy & Carlo, 2005). Blasi bestreitet dabei nicht, dass es andere konkurrierende motivierende Komponenten gibt, denen – insbesondere vor der Adoleszenz , in der sich die Identitätsbildung als die zentrale Entwicklungsaufgabe darstellt (▶ Kap. 13) – eine wichtige Rolle zukommt. Aber diese sind aus seiner Sicht weniger konsistente Prädiktoren des moralischen Handelns oder der moralischen Motivation.

Die Arbeiten von Nunner-Winkler (1999, 2007) hingegen dokumentieren eindrücklich, dass sich nicht erst ab der Adoleszenz entscheidende Entwicklungen und Relationen aufzeigen lassen, sondern bereits weitaus früher, nämlich beim Übergang vom Vorschulalter zum Schulalter. Die Ergebnisse ihrer Studien legen die Hypothese eines Zwei-Phasen-Modells nahe: Kinder erwerben früh die Überzeugung der Richtigkeit moralischer Regeln, aber erst in einem zweiten Schritt, d. h. etwa ab dem 6.–8. Lebensjahr, verinnerlichen Kinder diese Regeln, um dann die Motivation zu entwickeln, nach diese n Regel n zu handeln. Nunner-Winkler belegte dies, indem sie Kinder mit Geschichten konfrontierte, in denen eine moralische Regel verletzt wird. Anschließend befragte sie die Kinder nach den Emotionen der beteiligten Personen. Jüngere Kinder schrieben dem Dieb von gebrannten Mandeln positive Emotionen zu (weswegen in diesem Zusammenhang vom »happy-wrong-doer« gesprochen wird), während 90% der älteren Kinder negative Emotionen anführten. Aus dieser Perspektive verweist die Intensität und die Valenz der erlebten Emotion auf die subjektive Bedeutsamkeit des beurteilten Sachverhaltes und ist damit Ausdruck der Motivation des Kindes. Die Annahme, dass Emotionsattributionen eine moralische Motivation erfassen, wurde jedoch von verschiedenen Seiten kritisiert.

Für die Praxis

Der Familienrat als besonderer sozialer Erfahrungsraum

Folgt man den Annahmen Kohlbergs, dann können Eltern aufgrund der kognitiven Reife erst in der späten Kindheit von ihren Kindern erwarten, dass sie sich nicht mehr vorrangig an ihrem eigenen Wohlergehen orientieren. Zahlreiche Befunde widersprechen inzwischen aber dieser Annahme. Kinder dieses Alters sagen zwar, dass die Eltern schimpfen, wenn sie ein anderes Kind schlagen würden. Dennoch halten sie daran fest, dass es falsch ist zu schlagen, selbst wenn eine Autorität dies erlauben würde und können das Leid des anderen Kindes nachempfinden. Eltern können auf die Entwicklung dieser Kompetenzen Einfluss nehmen, denn die Familie ist in der Kindheit der soziale Erfahrungsraum schlechthin. Und dies nicht nur, indem Eltern den Kindern ein entsprechendes Verhalten vorleben, klare Regeln aufstellen und auf deren Einhaltung achten. Ganz besonders gute Gelegenheiten, um Kindern einen Einblick in die Gefühle und Gedanken anderer Personen zu geben, bietet der »Familienrat«. Indem alle Familienmitglieder zu Wort kommen, um vergangene oder aktuelle Konfliktsituationen zu besprechen, jeder Einzelne mit den Perspektiven und Verhaltensmotiven der anderen Beteiligten konfrontiert wird, Lösungsvorschläge eingebracht und gemeinsam ausgewählt werden, können Kinder bei der Einübung wichtiger sozialer Kompetenzen gefördert werden.

Resümiert man abschließend alle sehr unterschiedlichen Positionen mit ihren theoretischen Annahmen und empirischen Untermauerungen, die in diesem Kapitel zusammengetragen worden sind, so wird eines sicherlich deutlich: Egal, ob die kognitive Position von sozialer Perspektivübernahme spricht, die affektive Position dem empathischen Erleben einen bedeutsamen Stellenwert einräumt oder aber die lerntheoretische Position die Rolle eines induktiven Erziehungsstils betont – allen Ansätzen gemein ist die Tatsache, dass eine positive Moralentwicklung in Zusammenhang steht mit der Fähigkeit, einen Einblick in das Erleben anderer Personen in sozialen Situationen zu bekommen.

Kontrollfragen

  1. 1.

    Durch welche Charakteristika zeichnet sich das Stadium der heteronomen Moral nach der Konzeption von Piaget aus?

  2. 2.

    Wodurch unterscheiden sich das konventionelle und das postkonventionelle Entwicklungsstadium nach Kohlberg?

  3. 3.

    Wodurch unterscheiden sich moralische und sozial-konventionelle Urteile voneinander?

  4. 4.

    Wie lassen sich eine Gerechtigkeits- und eine Fürsorgemoral voneinander abgrenzen?

  5. 5.

    Wie sollte eine Bestrafung gestaltet sein, wenn sie möglichst wirksam sein soll?